cover
Alfred Bekker

Alfred Bekker schrieb als Henry Rohmer- Killerjagd : N.Y.D. - New York Detectives

Cassiopeiapress Kriminalroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Killerjagd

von Alfred Bekker

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 103 Taschenbuchseiten.

 

Die letzten Tage, die letzten Stunden, die letzten Augenblicke... Die Zeit schien ihm geradezu davon zu rasen, seit er den Tag seines Todes auf sich zukommen sah. Ein Todeskandidat wartet auf den Tag seiner Hinrichtung - und Privatdetektiv Bount Reiniger muss seine Unschuld beweisen.

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



1

Er wusste, dass es für ihn kein Entrinnen gab. Er würde sterben. Noch atmete er, aber im Grunde war er schon so gut wie tot.

Die letzten Tage, die letzten Stunden, die letzten Augenblicke... Die Zeit schien ihm geradezu davon zu rasen, seit er den Tag seines Todes auf sich zukommen sah. Jenen Tag, an dem für ihn das Licht ausgehen würde. Vor ihm lag das große schwarze Nichts. Er hatte sich nie gefragt, was danach kam.

Er hatte einfach gelebt. Jetzt fragte er es sich fast ständig. Er fragte es auch den Geistlichen, den sie zu ihm schickten. Als sie ihn dann holten, zitterten ihm die Knie. Sie mussten ihn aufrichten und halten.

Er wollte etwas sagen. Er wollte es herausschreien, dass er unschuldig war, dass er Claire Levine nicht umgebracht hatte, wusste aber insgeheim, dass das keinen Sinn hatte. Diese Männer machten nur, wozu man sie angewiesen hatte. Alle, die etwas zu dem Fall zu sagen hatten, hatten es gesagt und nun war es eben soweit.

Es ging durch lange, kahle Flure.

Wie durch Watte hörte er ihre Stimmen, so als wären sie allesamt weit entfernt.

"Ich will nicht sterben", ging es dann plötzlich über seine Lippen. Aber es war kein Schrei. Es war nichts weiter, als ein verzweifeltes Flüstern. Er fühlte den eisernen Griff der Wachleute. Seine Hände waren mit Handschellen zusammengekettet. Aber das alles wäre überhaupt nicht notwendig gewesen. Er war viel zu schwach, um sich wirklich zu wehren.

Schritt für Schritt ging es vorwärts. Dann kamen Sie nach draußen. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Er sog die frische Luft ein. Er fragte sich, wie viele Gefangene diesen Weg vor ihm gegangen waren und was sie dabei gedacht hatten. Es dauerte nicht lange, dann waren sie alle in einem steril wirkenden Raum, in dessen Mitte eine dünn gepolsterte Liege stand, auf die man ihn festschnallen würde, um ihm dann die tödliche Injektion zu geben.

Er sah den Arzt, der in seinem weißen Kittel dastand und mit seinen eisgrauen Augen alles überwachen würde.

Der Gefangene musste unwillkürlich schlucken. Nacktes Entsetzen hatte ihn gepackt und so gut wie völlig gelähmt. Erst als er schon auf der Liege angeschnallt werden sollte, begann er sich zu wehren. Aber es war zu spät. Viel zu spät. Er riss verzweifelt an den Riemen, aber es war sinnlos. Schließlich waren alle Riemen angebracht und er konnte nur noch den Kopf ein paar Zentimeter hin und her bewegen. Mein Gott, dachte er. Ihn fröstelte.

Er hörte, wie der Arzt den Henker anwies, wie die Spritze anzusetzen sei. Eigentlich unnötig, denn der Kerl machte das sicher nicht zum ersten Mal. Aber so war es nun einmal Vorschrift. Nichts sollte schief gehen.

Und wenn doch?

Ein absurder Gedanke, schoss es dem Todeskandidaten durch den Kopf. Aber ein Gedanke, der sich einfach nicht aus seinem Kopf vertreiben ließ. Es geht ganz schnell, sagte er sich. Das Gift wird sofort wirken. Zack und aus. Augen zu und nicht wieder aufwachen. Aber das sagte man auch von der Gaskammer und dem elektrischen Stuhl und trotzdem klappte es nicht immer hundertprozentig. Zum Beispiel, wenn beim elektrischen Stuhl das Kopfstück nicht richtig passte oder die Stromstärke zu gering war.

Auch bei der Spritze waren Pannen denkbar. Er wusste nicht, ob er auf eine Panne hoffen oder sich wünschen sollte, das alles so schnell wie möglich vorbei war. Er wusste es einfach nicht. Bilder und Gedanken rasten vor seinem geistigen Auge dahin. Szenen aus seinem Leben, Gesichter von Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten.

"Nein", flüsterte er ohnmächtig und dann bemerkte er, wie jemand die Injektionsnadel aus seinem Oberarm herauszog. Es war geschehen. Unwiderruflich.

Er schloss die Augen.

Namenlose Dunkelheit senkte sich über ihn.



2

"LaRue!"

Eric LaRue blickte auf und erschrak dabei. Er fühlte den Schweiß auf seiner Stirn stehen. Kalten Angstschweiß. Eine Sekunde lang überraschte es ihn, noch am Leben zu sein, dann wusste er, dass er eingenickt gewesen war und geträumt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm das passierte. Nachts fand er oft keinen Schlaf. Dafür überkam es ihn dann am Tag.

"Hey, aufwachen! Du hast Besuch!"

Jetzt erst war LaRue richtig wach. Er rieb sich die Augen und hörte den Gefängniswärter vor sich hin murmeln. "Verdammter Nigger!", knirschte es unter seinem ungepflegten buschigen Schnurrbart hindurch, auf dessen Haaren er immer herum kaute, wenn er Langeweile empfand.

LaRue kannte ihn.

Der Kerl hieß McBride, war in seinem Job ziemlich fett geworden und mochte niemanden, dessen Haut auch nur eine winzige Nuance dunkler war, als seine eigene.

Eric LaRue streckte die Handgelenke durch die Gitterstäbe. Eine Sekunde später waren sie zusammengekettet.

McBride drehte den Schlüssel herum, die Zellentür sprang auf und dann führte er den Gefangenen vor sich her. Es ging durch mehrere weitere stark gesicherte Durchgänge.

"Es ist dein Bruder, dieser Winkeladvokat, der dich sehen will", brummte McBride. Er grinste über das formlose Gesicht, aber davon konnte LaRue nichts sehen. "Ich hoffe er hat schlechte Nachrichten für dich! Jemand wie du, der sich an 'ner weißen Frau vergreift, gehört hingerichtet! Und zwar unverzüglich, ohne Aufschub und Revision und den ganzen Unsinn!" McBride zuckte die breiten Schultern und schob Eric LaRue in den Besuchsraum.

Eric schluckte.

Sein Bruder Miles saß dort und tickte mit den Fingern auf dem Tisch herum. Eric brauchte nicht erst abzuwarten, bis Miles den Mund aufmachte. Er wusste auch so Bescheid. Miles blickte auf. Sein Gesicht sprach Bände.

"Tut mir leid, Eric", flüsterte Miles. Eric setzte sich. Er hatte jetzt fast so weiche Knie wie in dem Traum, als es zur Hinrichtung ging. Diesen verdammten Traum, den er jetzt mit grausamer Regelmäßigkeit hatte, wenn er die Augen schloss. Der Puls schlug ihm bis zum Hals, die Kehle war wie zugeschnürt. Er glaubte, sein Gesicht würde brennen. Er hatte diesen Augenblick lange kommen sehen. Aber jetzt, wo er gekommen war, war es doch schockierend.

"Wir haben alles versucht, Eric", hörte er die Stimme seines Bruders, der sich mit der flachen Hand über das Gesicht fuhr. Miles vermied es, den Todeskandidaten offen anzusehen. Aber die halbe Sekunde, in der sich ihre Blicke dann doch trafen, sah Eric ein Glitzern in Miles' Augen, das er nicht bei ihm gesehen hatte, seit sie kleine Jungs gewesen waren. Tränen.

"Du kannst nichts dafür", hörte Eric sich selbst sagen und hatte dabei fast das Gefühl, als wäre es jemand anderes, der da sprach. Jemand, der viel mehr Kraft hatte, als er. "Du hast alles versucht!" Das hatte Miles wirklich. Die letzte Instanz hatte ihr Urteil gefällt. Eine Wiederaufnahme konnte es nur geben, wenn plötzlich ganz neue Beweise auftauchen sollten - aber was sollte da schon kommen? Eric LaRue war zum Tode verurteilt worden und dieses Urteil würde nun in absehbarer Zeit auch vollstreckt werden. Der Termin stand bereits fest.

"Ich war beim Gouverneur", berichtete Miles, um irgendetwas zu sagen. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. "Aber er wird dich nicht begnadigen, Eric."

"Ist das sein letztes Wort?", flüsterte Eric mit erstickter Stimme. Er brauchte die Antwort im Grunde nicht abzuwarten. Er kannte sie im voraus.

"Ich fürchte ja", sagte Miles. Er brachte es einfach nicht fertig, seinen Bruder dabei anzusehen.

Eric nickte. Es überraschte ihn, aber ein wenig konnte er den Gouverneur sogar verstehen. Ein schwarzer Mann hatte angeblich eine weiße Frau umgebracht. Da schlugen die Emotionen ziemlich hohe Wellen. Und warum sollte ausgerechnet ein Politiker sich in dieser Situation ohne Not unbeliebt machen wollen?

Der Fall lag klar, die Beweise sprachen eindeutig für Eric LaRues Schuld. Die Öffentlichkeit war davon genauso überzeugt wie die Jury im Gerichtsaal. Und selbst die Handvoll Demonstranten vor dem obersten Gericht war nicht von Erics Unschuld überzeugt gewesen, sondern einfach nur ganz allgemein gegen die Todesstrafe.

"Die Chancen waren von Anfang an wohl nicht gut, was?", meinte Eric achselzuckend, während er die blanke Verzweiflung in sich aufsteigen fühlte. "Aber ich habe Claire nicht umgebracht... Ich war überhaupt nicht dort!" Er schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: "Ich bin unschuldig, aber ich kann es nicht beweisen!"

"Ich weiß, Eric." Miles hörte seine eigene Stimme in diesem Moment wie die eines Fremden. Er fühlte sich scheußlich. Eric LaRue atmete indessen tief durch. "Das wär's dann also", meinte er resigniert.

"Ich habe noch nicht aufgegeben, Eric!", erklärte Miles. "Ich nehme morgen den Flieger nach New York, um mit einem Mann zu sprechen, der dir vielleicht noch helfen kann!" Eric lachte heiser. "Wer sollte das sein? Ein noch besserer Anwalt als du vielleicht? Ein weißer Anwalt womöglich?"

"Nein, ein Privatdetektiv."

Eric lachte heiser. "Was sollte der schon ausrichten? Wir hatten doch schon diesen Spellings engagiert... Und was hat es gebracht?"

"Der Mann, von dem ich spreche, spielt in einer anderen Klasse als dieser Spellings."

Eric winkte ab. "Ach, ja?"

"Ich spreche von einem Mann namens Reiniger", erklärte Miles und versuchte, seiner Stimme dabei einen einigermaßen optimistischen Tonfall zu geben. "Seine Agentur ist eine Top Adresse unter den privaten Ermittlern!"

"Ich mache mir keine Hoffnungen mehr, Miles. Vielleicht ist es besser, es einfach zu akzeptieren. Meine Zeit ist eben so gut wie um."

"Eric!"

"Manchmal denke ich, je eher ich es hinter mir habe, desto besser!"

"Was redest du da!"

Eric LaRue zuckte nur mit den Schultern.

"Es ist so, Miles! Im Grunde haben sie mich längst hingerichtet. Fünfzigmal oder hundertmal. Ich weiß es nicht, ich habe es nicht gezählt. Jede Nacht..." Er stockte. "Verstehst du, wovon ich rede, Miles?"

Miles schaute zur Seite.

"Ich weiß nicht."

"Ich träume immer dieselbe Szene. Ich habe sie mal in irgendeinem Spielfilm gesehen. Jemand wurde aus der Todeszelle geführt, um dann die tödliche Injektion zu bekommen." Er atmete tief durch. "Ich weiß nicht einmal mehr, wie der Film hieß, oder was der Kerl eigentlich verbrochen hatte, der da hingerichtet wurde. Aber jetzt werde ich diese Szene nicht los..."

"Eric..."

"Ich sterbe jede Nacht, Miles. Kannst du dir das vorstellen?"

"Noch ist es nicht vorbei, Eric. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben."

Eric LaRues Blick war glasig. Er nickte kurz. "Ich danke dir für alles, was du getan hast!", murmelte er dann. Miles' Lächeln war verkniffen. "Das ist doch das Mindeste!", meinte er schwach.

"Du glaubst, dass du es mir irgendwie schuldig bist, alles zu versuchen, selbst wenn es keinen Sinn hat, nicht wahr? Aber in Wahrheit glaubst auch du nicht mehr an eine Möglichkeit, mich hier lebend herauszubringen!"

"Das ist doch Unsinn, Eric!", war Miles Erwiderung. Aber in Wahrheit hatte Eric es ziemlich genau getroffen.