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  Christian Mörken– Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen– SCM Kläxbox

Inhalt

Inhalt

1.  Der Fremde im Garten

2.  Umzug nach Dösterfelde

3.  Lilly, Montag und Backe

4.  Das Plakat

5.  Die Vase

6.  Der Klub

7.  Tiefer Schlaf

8.  Der seltsame Fremde

9.  Schreckliche Erkenntnis

10. Der Hit

11. Im Studio

12. Nächtliche Entdeckung

13. Die Flucht

14. Gute Nachrichten

15. Die Zeit drängt

16. Die Stimme

17. Verfolgt

18. Vor dem Schloss

19. Der Plan

20. Das Finale

21. Das weiße Z

Z

1. Der Fremde im Garten

Da war er wieder, der Mann, den Zorro nicht kannte. Und dennoch kam er ihm so bekannt vor. Er hockte gebückt hinter dem großen Rhododendron, die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen. Was machte er da? Zorro erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich über den Schreibtisch, um besser sehen zu können. Der Mann hockte auf dem Boden, halb verdeckt von den Blättern, und schien sich nicht zu rühren. Die Blickrichtung des Mannes schien in Richtung Schloss zu gehen. Zorro versuchte zu erkennen, was genau der Mann eigentlich beobachtete, aber es gelang ihm nicht.

Was gab es dort wohl zu sehen, fragte Zorro sich und beugte sich noch ein Stückchen weiter nach vorn. Es war die Westseite des Schlosses. Dort befand sich laut Zorros Erinnerung nichts Besonderes. Es gab eine Holztür, die in den Keller führte, und ein Erkerfenster im zweiten Stock. Sonst nichts. Vielleicht interessierte sich der Mann aber auch gar nicht für das Schloss. Gut möglich, dass er einer dieser Vogelbeobachter war, der mit Mikrofon und Aufnahmegerät Vogelstimmen einfangen wollte. Zorro meinte, sich daran zu erinnern, dass er irgendwo unter dem Dach ein Schwalbennest gesehen hatte. Vielleicht hatte der Mann einfach Spaß daran, den Vögeln bei der Suche nach Nahrung zuzusehen? Was für ein blödes Hobby, dachte Zorro. Aber Spinner gab es schließlich genug in Dösterfelde. Das hatte Zorro in den vierzehn Tagen, die er nun hier war, schon herausgefunden.

Zorro ließ sich wieder in seinen Schreibtischstuhl zurückfallen. Er schob das Baseball-Cap leicht zur Seite, zupfte die Baggy Pants zurecht und seufzte. Dann legte er den Kopf in den Nacken. Sein Blick blieb an der Zimmerdecke haften. Sie war mindestens vier Meter hoch und mit Stuck verziert. In der Mitte hing ein Kronleuchter aus Kristall, der das weiß gestrichene Zimmer hell erleuchtete. Eigentlich ein ganz cooler Raum, fand Zorro. Die Akustik war zumindest außerordentlich gut. Das hatte er schon beim Aufbauen der Plattenspieler bemerkt. Die Bässe waren fett gewesen, nur der knarrende Holzfußboden hatte gestört. Um Musik zu hören, waren solche Räume gut, aber nicht um hier neue Songs aufzunehmen. Aber dafür würde ihm noch eine Lösung einfallen.

Der Raum war bestimmt dreißig Quadratmeter groß, wenn nicht größer, und hatte sogar einen eigenen Balkon. Von dort konnte Zorro auf den riesigen Garten hinter dem Haus blicken. Genau in diesem Garten hatte Zorro den Mann zum ersten Mal gesehen. Es war vor zwei oder drei Tagen gewesen. Zunächst hatte Zorro gedacht, dass es der Gärtner sei, obwohl der Mann gar keine Arbeitskleidung trug. Vielleicht hatte der Vorbesitzer des Schlosses ja vergessen, dem Gärtner zu kündigen? Zorro war daraufhin in den Garten gelaufen. Doch als er den Platz erreichte, wo der Fremde gesessen hatte, war dieser bereits spurlos verschwunden. Dort, wo er gehockt hatte, war nichts als niedergedrücktes Gras gewesen. Vielleicht war es jemand aus dem Dorf, hatte Zorro schließlich überlegt. Jemand, der wissen wollte, wer nun in dem Schloss wohnte und es vorzog, sich im Garten zu verstecken, als einfach vorn an der Tür zu klingeln. Und genau: Spinner gab es immerhin genug in Dösterfelde.

Dann erhob sich Zorro wieder und beugte sich über den Schreibtisch, um den Mann besser sehen zu können. Er hockte noch immer dort, so, als hätte er sich in den letzten Minuten kein Stück bewegt. Auf einmal hob der Mann seinen Kopf. Zorro zuckte zurück und wäre beinahe über den Schreibtischstuhl gefallen. Hatte der Mann bemerkt, dass er ihn beobachtete? Kurz entschlossen griff Zorro nach seiner Jacke und lief aus dem Zimmer. Mit großen Schritten eilte er über die Galerie, an deren Wänden schwere, düstere Ölgemälde hingen, und nahm die große Freitreppe mit vier großen Sprüngen. Seine Turnschuhe machten quietschende Geräusche, als er über den Marmorboden der Empfangshalle lief. Dann umfassten seine Hände den Messingknauf der Eingangstür. Mit einem kräftigen Ruck öffnete er die schwere Eichentür und schlüpfte hinaus. Draußen hechtete er über die Kieseinfahrt und dann über den Rasen. Als er sich der Stelle näherte, wo der Mann hockte, verlangsamte Zorro seine Schritte. Er duckte sich leicht und schlich vorsichtig weiter. Dann hielt er plötzlich inne. Der Mann war noch gut dreißig Meter von Zorro entfernt. Es schien, als hätte er Zorro noch nicht bemerkt. Der Mann hatte dunkle Locken und einen ebenso dunklen Vollbart. Seine kleinen Augen schienen fast gänzlich unter den buschigen Augenbrauen zu verschwinden. Er trug einen hellen Mantel und braune Lederhandschuhe. Und dann sah Zorro es. Um den Hals hing eine Kamera und er hatte eine Art Funkgerät dabei. Eines stand fest: Gärtner war dieser Mann nicht und auch kein Vogelbeobachter. Aber was wollte er dann hier? Zorro kroch ein wenig näher. Der Mann blickte auf sein Funkgerät, sprach etwas hinein und sah dann wieder auf das Schloss. Zorro folgte seinem Blick. Und dann sah er es. Aus dem Erkerfenster im zweiten Stock leuchtete etwas auf. Ein Signal? Zorro erstarrte. Jemand im Schloss hatte dem Mann ein Zeichen gegeben. Es hatte wie ein Morsecode ausgesehen. Gebannt blickte Zorro auf das Erkerfenster. Aber es kamen keine Lichtzeichen mehr. Wie viele waren es gewesen? Drei oder vier oder noch mehr? Zorro versuchte, sich zu erinnern, aber er konnte sich die Reihenfolge und auch die Länge der Lichtsignale nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Dann sah Zorro wieder in die Richtung, wo der Mann saß, und erschrak. Der Mann war verschwunden. Aufgeregt blickte Zorro nach rechts und nach links, aber − nichts. Der Mann war verschwunden. Zorro richtete sich auf und schaute über den Rhododendron-Busch und da sah er das Auto. Es fuhr kaum hundert Meter von Zorro entfernt über die schmale Kopfsteinpflasterallee in Richtung Dorf. Der Mann musste es gleich hinter den drei Eichen geparkt haben, die östlich des Schlossgartens standen. Zorro versuchte, das Nummernschild des Wagens zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Der Wagen war bereits zu weit weg. Dann drehte Zorro sich um und schaute hoch zum Erkerfenster. Und was er dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Aus dem Fenster kamen wieder Lichtsignale. Wer konnte das sein? Und für wen waren die Signale gedacht? Etwa für den Mann? Hatte ihn jemand gewarnt?

Noch während Zorro der letzte Gedanke durch den Kopf ging, hechtete er bereits zum Schloss zurück. Seine Turnschuhe quietschten durch die Eingangshalle, als er über den Marmorboden lief, um dann die knarrende Holztreppe hinaufzurennen. Es hatte keine dreißig Sekunden gedauert, bis Zorro das Erkerfenster erreichte. Und doch war er zu spät. Es war niemand mehr da. Eilig sah er sich um, ob er seine Mutter oder seinen Vater erblickte, aber sie waren nicht in der Nähe. Dann fiel sein Blick aus dem Fenster in den Garten. Links vom Rhododendron, wo er eben noch den Mann beobachtet hatte, lag der kleine Gartenteich mit den Seerosen. Am Ufer des Teichs befand sich ein Holzsteg und dort saß gerade seine Schwester Tessi. Sie hatte wie immer ihren Laptop auf dem Schoß. Ein Gedanke schoss Zorro durch den Kopf und er rannte erneut die Freitreppe hinunter, durch die Halle und in den Garten. Mittlerweile schmerzte seine Lunge und er war völlig außer Atem. Hechelnd kam er bei Tessi an. Er spürte den Schweiß und wischte sich eilig mit dem Handrücken über die Stirn.

„Bruderherz“, sagte Tessi so herzlich, dass Zorro auf der Stelle merkte, dass es nicht ernst gemeint war. „Wofür trainierst du heute? Den Marathon für Couch Potatoes1? 42,19 Meter ohne Pause?“

„Sehr witzig“, erwiderte Zorro, musste aber dennoch grinsen. Er mochte den Humor seiner kleinen Schwester, besonders, wenn es etwas mit Sport oder Laufen zu tun hatte, denn Tessi saß im Rollstuhl. Sie war von Geburt an gelähmt. Von den Knien abwärts gehorchten ihre Beine ihr nicht. Wie es aussah, würde sie nie laufen können.

Tessi hatte ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug dazu eine Baskenmütze. Über die Schultern hatte sie sich eine Wolljacke gelegt und auch ihre Beine steckten unter einer dicken Wolldecke. Sie lächelte. Zorro setzte sich auf den Stuhl neben Tessi und sah seine kleine Schwester an. Gut, Tessi war nur ein Jahr jünger als er. Doch für Zorro war sie immer noch seine kleine Schwester, die es nicht so leicht hatte wie er. Er bewunderte ihren Mut und ihre Fähigkeit, die Dinge immer positiv zu sehen. Zwar hatte sie als kleines Kind häufig Wutanfälle bekommen, weil sie nicht laufen konnte, aber seitdem sie allein im Rollstuhl saß, hatte sie sich mit der Situation abgefunden. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie hatte Zorro sogar manches Mal gezeigt, wie cool es war, wenn man richtig gut Rolli fahren konnte. Zu seinem siebten Geburtstag hatte Zorro sich dann selbst einen Rollstuhl gewünscht. Seine Eltern waren zuerst irritiert, aber dann verstanden sie – und fanden die Idee toll. So konnten Tessi und er gemeinsam Rennen durch die Wohnung oder den Park veranstalten. Manche Passanten schauten Zorros und Tessis Eltern dann bedauernd an und murmelten etwas wie: „Ach wie tragisch, beide Kinder im Rollstuhl.“ Doch Tessi und er lachten nur und setzten ihr Rennen fort. Wobei Tessi fast immer gewann.

„Und, was gibt’s, großer Bruder?“, fragte Tessi und klappte ihren Laptop zu.

„Ist dir vorhin nichts aufgefallen? Ich meine, der Mann?“, fragte Zorro.

„Welcher Mann?“, fragte seine Schwester zurück und sah Zorro an, als glaubte sie, er hätte Wahnvorstellungen.

„Der da im Gebüsch gesessen hat, dort hinten beim Rhododendron“, erklärte Zorro und deutete auf den Busch.

„Nein, ich habe nichts gesehen“, meinte Tessi. „Vielleicht der Gärtner?“

Zorro erzählte Tessi, dass er das zunächst auch geglaubt habe, dass der Mann aber mit Sicherheit kein Gärtner gewesen sei. Dann berichtete er ihr von den Lichtzeichen, die er bemerkt hatte und die aus dem Erkerfenster an der Westseite des Schlosses kamen. Tessi blickte ihn zweifelnd an.

„Du meinst, jemand hat dem Mann Lichtzeichen gegeben?“, fragte sie und tiefe Falten zogen sich über ihre Stirn.

„Ja, wem sonst?“

„Es könnten doch auch Reflexionen gewesen sein?“, vermutete Tessi. „Sonnenlicht, das auf die Scheiben gefallen ist und reflektiert wurde?“

„Nein, nein“, wehrte Zorro ab. „Zudem ist es gerade elf Uhr vormittags. Die Sonne steht noch im Osten.“

„Ein schlaues Brüderlein habe ich da“, scherzte Tessi und grinste. „Also keine Sonne.“

„Und du hast wirklich nichts gesehen?“, fragte Zorro erneut.

„Nein, tut mir leid. Ich versuche gerade, die CIB zu hacken“, sagte Tessi und verzog den Mund. „Ist nicht leicht, wirklich nicht leicht.“

Zorros Mund stand sperrangelweit offen. Dann fing er sich wieder und stotterte: „Du … du, machst was? Du hackst die CIA?“

„Nein, die CIB!“, wiederholte Tessi energisch. „Das ist ein Spiel! Okay, zugegeben, nicht so ein dämliches Spiel, bei dem man Burgen aufbauen muss, um dann mit seinen Armeen Nachbarländer zu erobern, oder alberne Aliens abwehren soll. Nein, CIB, das heißt ,Computer & Internet Break-in‘, also Computer und Internet …“

„Einbruch, ich weiß“, beendete Zorro den Satz. „Seltsames Spiel.“

„Super Spiel!“, entgegnete Tessi. „Dabei lernt man wenigstens, wie man Viren programmiert oder Firewalls überwindet.“

„Bereitest du dich etwa auf eine Karriere als Superverbrecherin vor?“, fragte Zorro spöttisch.

„Nein, aber vielleicht als Polizistin. Immer mehr Verbrechen passieren heute schließlich im Internet. Da braucht die Polizei dringend Leute, die wissen, wie man den Dieben dort das Handwerk legen kann.“

„Na gut. Solange du darüber nicht vergisst, dass es auch wichtig ist, Eindringlinge zu entdecken, die sich in Rhododendronbüschen verstecken …“

„Ich werde meine Augen offen halten, Detektiv Zorro“, versicherte Tessi und lächelte.

„Oh nein!“, entfuhr es Zorro plötzlich.

„Was ist denn?“, fragte Tessi und blickte an Zorro vorbei. Dann entfuhr auch ihr ein: „Oh nein!“

Die beiden sahen ihre Mutter, die über den Kiesweg auf sie zukam. Doch was Zorro und Tessi irritierte, war nicht ihre Mutter. Sie trug wie immer ein Kostüm mit Seidenschal und hatte ihre Haare hochgesteckt. Sie sah wie eine Geschäftsfrau aus. Aber die Frau, die hinter ihr herlief, machte Zorro und Tessi unruhig. Sie war zierlich, mittelgroß, hatte braunes schulterlanges Haar und buschige Augenbrauen. Sie trug einen dunklen Rollkragenpullover, einen dunkelblauen Faltenrock, der ihr bis zu den Waden reichte, und Sandalen. Über der Schulter trug sie eine schwarze Handtasche.

„Wer ist das?“, fragte Tessi und schaute besorgt drein.

„Ich hoffe, niemand, den Mama als Kindermädchen für uns anstellen möchte“, sagte Zorro und verschluckte die letzten Worte beinahe, denn seine Mutter und die fremde Frau hatten sie mittlerweile erreicht.

Die Mundwinkel der Frau zeigten so deutlich nach unten, dass sie den Anschein machten, als würden sie bis zum Boden reichen.

„Ja, also da wären wir, Frau …“

„Linde“, sagte die fremde Frau leise.

„Genau, Frau Linde“, wiederholte ihre Mutter. „Also das sind meine Kinder. Mein Erstgeborener …“

„Zorro, hallo!“, fiel Zorro seiner Mutter ins Wort und reichte der Frau die Hand. Seine Mutter lachte kurz auf.

„Ja, so nennt er sich gern selbst, aber in Wirklichkeit heißt er natürlich Sigismund Ottokar Engelhardt Dietrich Balduin von Frangenberg.“ Seine Mutter hatte dabei diesen Stolz in der Stimme, der immer durchklang, wenn sie seinen Namen nannte. Sie sah Frau Linde an, als erwartete sie eine Geste der Anerkennung für diese außergewöhnliche Namensgebung. Doch Frau Linde reagierte nicht. Zorro war beruhigt. Ihm war es jedes Mal unendlich peinlich, wenn jemand seinen echten Namen erfuhr − besser gesagt: seine echten Namen. Doch dieses Mal brauchte er sich nicht lange zu schämen, denn seine Mutter fuhr unmittelbar mit Tessi fort:

„Und das ist meine Tochter Therese Amalie Dorothea Walburga Kunigunde von Frangenberg.“

Tessi lächelte die fremde Frau an. Ihr Lächeln hätte dabei nicht aufgesetzter sein können. Frau Linde hingegen blieb ernst. Ein kurzes Nicken von ihr deutete eine Begrüßung an.

„Jaaaaa“, sagte ihre Mutter gedehnt und rieb sich dabei die Hände. „Also, ich denke, dass ich die freudige Nachricht nun verkünden kann.“

Bitte lass sie nicht unser Kindermädchen sein, bitte lass sie nicht unser Kindermädchen sein, bitte lass sie nicht unser Kindermädchen sein, dachte Zorro, während er nach außen ein strahlendes Lächeln aufsetzte.

„Frau Linde wird zu uns auf das Schloss ziehen!“, sagte seine Mutter und sah erfreut vom einen zum anderen. Als die gewünschte Reaktion ausblieb, ergänzte sie: „Ja, also Frau Linde ist dann ab jetzt jeden Tag bei uns. Sie wird mir helfen, das Schloss zu unterhalten und sie wird sich auch ganz besonders um euch kümmern.“

„Schön“, war alles, wozu Tessi sich durchringen konnte. Und Zorro kam gar nichts über die Lippen. Die Vorstellung, Frau Linde nun jeden Tag im Schloss begegnen zu müssen, erfüllte ihn mit einem tiefen Unwohlsein.

2. Umzug nach Dösterfelde

Zorros Unwohlsein im Zusammenhang mit Frau Linde wurde nur noch von dem Unwohlsein übertroffen, das Zorro bei dem Gedanken daran empfand, dass er ab morgen hier zur Schule gehen musste. Die Sommerferien waren vorbei und nun hieß es, mit dem Schulbus die fünfzehn Kilometer bis zum Gymnasium in Bad Trekelsingen fahren zu müssen. In Hamburg war er noch mit der U-Bahn zur Schule gefahren. An der Station Kellinghusenstraße waren seine Freunde zugestiegen. Jeder hatte seinen MP3-Player dabei. Sie tauschten die besten Titel und hörten in die neuesten Mixe des jeweils anderen hinein. Hamburg, das war eine richtige Musikstadt. Hier gab es Weltklasse-Studios, Plattenfirmen und eine echte Chance, später mal entdeckt zu werden. Und davon träumte Zorro. Musik war sein Leben, besonders Hip-Hop. „MC Zorro Live“ – das würde bald über dem Stadion im Hamburger Volkspark stehen. Auch davon träumte er. Er würde einen erstklassigen Sportwagen fahren, in die besten Restaurants der Stadt gehen, mit Schauspielern und Rockstars befreundet sein. Seinen Urlaub würde er natürlich in der Karibik auf der eigenen Yacht verbringen. Für Zorro schien all das zum Greifen nah.

Bis seine Mutter seinerzeit mit dem Plan herausrückte, dass die Familie aufs Land ziehen würde. „Aufs Land!“, entfuhr es Zorro. Sein Entsetzen hätte nicht größer sein können. Etwa das Land mit Kühen, Bauern, Jauche, Wäldern, Fischteichen und Trachten? Das wäre sein Ende, dachte Zorro. Welcher MC kam denn schon vom Land? Hip-Hop-Stars kamen aus Detroit, Chicago oder New York und in Deutschland eben aus Hamburg, Berlin oder Stuttgart. Aber Dösterfelde!? Aus Dörfern kamen Schützenkönige und Wein-, Käse-, Honig- oder Apfelköniginnen. Aber weltbekannte Hip-Hopper? Fehlanzeige. Nein, dieser Umzug aufs Land würde seine Biografie ruinieren. In den folgenden Wochen setzte Zorro alles daran, seine Mutter davon zu überzeugen, dass es für ihn absolut unmöglich sein würde, mitzukommen. Doch seine Mutter ließ sich nicht erweichen.

„Onkel Ludwig hat uns den Tipp gegeben“, erklärte sie. „Er sagte, dass es ein wunderbares Schloss sei. Idyllisch gelegen …“

„Ja, das sagt man so, wenn man meint, irgendwo in der Pampa“, fiel Zorro seiner Mutter ins Wort.

„Quatsch“, erwiderte sie leicht amüsiert. „Onkel Ludwig meinte, dass es ein wahres Juwel sei, zwischen Bad Trekelsingen und Oschenhausen gelegen …“

„Gleich hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen …“

„Es stammt aus dem 16. Jahrhundert und die Barone zu Döster-Waldberten haben dort gelebt.“

„Waren die mit Graf Zahl verwandt … hahahaha … zwei … hahahaha?“, imitierte Zorro die Figur aus der Sesamstraße und fing sich so einen tadelnden Blick seiner Mutter ein.

„Ich sehe, du bist absolut nicht bereit, mir zuzuhören“, sagte sie und verließ die Küche.

„Doch, doch …“, rief Zorro ihr nach und seine Mutter kam wieder zurück.

„Onkel Ludwig hat gesagt, dass es traumhaft ist. Es ist gerade frisch renoviert worden und bietet alles, was man sich nur wünschen kann. Dein Vater sucht ohnehin gerade nach einer größeren Immobilie. Sein Finanzberater hat ihm nämlich geraten, Geld in Immobilien zu investieren.“

„Aber es muss doch nicht gleich ein Schloss sein“, entgegnete Zorro.

„Warum denn nicht? Dein Vater hat nun mal das Geld, und Immobilien sind eine gute Investition. Aus so einem Schloss kann man schließlich einiges machen. Zudem gibt es genug Zimmer, sodass ihr alle euren Hobbys nachgehen könnt.“

„Und der Tipp kam von Onkel Ludwig?“, fragte Zorro skeptisch. Sein Onkel Ludwig war nämlich das schwarze Schaf der Familie. Er war der älteste Sohn und damit Stammhalter der Familie. Doch anders als es für die Männer derer von Frangenberg üblich war, hatte Ludwig nicht an einer bekannten Universität in England studiert. Er verkaufte stattdessen alle seine Sachen und war mit Rucksack und Motorrad um die Welt gereist. Ein Lebensstil, den Zorros Oma überhaupt nicht gutheißen konnte. Das ziemte sich nicht. So übernahm Zorros Vater die Führung der Familie und der Geschäfte. Später kam Ludwig mit einer Reihe von ziemlich zwielichtigen Typen zusammen. In der Familie raunte man etwas über Verbrechen und Diebstähle. Doch bevor Zorros Vater etwas unternehmen konnte, war Onkel Ludwig bereits verschwunden. Die Familie hatte keine Ahnung, wo er steckte. Es vergingen Jahre, bis er sich vor wenigen Monaten plötzlich aus Brasilien zurückmeldete. Er sagte, dass er dort in São Paulo lebte und glücklich sei. Dort hätte er angefangen, mit Immobilien zu handeln und sei dabei ganz zufällig auf das Schlösschen in Deutschland gestoßen. Während Zorros Vater zunächst skeptisch war, konnte seine Mutter ihre Begeisterung kaum verbergen. Und das war Zorro nicht entgangen. Deshalb musste er nun alles tun, was er konnte, um einen Umzug zu verhindern.

„Nun sieh es dir doch erst einmal an“, hatte sie gesagt und die Diskussion damit beendet. So machten sie es dann auch.

Zwei Wochen später war es dann so weit. Zorros Vater saß still am Steuer und sagte die ganze Fahrt über kein Wort, während Zorros Mutter bereits kurz hinter Hamburg anfing, die zahllosen Vorteile eines Umzuges aufzuzählen. Dabei kam sie immer wieder auf Bücher zu sprechen und wie viel Platz das Schlösschen dafür bot. Zorro erkannte die Berechnung seiner Mutter sofort. Zorros Vater war nämlich Verleger. Seine Familie hatte vor über hundert Jahren einen Verlag gegründet und Zorros Vater führte diesen fort. Er liebte diese Arbeit. Er liebte Bücher. Ja, er lebte völlig in der Welt der Bücher. Oftmals brachte sein Vater sogar Realität und Fiktion durcheinander. Dann begann er zum Beispiel zu erzählen, dass die Nachbarin Frau Kose, die sich am Mittag eine Zwiebel geborgt hatte, bei der Rückkehr in ihre Wohnung auf einen Drachen und einen Zwerg gestoßen wäre. Die Nachbarin hätte ihm erzählt, dass sie das Königreich Avatarien befreien müsse, das vom schrecklichen Gorgan besetzt sei. Zorro und seine Schwester fanden die Geschichte sehr lustig. Sich vorzustellen, wie die 86-jährige Frau Klose, die sie sonst nur mit ihrem Rollator im Treppenhaus antrafen, auf einem Drachen ritt, um einen bösen Herrscher zu bekämpfen. Aber seine Mutter hatte nur mit den Augen gerollt, ihrem Mann auf den Unterarm geklopft und gesagt: „Johann, ich glaube, du bringst da etwas durcheinander.“ Nur das schelmische Lächeln seiner Augen verriet Zorro und seiner Schwester, dass ihr Vater seine Mutter nur auf den Arm nehmen wollte.

Obwohl Johann von Frangenberg von Geburt an vermögend war, trug er zumeist ausgebeulte Jacketts und schlabbrige Kordhosen. Seine schwarzen Haare standen wild in alle Richtungen ab und sein buschiger Vollbart schien jedes Jahr mehr von seinem Gesicht zu verdecken. Nur die kleinen, wachen Augen hinter der klobigen Brille verrieten, dass Zorros Vater sehr wohl alles genau mitbekam, was um ihn herum geschah. Er machte sich bloß nichts aus seinem Namen und seinem Vermögen. Nur für seltene und ältere Bücher gab er gern Geld aus. Alles andere interessierte ihn nicht. Die meiste Zeit verbrachte Johann von Frangenberg ohnehin in seinem Arbeitszimmer. Und da sah ihn ja niemand. Warum also sollte er sich sonderlich Gedanken um sein Äußeres machen?

In seinem Arbeitszimmer stapelten sich die Bücher bis unter die Decke. Zorro erinnerte sich noch gut daran, wie er als kleiner Junge zum ersten Mal in das Arbeitszimmer seines Vaters gekommen war. Fasziniert hatte er auf die unzähligen Bücher geblickt. Sie waren ihm vorgekommen wie ein gewaltiger chinesischer Drache aus Papier, der sich vom Schreibtisch über die Regale und den Fußboden wandte und jeden Winkel des Zimmers ausfüllte. Überall lagen und steckten Bücher. Auf jeder noch so kleinen Fläche türmten sich die Stapel und begannen jedes Mal zu wanken, sobald jemand das Zimmer betrat. Selbst aus den kleinsten Ritzen ragten noch einzelne Seiten ungezählter Manuskripte. Manche frisch und hell weiß, manche schon stark vergilbt, sodass man die Notizen nur noch schwach erkennen konnte. Der ganze Raum roch nach Papier, Holz und Staub. Irgendwo hinter diesem Gebirge aus Büchern und Manuskripten hatte sein Vater an seinem alten Schreibtisch gesessen. Die Brille auf der Nasenspitze, die Haare wirr in alle Richtungen abstehend, und die Ellenbogen aufgestützt. Hinter jedem Ohr steckte jeweils ein Bleistift. Der gelbe Lichtkegel der antiken Schreibtischlampe war meist die einzige Lichtquelle in dem Raum, sodass die Bücher am Abend begannen, gespenstische Schatten an die Wände zu werfen. Manchmal hatte Zorro sich in das Zimmer seines Vaters geschlichen und sich ruhig auf den Boden gelegt. Dann hatte er beobachtet, wie die Schatten der Bücher sich vom Nachmittag bis zum Abend veränderten. Meistens war er dabei eingeschlafen, bis seine Mutter hysterisch durch die Wohnung lief, um nach ihm zu suchen. Wenn sie ihn dann im Arbeitszimmer seines Vaters gefunden hatte, warf sie seinem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie verstand es nicht, dass man sich so sehr in ein Buch vertiefen konnte, dass man es nicht einmal bemerkte, dass der eigene Sohn ins Zimmer kam. Aber noch mehr störte sie das Chaos in dem Arbeitszimmer. Nun hoffte sie, dass in dem Schlösschen genug Platz wäre, um all die wild herumliegenden Bücher ordentlich einzuräumen. Zorro wusste nur zu gut, wie sehr seine Mutter darunter litt, dass sein Vater sich nichts aus seiner Herkunft machte. Gelegentlich hatten sie in Hamburg Einladungen zu Golfturnieren oder Segelregatten bekommen, an denen andere Adelige teilnahmen. Zorros Vater hatte darüber nur die Nase gerümpft und gemurrt: „Was soll ich denn da? Mir vielleicht ansehen, wie Sieglinde von Pundel-Achersleben versucht, ihren Sohn zu verheiraten? Oder mich mit Baron Gerhard von Fageshoven über sein Golfspiel unterhalten?“

„Ach, Johann“, hatte seine Mutter dann gesagt. „Lass uns doch nur einmal dorthin gehen.“ Aber Zorros Vater hatte abgewinkt und war wieder in sein Arbeitszimmer verschwunden. Nur einmal war er mit Zorros Mutter zu einem Wohltätigkeitsball ins Rathaus gegangen, zu dem Gräfin Christiane Rosalinde von Schwüschenbek-Dievenitz geladen hatte. Doch schon nach wenigen Minuten hatte Zorros Vater den Ball entnervt verlassen, als er erfahren hatte, dass es bei dem Wohltätigkeitsball keineswegs um hungernde Kinder, sondern um die notleidende Chihuahua-Zucht der Gräfin selbst ging. Danach kamen nur noch wenige Einladungen zu solchen Festen.

Wenn man also schon nicht zu anderen Adeligen eingeladen wurde, dann wollte Zorros Mutter wenigstens in einem richtigen Schloss leben – das glaubte Zorro zumindest.

Nach vier Stunden hatten sie Dösterfelde erreicht. Zorro war immer tiefer in seinen Sitz gesunken und hatte sich sein Cap tief in die Stirn gezogen. Das konnte nicht der Ernst seiner Eltern sein. Das hier war tiefste Provinz. Flach, grau, flach, grau – soweit das Auge sehen konnte. Sie fuhren die kleine Dorfstraße entlang, vorbei am Tante-Emma-Laden an der Sparkasse, dem Schlachter und einem Schreibwarenladen. „Sieh doch mal, Johann“, hatte seine Mutter begeistert ausgerufen. „Dort kannst du dann immer deine Ordner kaufen.“

Wenn ein Schreibwarenladen das Highlight des Ortes war – dann gute Nacht, dachte Zorro und sank noch tiefer in seinen Sitz. Tessi hingegen blickte neugierig und durchaus interessiert aus dem Fenster. Sie war es am Ende auch, die Zorros Widerstand gegen einen Umzug zeitweise schmelzen ließ. Seine Mutter führte nämlich an, dass ein Leben auf dem Land und in einem Schloss mit weitläufigen Gärten für Tessi sicherlich viel angenehmer sein würde als das ewige Eingesperrtsein in der Stadt. In der Wohnung musste Tessi sich nämlich ständig helfen lassen, und sobald sie nach draußen wollte, brauchte sie jemanden, der sie die Stufen vor dem Eingang des Hauses heruntertrug. Zudem rief Tessi oft zu Hause an, weil wieder einmal der Fahrstuhl an einem U-Bahnhof nicht funktionierte und sie deshalb nicht allein aus der U-Bahn-Station nach Hause kommen konnte.

Auf dem Land, erklärte Zorros Mutter, wäre Tessi viel mobiler. Das Schloss hätte Rampen, über die Tessi allein in