Cover

Über dieses Buch

Auf nach Prag! Finns Schwester Joanna hat Karten für ihre Lieblingsband in der Goldenen Stadt gewonnen. Doch der Kurzurlaub wird zum Albtraum: Erst verschwinden die Karten. Dann bricht jemand in das Hotelzimmer ein und Finn und Joanna werden erpresst. Steckt etwa der gut aussehende Puppenspieler von der Karlsbrücke dahinter? Aber Finn und Joanna verfolgen bald eine andere Spur. Dabei geraten sie in die gefährlichen Machenschaften einer Drogenbande.

Der Autor

Andreas Schlüter wurde 1958 in Hamburg geboren. Bevor er mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er mehrere Jahre Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. Mit dem ersten Band der Erfolgsserie »Level 4« gelang ihm 1994 der Durchbruch als Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er auch Drehbücher, u. a. für den Tatort und krimi.de. Andreas Schlüter arbeitet in Hamburg und auf Mallorca. Mehr auf www.schlueter-buecher.de

Der Illustrator

Daniel Napp wurde 1974 in Nastätten, Rheinland-Pfalz, geboren. Nach Abitur und Zivildienst im Krankenhaus absolvierte er von 1996 bis 2002 ein Designstudium in Münster mit dem Schwerpunkt Illustration. Seit 2006 arbeitet er in der Ateliergemeinschaft Hafenstraße in Münster. Er wurde bereits viermal für die Illustratorenschau zur Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna ausgewählt. Mehr auf www.daniel-napp.de

Andreas Schlüter

City Crime

Puppentanz in Prag

Mit Bildern von Daniel Napp

Tulipan

Inhalt

Stadtplan

GEWONNEN!
Auf nach Prag!
Neue Bekanntschaft
Unter Beobachtung
Bootsfahrt
Panik!
Noch eine Überraschung
Erpressung
Letzte Chance 18 Uhr!
Keine Wahl
Das alte Theater
Spurensuche
Verhaftet!
Prager Nacht
Gefährliche Verfolgung
In tiefer Dunkelheit
Flucht zwecklos!
Ein riskanter Plan
Die Zeit läuft
Polizei!
Ende ungewiss

Kleiner Tschechisch-Wortschatz

Impressum

Stadtplan von Prag
GEWONNEN!

Höchste Konzentration! Finns Zunge flutschte zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen hervor, wanderte von einem Mundwinkel zum anderen und wieder zurück. Seine Augen fixierten den großen Segelmast des Piratenschiff-Modells, nur wenige Zentimeter vor seiner Nasenspitze. In seiner zittrigen Hand hielt er den Ausguckkorb, der an den Mast geklebt werden musste.

Schon dreimal hatte Finn es probiert. Dreimal war der Korb wieder abgefallen. Zum vierten Mal also fummelte er den kleinen Plastikkorb durch die Schnüre des Dreimasters und hoffte, dass er jetzt endlich halten würde. Er hatte dieses Mal einen Sekundenkleber genommen, der sicher wirksamer war und vor allem schneller trocknen würde als der Kleber, der dem Modellbaukasten beigelegen hatte. Noch einen Millimeter. Schon berührte der Korb den Mast. Jetzt musste Finn Korb und Mast fest zusammendrücken, ohne abzurutschen, und dann …

ein gellender Schrei!

Finn zuckte zusammen. Dadurch ruckelte er versehentlich an dem Korb, der aus seiner Position rutschte, herabfiel und durch die Luke im Deck im Laderaum des Schiffes verschwand. »OH MANN!«, brüllte Finn. »Verdammt noch mal!«

Seine Schwester Joanna, mit ihren dreizehn Jahren zwei Jahre älter als er, stürzte in sein Zimmer und quiekte erneut, als hätte man einem Hund auf den Schwanz getreten.

»Musst du so kreischen, verdammt?«, pflaumte Finn sie an.

»Ich hab sie!«, schrie sie voller Freude. »Ich hab gewonnen!«

»Weißt du, wie lange ich schon versuche, diesen blöden Korb an den Mast zu kleben?«, fragte Finn schlecht gelaunt.

Doch Joanna hörte gar nicht hin. »GE-WON-NEEEEN!«

Finn seufzte. Er wusste, sie würde jetzt keine Ruhe mehr geben, bis er nachgefragt hatte. Also tat er ihr den Gefallen. »Und? Was hast du gewonnen?«

Joanna hielt ihm einen Brief vor die Nase. »Zwei Eintrittskarten für ein Konzert von … tataaaaaa …!« Sie breitete die Arme aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und legte den Kopf in den Nacken, als würde sie selbst auf der Bühne stehen und den Applaus von Tausenden Fans einheimsen. »… vooooon COLDPLAY!«

»Aha!«, kommentierte Finn knapp. Er wusste, dass es Joannas derzeitige Lieblingsband war. Er selbst fand sie auch nicht schlecht, aber nun auch nicht sooo dermaßen gut. Er gratulierte ihr, hatte damit seine Pflicht erfüllt und wollte sich gerade wieder auf die Suche nach dem Korb im Bauch des Schiffes machen, als Joanna dicht an ihn heranrückte.

»Wie? Das war alles? ›Aha‹ und sonst nichts? Hast du mir nicht zugehört? Zwei Karten!«, wiederholte sie. »Für Coldplay. Hallo? Das ist DIE Sensation. Das Konzert ist seit Monaten ausverkauft. Hörst du, seit Mo-na-ten!«

»Schön!«, sagte Finn ungerührt. »Viel Spaß. Mit wem gehst du?«

Joanna verstand langsam, dass ihr Bruder nichts begriff. »Du weißt nicht, wo das Konzert stattfindet, oder?«, fragte sie.

Finn wusste es nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er wollte einfach nur den Ausguckkorb wiederfinden und endlich an den Mast kleben. Und zwar am liebsten sofort, ganz allein und in Ruhe!

Doch Joanna ließ sich nicht abwimmeln. Sie wedelte mit dem Gutschein für die Eintrittskarten vor Finns Gesicht herum und erklärte: »Das Konzert findet in Prag statt! Verstehst du? Da kann ich nicht allein mit einer Freundin hinreisen. Erstens sowieso nicht und zweitens habe ich an dem Preisausschreiben mit Mamas Namen teilgenommen. Denn Minderjährige durften nicht mitspielen. Und damit ist klar: Wir müssen alle fahren, die ganze Familie. Mama muss den Gutschein gegen Eintrittskarten einlösen. Und dann gehst DU mit mir zu Coldplay, oder meinst du, ich will in Begleitung von Mama in ein Rockkonzert? Hallo?«

Jetzt unterbrach Finn doch seine Suche und starrte seine Schwester mit offenem Mund an. Er wusste gar nicht, was er zuerst fragen sollte. Vielleicht, ob Joanna sich Gedanken darüber gemacht hatte, ob er überhaupt Lust hatte, in das Konzert zu gehen, und dann noch in Prag? Aber eine andere Frage brannte ihm auf der Zunge.

»Lass mich raten. Mama weiß von alldem noch nichts, oder?«

Joanna setzte zu einem hysterisch klingenden Lachen an, besann sich dann aber doch, ernst zu bleiben, und antwortete nur: »Natürlich nicht, was denkst du denn?«

Mit diesen Worten hüpfte sie fröhlich aus dem Zimmer, als wäre alles in bester Ordnung, und vor allem, als wäre längst geklärt, dass sie bald nach Prag reisen würden.

Bald? Finn fiel eine zweite Frage ein: »Wann denn überhaupt?«

Joanna steckte wieder kurz den Kopf in sein Zimmer. »Samstag in einer Woche. Cool, oder?«

Und schon war ihr Kopf wieder verschwunden.

»Cool!«, wiederholte Finn leise für sich und schüttelte fassungslos den Kopf.

»COOL? Bist du nicht mehr bei Sinnen?« Das waren die Worte ihrer Mutter, als Joanna am Abend von der großen Neuigkeit berichtete.

Finn saß in seinem Zimmer am Computer. Er postete gerade die ersten Bilder seines fertigen Piratenschiffs im Internet, hörte dabei das Gespräch zwischen seiner Schwester und seiner Mutter durch die Tür hindurch mit und schmunzelte. Er wusste, Auseinandersetzungen zwischen den beiden, die so begannen, endeten in der Regel mit einem klaren Sieg für Joanna.

Entsprechend tippte Finn seine Prognose in den Chatroom ein, in dem er sich gerade mit einigen Jungs aus seiner Schulklasse unterhielt, denen er stolz sein fertiges Piratenschiff präsentiert hatte.

Ich glaube, wir fahren nächste Woche nach Prag.

Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten.

Cool!

So schrieben die meisten, worüber Finn erneut lächeln musste. Prag fanden offenbar alle »cool«.

Finn hatte überhaupt nichts über Prag gewusst und deshalb am Nachmittag schnell im Internet nachgeschaut. Also, Prag war die Hauptstadt von Tschechien, hatte 1,2 Millionen Einwohner und war damit in etwa so groß wie München. Das Kfz-Kennzeichen von Prag lautete erstaunlicherweise »A«. Die Währung hieß Tschechische Kronen, wobei 25 Kronen ungefähr einem Euro entsprachen. Gesprochen wurden die Sprachen Tschechisch und Slowakisch. Weil aber Prag vom Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutsche Bevölkerungsmehrheit hatte und später zum Habsburger Reich Österreich-Ungarn gehörte, sprachen bis heute viele Bewohner Deutsch oder konnten die deutsche Sprache zumindest gut verstehen.

Das Interessanteste aber war, dass man Prag als die »Goldene Stadt« bezeichnete. Allerdings gab es hier nicht etwa verborgene Schätze oder Paläste und Häuser mit vergoldeten Dächern. Der Name ging auf Kaiser Karl IV. zurück. Der römisch-deutsche Kaiser und König von Böhmen und Burgund, einer der mächtigsten Herrscher des Mittelalters, war in Prag geboren worden und hatte dort residiert. Seinen Untertanen hatte er kulturellen und wirtschaftlichen Reichtum versprochen, also Prag zur »Goldenen Stadt« zu machen.

Schade!‹, hatte Finn gedacht und die Seite im Internet enttäuscht wieder weggeklickt. Er würde in Prag nicht auf Goldadern stoßen.

Tom aus seiner Klasse schrieb im Chat:

Prag ist so ähnlich wie Augsburg. Wegen der Marionetten.

Finn stutzte.

Marionetten?

Die Antwort kam prompt:

Na, Augsburger Puppenkiste. Und das Prager Marionettentheater Spejbl und Hurvínek. Weltberühmt!

Finn kannte sie nicht. Und nach einigem Hin und Her im Chat musste auch Tom zugeben, dass er die Puppentheater eigentlich nur durch seine Eltern kannte.

Mein Vater hat noch etliche Videokassetten von beiden Puppentheatern zu Hause.

Worauf sich Yannik meldete:

Was ist denn bitte schön eine »Videokassette«?

Finn verabschiedete sich aus dem Chat, denn die Diskussion zwischen Joanna und seiner Mutter ging dem Höhepunkt entgegen. Die Zeichen für Joanna standen nach wie vor günstig. Mama konnte als selbstständige Handelsvertreterin ihre Termine umlegen und Papa sich als Kunstmaler seine Zeit ohnehin frei einteilen. Nach ihrem Abenteuer in Florenz, wo Papa und Joanna einige Monate allein gelebt hatten, waren ihre Eltern wieder zusammengekommen. Papa hatte in Florenz mithilfe von Finn und Joanna einen sensationellen Kunstschatz entdeckt und dafür vom italienischen Kultusministerium eine satte Belohnung erhalten. So war ausnahmsweise Geld kein Streitthema zwischen den Eltern. Die Lage war also günstig. Zurzeit herrschte ein harmonisches Familienleben. Beste Voraussetzungen für eine kleine Städtereise nach Prag.

Genau das alles hatte Joanna ihrer Mutter soeben in einem beachtlichen Redeschwall erläutert, sodass die erst einmal sprachlos war und sich einen Tee kochte. Joanna hatte so gut wie gewonnen. Wenn Mama sich einen Tee kochte, war sie mit ihren Argumenten am Ende.

Finn lauschte an der Tür und wartete auf den entscheidenden Satz, der prompt kam: »Na, mal sehen, was Papa dazu sagt.«

Damit war für Finn die Sache klar. Er zog seinen Rucksack aus dem Schrank und überlegte, was er alles mitnehmen sollte. Es gab keinen Zweifel mehr: Nächstes Wochenende fuhren sie nach Prag!

Auf nach Prag

Ein herrlicher Tag! Da konnte man wirklich nicht meckern. Der Himmel war eine einzige, strahlend hellblaue Fläche – wie ein frisch gestrichenes Schwimmbad. Finn setzte sich seine neue Sonnenbrille auf, von der ihm alle in der Klasse bestätigt hatten, dass sie »cool« wäre, blinzelte in die Sonne und schaute über das Panorama der Stadt.

Aber das Tollste war: Zur Feier des Tages lud Papa die ganze Familie zum Essen ein. Und zwar nicht einfach in einen Imbiss oder zu McDonald’s – was Finn und Joanna allerdings auch recht gewesen wäre –, sondern in ein typisches Prager Restaurant, wie Papa behauptete. Finn war zunächst skeptisch. Er kannte das: Wenn irgendwo auf Ferienreisen etwas »landestypisch« war, dann waren das meistens Dinge, die er nicht mochte. In Frankreich hatte es mal Schnecken gegeben, auf Mallorca seltsame Innereien und in Griechenland lauwarmes Essen.

Aber als dann der Teller serviert wurde, war Finn hin und weg: dampfender Apfelrotkohl mit köstlichsten Semmelknödeln und einer gebratenen Ente, wie Finn sie noch nie gegessen hatte. »Die gute böhmische Küche!«, wie Papa es nannte, ließ Finn sich gefallen. Genau so musste Essen seiner Meinung nach sein: kräftig, voller Geschmack und – große Portionen!

Nur Mama verzog das Gesicht. »Da hätte ich mir meine Frühjahrsdiät ja sparen können!«, nörgelte sie und griff zum dritten Mal zur Speisekarte, um zu schauen, ob sie nicht doch noch einen leckeren Salat finden konnte.

Papa genoss ein großes Bier, sattdunkelgolden wie flüssiger Honig, mit hellem Schaum drauf, trank mit einem Schluck das halbe Glas leer, lehnte sich genüsslich zurück und seufzte: »So muss ein frisch gezapftes Bier schmecken. Die Tschechen machen das beste Bier der Welt!«

Joanna hatte sich Palatschinken bestellt, was Finn wunderte, denn für gewöhnlich aß sie nicht besonders gern Fleisch. Doch dann sah er, dass dieser »Schinken« nichts mit Fleisch zu tun hatte: Joanna bekam herrlich frisch zubereitete Eierpfannkuchen, bestrichen mit Aprikosenkonfitüre. Papa ließ sich zu seinem Bier einen warmen »Prager Schinken« schmecken, der auch wirklich ein Schinken war. Dazu eine deftige Portion Sauerkraut. Und Mama suchte in der Karte immer noch vergeblich nach etwas, das weniger als tausend Kalorien zählte, wie sie griesgrämig behauptete.

»Gar nichts essen hat null Kalorien!«, kicherte Papa.

Aber das fand Mama überhaupt nicht witzig. Und schon hing die Stimmung wieder auf halbmast.

»Ipf pfreu mipf pfon auf die Karlpfsbrücke!«, versuchte Joanna mit vollem Mund für gute Laune zu sorgen.

Aber niemand verstand sie.

Stattdessen rief Finn: »Bei mir regnet’s Pfannkuchen!« Er meinte die Sprenkel, die aus Joannas Mund flogen.

Mamas Mundwinkel rutschten noch weiter nach unten.

Joanna schlang ihren Bissen hinunter und wiederholte diesmal mit leerem Mund: »Ich freue mich schon auf die Karlsbrücke!«

»Ich auch!«, behauptete Finn, obwohl er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Die Seite hatte er im Reiseführer übersprungen.

Mama hatte sich endlich entschlossen, doch noch etwas zu essen, und bestellte sich Nudeln mit Spinat und Spiegelei. Das Gericht kam pünktlich in dem Augenblick, als die anderen drei gerade fertig waren. Joanna und Finn machte das nichts aus. Es war eine gute Gelegenheit, sich noch Nachtisch zu bestellen. Und so gab es für jeden ein großes Eis. Zwar standen eine Reihe anderer superleckerer Sachen auf der Dessertkarte, aber das hätten die beiden nicht mehr in ihre prallvollen Mägen bekommen. Eis hingegen passte immer noch hinein.

Als schließlich auch Mama fertig war, was nicht allzu lange dauerte, weil sie die Hälfte stehen ließ, rieb Finn sich den Bauch. »Mann, ich bin pappsatt!«

»Zeit, ein bisschen zu laufen!«, fand Joanna. »Ich will zur Karlsbrücke!«

Und so machten sich die vier endlich auf den Weg. Sie hatten nur ein paar Minuten zu gehen. Nicht nur, weil die Karlsbrücke so nah gelegen war. Sondern auch, weil es dort keinen Meter mehr voranging. Tausende Touristen hatten die Brücke besetzt und machten ein Weiterkommen schlicht unmöglich.

Glaubte zumindest Finn. Doch Joanna ging wacker voran, und Finn wunderte sich, dass sich tatsächlich immer wieder ganz von selbst schmale Pfade in der Menschenmasse auftaten, ohne dass man jemanden anrempeln oder beiseiteschieben musste. Ein eigenartiges Phänomen, fand er. Beinahe wie ein Fischschwarm, der sich teilte, wenn ein Raubfisch durch ihn hindurchschwamm, ohne dass jemand hätte sagen können, wer den Befehl zur Teilung gegeben hatte. So glitt die vierköpfige Familie durch die Touristenmenge wie ein erhitztes Messer durch Butter. Doch schon nach wenigen Metern blieben sie wieder stehen, weil Joanna etwas entdeckt hatte.

»Seht mal!«

Am Anfang der Brücke stand ein Brautpaar. Genau so eines, wie man es aus Filmen kannte. Die Braut trug ein langes, weißes Hochzeitskleid mit Rüschen und langer Schleppe, dazu weiße Spitzenhandschuhe, mit denen sie einen großen Strauß roter Rosen in Händen hielt. Daneben ihr Bräutigam im Hochzeitsfrack und einem Zylinder auf dem Kopf.

Finn sah sich nach einem Kamerateam um, den Beleuchtern und den Wohnwagen für die Schauspieler, denn er hoffte, hier würde ein Film gedreht. Doch Fehlanzeige. Das Brautpaar war echt. Es stand an der Brüstung der Brücke und ließ sich nicht nur von den Familienmitgliedern, sondern von Hunderten Touristen vor dem Hintergrund der Moldau fotografieren.

»Waaahnsinn, oder?«, rief Joanna hingerissen.

Finn verzog das Gesicht. »Was?«, fragte er.

»Oh Mann, du hast echt keine Ahnung!«, fauchte Joanna ihn an. »Das ist voll romantisch!«

Finns Blick wandte sich von dem Hochzeitspaar ab und blieb einige Meter weiter an einem Typen haften. Er bewegte eine Marionette, die zu den Klängen aus einem Gettoblaster Geige spielte. Er musste grinsen, denn die Puppe trug genau so einen Frack wie der Bräutigam, den Joanna noch immer anhimmelte. Noch lustiger aber war die zweite Marionette. Die trug ein Hochzeitskleid. Die Puppe stellte aber keine Frau dar, sondern ein rosafarbenes Schwein. Miss Piggy im Brautkleid sozusagen. Finn gefiel das.

Erneut ein freudiges Aufquieken. Erst dachte Finn, Miss Piggy hätte das Geräusch verursacht, doch dann begriff er, dass es Joanna gewesen war.

»Da!«, rief sie. Ihre Stimme überschlug sich fast.

Finn folgte ihrem Blick. Um die Ecke rollte eine offene schwarz-goldene Hochzeitskutsche heran, gezogen von zwei festlich geschmückten Schimmeln. Sofort zog Joanna ihr Smartphone aus der Tasche, um sich in die Hundertschar Touristen einzureihen, die ebenfalls fotografierten.

»Oh Mann!«, stöhnte Finn. Er fand nichts langweiliger als Hochzeitspaare, obwohl er zugeben musste, dass die Kutsche nicht schlecht war. Man hätte sie gut nutzen können, um einen Musketier- oder Robin-Hood-Film zu drehen. Trotzdem wandte er sich ab – und stutzte.

»Da ist noch ein Hochzeitspaar!«, stellte er verblüfft fest und tippte seiner Schwester auf den Rücken. Die drehte sich kurz um und stutzte ebenfalls. Tatsächlich stand an der gegenüberliegenden Brüstung der Brücke ebenfalls ein Brautpaar. Und wäre die Braut nicht im Gegensatz zu der ersten blond gewesen, hätte man sie kaum unterscheiden können. In Finns Augen trug sie das gleiche Hochzeitskleid, der Mann einen ebensolchen Frack und Zylinder. Finn vermutete schon einen Kostümverleih in der Nähe, der gerade ein gutes Geschäft machte.

»Eine Doppelhochzeit!«, seufzte Joanna. »Wie romantisch!«

Finns Blick ging in den Himmel.

»Ich geh schon mal vor!«, verkündete er und marschierte los.

Aber nur wenige Meter später traf er auf ein drittes Hochzeitspaar.

»Ich glaub’s nicht!«, sagte er und schaute fragend zu seinen Eltern. Seine Mutter war bei Joanna geblieben und beobachtete mit ihr, wie das erste Paar unter Blitzlichtgewitter wie ein Promipärchen in die Kutsche stieg. Papa zuckte auch nur mit den Schultern und erklärte Finn, dass die Karlsbrücke eben ein beliebter Ort für den Fototermin von Brautpaaren war. Finn ahnte, weshalb seine Schwester so heiß darauf gewesen war, hierherzukommen. Sie hatte das bestimmt gewusst. Es war ein Fehler gewesen, die Seiten im Reiseführer zu überspringen.

Da Joanna und Mama mit dem Fotografieren immer noch nicht fertig und offenbar gewillt waren, mit dem zweiten Paar auf die nächste Kutsche zu warten, widmete Finn sich wieder dem Marionettenspieler mit Miss Piggy. Die Puppe im Frack hatte jetzt eine Geige in den Händen und spielte für seine Braut.

Finn hatte sich noch nie ein Marionettentheater angesehen. Aber dieser Geigenspieler und seine Schweinchen-Braut gefielen ihm. Der Puppenspieler hatte Finns Aufmerksamkeit sofort wahrgenommen. Die Puppe wandte sich Finn zu und schob mit seinem hölzernen Fuß den Hut, der vor ihm stand, ein wenig in seine Richtung. Finn grinste den Puppenspieler an, doch der tat so, als führe seine Puppe ein Eigenleben und als ob er mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun hätte.

Wieder stupste die Marionette den Hut ein paar Zentimeter weiter Richtung Finn und machte eine tiefe Verbeugung.

»Wie viel Kronen sind fünfzig Cent?«, fragte Finn seinen Vater.

Die Antwort kam von Joanna, die sich mit Mama unbemerkt wieder zu ihnen gesellt hatte.

»Wenn du jedem Künstler hier einen halben Euro schenkst, bist du in der Mitte der Brücke pleite!«, prophezeite sie lachend.

Aber das hatte Finn nicht vor. Nur dem Geiger wollte er etwas geben. Und jetzt, wo seine Schwester sich darüber lustig machte, erst recht. Die kleine Marionette bedankte sich für die Gabe mit einer tiefen Verbeugung. Mama machte schnell ein Foto von ihnen, was Finn allerdings nicht so gut fand, und dann zogen sie weiter.

»Ich finde das total kitschig, zu Musik aus dem Gettoblaster mit einer Musikerpuppe herumzuhampeln«, fand Joanna.

»Die Puppe kann ja wohl schlecht selbst spielen«, konterte Finn. »So ein Quatsch!«

Aber es war ihm schon klar: Joanna meckerte nur über den Puppenspieler, weil Finn die Brautpaare nicht genügend gewürdigt hatte.

»Wenn du Kitsch willst, dann dort«, legte Finn nach und deutete auf einen Zeichner, der in deutscher Sprache »Selbstporträts in fünf Minuten« anpries.

Sofort war Joanna sich mit ihrem Bruder wieder einig. Als Kinder eines Kunstmalers verstanden sie beide genug von Malerei, um sofort zu erkennen, dass die Künstler handwerklich zwar einwandfrei arbeiteten. Aber die Porträts hatten nur wenig mit Kunst zu tun und waren auch nicht mehr als die geforderten – umgerechnet – 15 Euro wert. Schon gar nicht jene, die auch noch Porträts als Karikatur anboten.

»Die sind toll!«, rief Joanna plötzlich und zeigte auf einen weiteren Puppenspieler, der ungefähr zehn Meter weiter mit zwei Marionetten gleichzeitig hantierte. Sie lief auf ihn zu, ohne auf Finn zu warten.

Finn schüttelte ungläubig den Kopf. Denn der Puppenspieler bediente eine Marionette, die Trompete spielte. Hatte seine Schwester nicht gerade gesagt, die musizierende Marionette wäre kitschig gewesen? Worin lag denn der Unterschied zwischen einer, die Violine, und einer, die Trompete spielte?

Langsam schlurfte er hinter seiner Schwester her, blieb dann aber wieder kurz stehen, weil er zufällig das Gespräch eines Ehepaares mitbekam. Finn schätzte die Frau auf gut zehn Jahre älter als seine Mutter, also bestimmt schon 45. Ihre welligen, braunen Haare hatte sie mit einer großen Sonnenbrille auf dem Kopf hinter die Ohren gesteckt. Verzweifelt schielte sie immer wieder in ihre offene Handtasche, die über ihre rechte Schulter baumelte, und jammerte: »Das kann doch nicht sein. Das kann doch gar nicht sein!«

Ihr Mann, dessen kurz geschnittener Vollbart genauso grau war wie seine halblangen Haare, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und wirkte leicht genervt.

»Wieso lässt du hier auf der Brücke auch deine Handtasche offen?«, fragte er.

»Die war nicht offen!«, versicherte seine Frau. »Das ist es ja. Ich mache sie immer zu, das weißt du doch. Und plötzlich ist sie offen und mein Portemonnaie ist weg!«

Vor Aufregung rutschte ihr die Sonnenbrille vom Kopf und plumpste in die offene Handtasche, während ihr die Haare vors Gesicht fielen.

»Guck noch mal genau!«, forderte der Mann sie auf. »Bestimmt ist es nur in deinem ganzen Gerümpel untergegangen.«

Die Frau legte eine Plastiktüte, die sie außerdem bei sich trug, auf die Brüstung der Brücke und stellte die Handtasche daneben. Mit einer herrischen Bewegung wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht und begann, die Tasche erneut systematisch zu durchsuchen. Dabei zischte sie ihren Mann giftig an: »Woher weißt du denn, wie es in meiner Handtasche aussieht? Das Portemonnaie ist mir gestohlen worden, verflucht!«

Finn ging schnell an den beiden vorbei. Er hatte keine Lust, dem Ehekrach weiter zu lauschen. Andererseits war er neugierig, ob die Frau tatsächlich Opfer eines Taschendiebs geworden war? Unwillkürlich griff er an seine Hosentasche, um zu prüfen, ob sein Smartphone noch da war. Er kannte das. In Florenz war er selbst Opfer eines Taschendiebstahls geworden. Da allerdings hatten sie den Dieb schnell erwischt und er hatte sein Smartphone wiederbekommen. Er atmete erleichtert durch, als er das Smartphone in der Tasche spürte.

Beruhigt widmete er sich wieder seiner Schwester. Die war mit dem Puppenspieler mittlerweile ins Gespräch gekommen. Und wie! Sie kicherten fröhlich und für einen Außenstehenden erweckte es den Eindruck, als ob die beiden sich schon länger kannten. Sie lachten wieder, und plötzlich wurde Finn schlagartig klar, was da ablief.

Oh nein!‹, dachte er. ›Bloß nicht!‹ Denn er wusste, wohin das führen würde: dass sie nun mindestens dreimal täglich zur Karlsbrücke gehen mussten, damit Joanna den Puppenspieler wieder treffen konnte. Joanna würde wie immer Mittel und Wege finden, das durchzusetzen.

Neue Bekanntschaft

»Verdammt!«, fluchte Finn vor sich hin.

Er hatte keine Lust, den gesamten Kurzurlaub in Prag auf dieser prallvollen Brücke zu verbringen, bloß weil seine Schwester sich mal wieder in einen Jungen verguckt hatte. Finn schätzte den Puppenspieler auf vielleicht fünfzehn, maximal sechzehn Jahre. Und er musste zugeben, dass er genau Joannas Typ entsprach: etwas längere, schwarze, lockige Haare, ein freundliches, offenes Lächeln, sportliche Kleidung.

»Wo ist Joanna?«, fragte Finns Vater, der plötzlich hinter ihm stand.

Finn zeigte es ihm und war froh, dass nur sein Vater gefragt hatte. Seine Mutter hätte mit dem ersten Blick erfasst, was sich bei Joanna gerade abspielte. Papa hingegen erkannte so etwas nicht und nickte nur zufrieden.