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Vollständige E-Book-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe

 

1. Auflage 2013

© 2013 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Sandra Frick

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-295-2

 

 

Root Leeb

 

Die dicke Dame

und andere kurze Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

für

Vater und Sohn

 

Inhalt

Statt eines Vorworts

Trotz, Eigensinn und kleine Spiele

Die Fastenkur

Die Sitzordnung

Die Verabredung

Vollrausch, der erste

Aufräumen

Das Missverständnis

Die Spielverderberin

Die zehn Feinde

Die glückliche Ehe

Der Kopfkissenbriefkasten

Der Spiegel

Lange Zähne

Faulheit

Der Lauf der Dinge

Nachrichten

Die Zuhörerin

Die letzte Spur

Die Hypochonderin

Gutes Leben

Geiz

Die Erscheinung

Die Katastrophe

Der Geschmack

Der kleine Mann

Das Navigationssystem

Der Heiratsschwindler

Der Feigling

Schüchtern

Die tote Frau

Die Puppe

Die Frau, die sich in ihrem Alter verirrte

Diagnose

So stark

Der falsche Glaube

Das Gepäck

Abenteuerlich

Seitenblick

Der abhanden gekommene Sonntag

Schwimmen

So stark

Auf der Straße

Kräftespiel

Die dicke Dame

Schnelles Geld

Fotogalerie

Glück

Sterben

Früher Tod

Kunstmord

Umgezogen

Höhere Mächte

Die Seifenblase

Vergeblich

Die Armbanduhr

Der Mann im Boot

Erster Preis

A Roma Amore

Der Brief

Schlafstörung

Das Erbe

Schicksal

Der Baum

Weite Reise

Wenn nicht

Angst

Lebensfreude

Sehnsucht

Tiere, mit und ohne Menschen

Der Affe

Die Katze

Der Regenwurm

Mein Hund geht spazieren

Der Leguan

Mäuseunwesen

Der Rabe

Mücke und Mensch

Epilog

Die Autorin

 

Statt eines Vorworts

Eine Anthologie mit Kurz-, ja Kürzestgeschichten ist vergleichbar mit einer großen Schachtel, gefüllt mit erlesenen Pralinen. Man probiert erst einmal eine. Sie schmeckt. Noch bevor der Geschmack sich auf der Zunge verflüchtigt hat, haben wir schon die nächste nachgeschoben. Diese schmeckt dann anders als die erste, vielleicht unerwartet anders (vor allem, wenn die unsere Erwartungen schon übertroffen hat), was uns den Grund liefert, neugierig eine dritte zu nehmen, dann eine vierte und noch eine und noch eine ...

Das Ende ist bekannt: Wir haben uns überessen, uns wird schlecht. Nie wieder, schwören wir uns.

Und das wäre doch einfach schade.

Deshalb gibt es an dieser Stelle, wie bei diversen Genussmitteln üblich geworden, einen kleinen, fettgedruckten Hinweis: Kürzestgeschichten sind eine Herausforderung, sie stellen höchste Ansprüche an Ihre Disziplin und Selbstbeherrschung.

 

Trotz, Eigensinn und kleine Spiele

 

Die Fastenkur

Die Familie hatte Kummer. Alle waren wohlgeraten, schlank und einigermaßen gut aussehend, bis auf den jüngsten Sohn. Ein sonniger Junge war das. Was sein Gemüt und seinen Umfang gleichermaßen betraf. Strahlend und kugelrund.

Der Arzt machte bei der für alle Zehnjährigen anfallenden Kontrolluntersuchung ein bedenkliches Gesicht. So könne es nicht weitergehen, die gesundheitlichen Folgen eines derartigen Übergewichts seien nicht zu unterschätzen und eine weitere Zunahme nicht zu verantworten. Der Junge lächelte ihn fröhlich an, wie um ihn umzustimmen. Als er sah, dass das nichts half, zog er sich umständlich und ein bisschen beschämt die Hosen über den runden Bauch, das Hemd darüber und ging breitbeinig, ja ein wenig watschelnd mit seiner Familie davon.

Der Arzt hatte zwei Alternativen in Aussicht gestellt. Entweder sollte der Junge in eine mehrwöchige Kur geschickt werden oder die Eltern würden gewährleisten, dass er zu Hause eine strenge Diät durchhalte.

Der Gedanke, den Jungen alleine in Kur zu schicken, war für alle so unerträglich, dass die Eltern beschlossen, die Diät zu Hause durchzuführen. Die Geschwister erklärten sich auch gleich bereit mitzumachen, um dem Kleinen die schwere Zeit zu erleichtern.

Der Diätplan war genau durchdacht und erschien allen härter als erwartet. Schon nach der ersten Woche galoppierten während der langweiligen Schulstunden Schnitzel und Pommes in wilden Tänzen durch die Fantasie des ältesten Sohnes, während die Schwester, ein Mädchen von vierzehn Jahren, Schokoladentorten und Süßigkeiten aller Art in ihren Träumen vorbei­defilieren ließ.

Aber man hatte sich gegenseitig hoch und heilig versprochen, keine »Ausreißer« zu unternehmen. Gemeinsam mit dem Jüngsten wollten sie es schaffen. Der schien als Einziger keine Probleme zu haben. Zumindest jammerte er nie. Fröhlich und heiter lebte er durch seine Tage und machte zufrieden jeden Abend ein kleines Kreuz auf das entsprechende Kalenderblatt. Die Eltern, stets mit gutem Beispiel voran, aßen sogar noch etwas weniger, als der Diätplan erlaubte, und hatten nach drei Wochen deutlich sichtbar abgenommen. Besorgt beobachteten sie ihren Jüngsten, der sich nicht zu verändern schien.

Niemand ahnte, dass der kleine sonnige Junge eine Freundin hatte. Sie war ebenso rund wie er und mindestens ebenso gutmütig. Tag für Tag teilte sie in der Schule ihr Pausenbrot und ihre Süßigkeiten mit ihm.

Nach den vorgeschriebenen sechs Wochen begleitete die ganze Familie den Jüngsten zur nächsten Kontrolluntersuchung. Der Arzt sah eine ausgemergelte Familie auf sich zukommen, angeführt von einem kugelrunden Zehnjährigen, der ihm fröhlich zuwinkte.

 

 

Die Sitzordnung

Alle sind gekommen, um die goldene Hochzeit der Eltern zu feiern, die ganze Sippe hat sich versammelt. Im Speisesaal des Nobelhotels ist festlich gedeckt, die Platzkarten liegen auf.

Ein Mann mittleren Alters betritt den Saal, schaut prüfend über die Tische, findet nach kurzer Suche sein Namenskärtchen und – voller Schreck – das seiner Tischnachbarin.

Er ist alleine hier, hat keine eigene Familie, er ist nur ein Sohn des gefeierten Paares und Onkel der vielen Kinder seiner Geschwister.

»Neben der mit Sicherheit nicht!«, murmelt er durch die Zähne. Er erinnert sich an kindliche Nacktspiele, die sie rotbackig und wichtigtuerisch an die Erwachsenenwelt verraten hatte, und an die Bloßstellung Jahre später, bei einem anderen Familienfest, als sie herumposaunte, dass er in die schüchterne Cousine Lea verliebt sei, die zu allem Unglück auch noch anwesend war. Das Schlimmste war, dass das stimmte und er es nicht dementieren konnte, ohne Lea zu verletzen. Diese hatte damals fluchtartig den Saal verlassen und war ihm dann bis zu ihrer Hochzeit mit einem Amerikaner aus dem Weg gegangen.

Er tauscht also blitzschnell die Kärtchen und setzt eine alte, schon etwas schwerhörige Tante, die Schwester seiner Mutter, neben sich.

Dann geht er wieder nach draußen. Kurz nach ihm betritt die ursprünglich vorgesehene Tischpartnerin den Saal. Sie ist mittlerweile eine üppige Frau mit blondierten Haaren, bereits zweimal geschieden, und auch sie schaut suchend über die Tischreihen, bis sie ihr Namenskärtchen entdeckt, das jetzt zwischen einem ihr verhassten Schwager und dem senilen Mann der schwerhörigen Tante steht.

»Hier mit Sicherheit nicht!«, murmelt sie und schlendert prüfend mit ihrem Kärtchen in der Hand die Tische entlang. Da bleibt ihr Blick an dem Namen der schwerhörigen Tante hängen. Na, die gehört doch auf jeden Fall zu ihrem Mann, beschließt sie und tauscht die Kärtchen entsprechend. Wer jetzt neben ihr sitzen wird, liest sie mit Genugtuung.

Sie geht wieder hinaus in die Halle, um mit den anderen den Aperitif einzunehmen.

 

 

Die Verabredung

Sie war schon von so vielen Männern enttäuscht worden. Den letzten hatte sie sogar geheiratet – und es hatte nichts genützt.

Nach drei Jahren und unzähligen Terminen, die jedes Mal so verliefen, dass sie pünktlich zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort eintraf, dort eine bis mehrere Stunden wartete – und er nicht kam, zog sie Bilanz. Eine verschwindend geringe Zahl von Verabredungen hatte geklappt, meist zu Beginn einer Beziehung, zweihundertachtundvierzig geplante Treffen waren geplatzt.

Die Gründe, die sie später zu hören bekam, waren so unterschiedlich wie ihr jeweiliges Parfum und ihre Frisuren. Das eine Mal war ein wichtiger Termin dazwischengekommen, das andere Mal war es durch starken Verkehr oder gar einen Stau nicht möglich gewesen, zu ihr zu gelangen, oder die Mutter des Mannes musste nach einem Infarkt schnell in die Klinik gefahren werden. Und in jedem dieser Fälle befand sich der Erwartete in einem Funkloch, oder der Akku seines Handys war leer, oder er hatte es verlegt und es war unauffindbar.

Das Schlimmste war jedoch, wenn der Ersehnte die gemeinsame Verabredung einfach vergessen hatte. Als das der Mann, den sie geheiratet hatte, als Grund für ein versäumtes Essen mit ihr angab, litt sie bis zur Selbstauflösung. Doch bevor es so weit kam, beschloss sie, sich scheiden zu lassen.

Sie lebte von da an alleine. Sie wurde älter, hatte einen Autounfall, in dessen Folge sie gehbehindert war, und es dauerte lange, bis sie sich durchringen konnte, eine Anzeige aufzugeben. Ja, sie suchte einen Mann.

Zuverlässig und ehrlich standen gleich zu Beginn der von ihr formulierten Eigenschaften für den gewünschten Partner. Und dasselbe gab sie auch als Beschreibung ihrer selbst an. Ihr gelähmtes Bein erwähnte sie nicht.

Und dann meldete er sich. Ja, genau das sei er, zuverlässig und ehrlich. Mit klopfendem Herzen schlug sie ein Treffen in einem schönen, nahe gelegenen Café vor, dem Palmengarten. Im Innenhof, in der Nähe des Springbrunnens, würde sie an einem der kleinen Tische auf ihn warten. Erkennungszeichen sei eine Sanduhr auf ihrem Tisch.

An diesem Tag war sie überpünktlich. Sie wollte nicht, dass er als Erstes ihre Gehbehinderung und vor allem nicht die Krücke bemerkte, ohne die sie nicht laufen konnte. Lange vor der verabredeten Zeit erschien sie im Café und suchte sorgfältig einen freien Tisch, der etwas Intimität versprach. Sie fand ihn unter den tief hängenden Wedeln einer noch jungen Palme, setzte sich, stellte gut sichtbar die Sanduhr vor sich und wartete.

Der Sand war bereits zum zweiten Mal durchgerieselt, also eine halbe Stunde vergangen, ohne dass sich jemand ihrem Tisch genähert hatte. Nur die Bedienung hatte gleich zu Beginn kurz gefragt Sie warten auf jemanden?, und sie hatte das bejaht. Nun begann ein sehr vertrautes Gefühl sie zu beschleichen. Als es die Kreise enger zog, die Frau die Sanduhr zum dritten Mal umdrehte und dieses Gefühl zu würgen begann, stand sie auf und verließ das Café.

Sie hörte nie wieder von dem Herrn, der auf ihre Annonce geantwortet hatte. Und so erfuhr sie auch nicht, dass er, nahezu blind, ebenfalls früher gekommen war. Als Erkennungszeichen hatte auch er eine Sanduhr mitgebracht, ja, Humor hatte er, und mit dieser Sanduhr vor sich hatte er an einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Springbrunnens gewartet, dem Lachen der mit dem Wasser spielenden Kinder zugehört und sich schließlich einen Kaffee bestellt. Erst lange nachdem sie schon – von ihm unbemerkt – gegangen war, hatte er seinen Fahrer angerufen und war enttäuscht wieder nach Hause zurückgekehrt.

 

 

Vollrausch, der erste

Weiblich, zwölf Jahre, Alkoholintoxikation, somnolent, Kreislauf und respiratorisch stabil. Kumulativbefund wird an Hausarzt weitergeleitet.

 

»Rausch« klingt altmodisch. »Vollrausch« auch. Tatsache ist, dass es schon eine Weile zurückliegt. Und dass ich mich bis heute an jedes Detail erinnere.

Heute würden Worte wie Komasaufen, Alkopops, Verwahrlosung und Exzess auftauchen. Damals sprach niemand von so etwas.

Ich war ja noch Kind. Und es geschah sehr geschützt. Genau unter den Augen meiner Eltern, sogar meine Oma war dabei. Und die Schwester meiner Oma. Trotzdem wäre ich beinahe hopsgegangen.

Also keine Peergroup, die mich angestachelt hat, keine Schuldigen, so etwas braucht es gar nicht.

Nur Langeweile.

Denn weil die Zeit wirklich altmodisch war, musste ich mich gut benehmen. Mit ausschließlich Erwachsenen am Tisch und Gesprächen, die mir so was von am Arsch vorbeigingen. Aber ich kam aus einem Heim, hatte für einen Abend Ausgang mit Übernachtung. Um den Geburtstag meiner Oma mitzufeiern. Warum ich in diesem Heim gelandet war, ist nie erklärt worden. Zumindest nicht so, dass ich es hätte akzeptieren können. So lebte ich also als Nummer einhundertfünfundachtzig in dieser fremden Stadt, schon fast zwei Jahre, und nun kamen die Herrschaften und holten mich für einen Abend da heraus. Zum Essen in einem vornehmen Hotel, wo wir anschließend alle übernachten sollten.

Es muss wohl außer dem Geburtstag noch etwas zu feiern gegeben haben. Mein Vater mochte seine Schwiegermutter nicht besonders, aber an diesem Abend übertraf er sich selbst an Großzügigkeit und Gastgeberlaune.