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Koytek & Stein

Der

Posamentenhändler


Kriminalroman



Leykam




für Max und Paul

Von der einfachsten bis zur güldnen Schnür, 
alles macht der Posamentier!

1

Achtundsiebzig Stufen sind achtundsiebzig Stufen – und selbst, wenn man die vier gleich nach der Eingangstür abzog, blieben noch vierundsiebzig.

Fröstelnd trat er vor die Tür auf den Gang, zog seine Jacke enger um die Schultern und wartete. Von draußen schlich die Novemberkälte wie ein unsichtbarer Nebel das Stiegenhaus herauf und kroch unbarmherzig in seine Knochen. Seit über einer Woche verbarg sich die Sonne schon hinter einem undurchdringlichen Wolkenschleier und drückte auf seine Stimmung. Gespannt horchte er auf den Klang der Schritte, die sich näherten und nun am kleinen ehemaligen Portierskämmerchen vorbei mussten, das an manchen Tagen einen ziemlich strengen Geruch bis in die hintersten Winkel des Stiegenhauses verströmte. Außerdem erlosch dort das Licht meist, bevor man die Treppen erreicht hatte. Dann blieb einem nichts anderes übrig, als sich mühsam bis zum nächsten Lichtschalter vorzutasten.

Im hallenden Stiegenhaus konnte man die Geräusche, die die Schuhe auf den Marmortreppen verursachten, gut hören. Leder rieb auf eingetretenem Straßensplitt. Absätze – sieben oder acht Zentimeter, schloss er. Leise zählte er die Schritte mit, die sich ihm Stufe für Stufe näherten. Ein Lufthauch wehte den Oberton einer eigenwilligen Duft­note zu ihm hoch, die das übliche Stiegenhausaroma überlagerte.

Seit Jahren schon schwelte im Haus ein Konflikt der Parteien über den Einbau eines Aufzugs, doch bisher hatte sich die Kontra-Fraktion bei jedem neuen Anlauf gegenüber der Pro-Gruppe knapp durchgesetzt, sogar von Energiesparen und Klimaschutz war die Rede gewesen, sodass sich seine Kundschaft nach wie vor die drei Stockwerke zu Fuß hi­naufquälen musste. Ihm war dies allerdings nicht gänzlich unrecht. So konnte er leichter seinem heimlichen Vergnügen nachgehen.

Erwartungsvoll strich sein Zeigefinger die Fugen zwischen den abgenutzten Fliesen entlang und hielt bei einer ausgeschlagenen Ecke inne. Langsam löste er ein winziges Stückchen ab, legte es vorsichtig auf seine geöffnete Handfläche und schnippte es lautlos ins Stiegenhaus.

Dreiundzwanzig, vierundzwanzig ..., zählte er dann stumm mit. Der Griff nach dem aus Eiche gedrechselten Holzgeländer, eine kurze Verschnaufpause – der erste Stock war geschafft. Er schloss die Augen. Ungefähr dreißig, lange Haare, taillierter Mantel, fantasierte er. Nach den zwei kleinen Pausen zu urteilen eher unsportlich, Armreifen und Ringe an den Händen – zumindest glaubte er, ein schepperndes Geräusch beim Griff nach dem Geländer gehört zu haben. Eventuell ein paar Kilo zu viel.

Fünfunddreißig, sechsunddreißig ...

Rasch zog er sich wieder in seine Räumlichkeiten zurück und ließ die Tür leise ins Schloss gleiten. Als die Türklingel schellte, verharrte er einen Augenblick lang reglos, lauschte dem schnellen Atem auf der anderen Seite und öffnete erst dann. Höflich wich er aus und machte mit der Hand eine einladende Bewegung.

Bei einigen wenigen Details war er tatsächlich richtig gelegen, im Großen und Ganzen jedoch überraschte ihn die äußere Erscheinung der eintretenden Frau: Absätze, übergroße Armreifen, protzige goldene Ringe an den Fingern – das waren die Treffer. Brünette, mit einer Nuance ins Rot gehende auftoupierte Haare, frisch vom Friseur, rosa-grau gemustertes altmodisches Kostüm, die Handtasche perfekt darauf abgestimmt – das hatte er nicht erwartet. Die aufgebauschte Frisur erinnerte ihn ein wenig an eine Bärenfellmütze, wie sie britische Dudelsackpfeifer bei ihren Aufmärschen trugen. Das Gesicht war zudem beherrscht von einer riesigen, dunkel getönten Brille mit nicht zu knappem Goldrand, die die Gesichtszüge in den Schatten stellte.

„Guten Tag!“, brachte die Frau nach einer kleinen Atempause leicht schnaufend hervor. „Pfeifer ..., Sophie Pfeifer – der Aufzug ... wurde übrigens schon erfunden ...“, fügte sie mit leicht spöttischem Tonfall hinzu und streckte ihm gleichzeitig ihre makellos gepflegte Hand hin. Dabei drohte ihn der Duft des aufdringlichen Parfums wie eine Dampfwalze zu überrollen. Unauffällig versuchte er der Geruchsattacke Richtung Büro auszuweichen und entgegnete: „Conrad Orsini, womit kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Das ist eher eine äußerst ... delikate Angelegenheit.“ Wie um diesen Satz von sich wegzuschieben, öffnete Sophie Pfeifer den Verschluss ihrer Handtasche, holte ein an den Rändern rosarot verziertes Stofftaschentuch hervor und tupfte sich damit über die Stirn. Befriedigt stellte Orsini fest, dass er sich zumindest in punkto Sportlichkeit nicht geirrt hatte. Er zog die Augenbrauen hoch und wartete. Es war nicht ungewöhnlich, dass seine Klienten es schwierig fanden, zur Sache zu kommen. Sie hatten einen Sack voll Misstrauen und Verdächtigungen im Gepäck, noch dazu meist gegen die nächsten Verwandten oder Geschäftspartner. Und, was das Schwierigste zu sein schien, sie kannten ihn nicht, weshalb erst ein gewisses Vertrauen aufgebaut werden musste. Dass Sophie Pfeifer allerdings angeläutet hatte, ohne zuvor einen Termin zu vereinbaren – so viel Spontaneität hätte er ihr nicht zugetraut.

Durch den Vorraum, der seine Wohnung vom Büro abtrennte, bat er sie weiter, zog im Büro einen der beiden alten Lederstühle für sie heran und nahm ihr gegenüber Platz. Dabei entging ihm auch ihr verwunderter, fast herablassender Blick nicht. Abgesehen von den beiden Ledersesseln für Besucher, dem großen amerikanischen Schreibtisch mit einer Tischlampe aus den Sechziger-Jahren und einem Bakelit-Telefon, bevölkerte nämlich nur noch ­Orsinis absolutes Lieblingsstück, der mit Kuhfell überzogene Drehsessel, das Zimmer.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee?“

„Nein, danke!“

Schweigen.

Regungslos wartete Orsini ab, denn er funktionierte nach seiner eigenen Uhr. Darüber hinaus nahm er nur Fälle an, die sein Interesse erregten. Zu diesem Zweck hatte er in seiner Schublade drei unterschiedliche Vertragsformulare vorbereitet. Formular B war für Bessergestellte, Formular N für Normalsterbliche – und dann gab es noch Formular U. U stand für uninteressant und die darin verlangten Preise waren so astronomisch hoch, dass jeder Klient sofort seine Sachen packte und das Büro verließ. Wenn er einen Auftrag nicht annehmen wollte, zog er sich auf diese Art aus der Affäre und musste durch den kleinen Trick auch nicht erklären warum.

Ein Räuspern durchbrach jäh seine Gedankengänge. Sophie Pfeifer nahm die Brille ab und sah ihm für einen Moment unverwandt ins Gesicht.

„Ein Glas Wasser vielleicht, bitte!“

Innerlich schmunzelte Orsini. Nach außen zeigte er nur seine abwartend interessierte Miene, griff nach der Karaffe und goss zwei Gläser voll. Ohne die überdimensionale, fast operettenhaft wirkende Brille war Sophie Pfeifer eine durchaus attraktive Frau. Mitte vierzig vielleicht. Auch wenn ihr Stil nicht gerade seinen Idealvorstellungen entsprach. Ohne die Brille sah man dunkle Ringe unter den Augen, die selbst die dickste Schminke nicht wegretouschieren konnte. Besonders gut hatte sie wohl nicht geschlafen. Genauso abrupt wie sie die Brille abgenommen hatte, setzte sie sie wieder auf.

„Sie wirken recht ordentlich oder ist die Auftragslage ...“, begann sie schnippisch und deutete mit einer fahrigen Handbewegung vom großen, fast leeren Tisch hinüber zu Orsini. „Haben Sie denn keinen Computer, keine Akten?“

„Doch“, entgegnete Orsini, „die Akten sind im Kopf und der Computer im Nebenzimmer, wenn Sie die Einrichtung meinen, ich kann Unordnung nicht ausstehen – stört mein Denkvermögen.“

„Aha“, unterbrach sie ihn dermaßen spitz, dass Orsini froh war, ihr nicht den Rest seiner Wohnung zeigen zu müssen.

„Ja, es ist so ...“, setzte sie erneut an. Es schien, als bereute sie es, Orsini aufgesucht zu haben. Ihr Blick blieb auf den fünf an die Wand genagelten Schallplatten hängen. „Ich habe auf Ihrer Homepage gelesen, dass Sie ... Also ich möchte, dass Sie für mich herausfinden, ob, ... ob jemand aus meiner Familie versucht, mich um mein Erbteil zu bringen!“

Orsini nahm im Geiste Formular U zur Hand und seufzte: „Ihr Erbteil.“

„Mein ... mein Vater ...“

„Ihr Vater?“

„Ja, vorige Woche, er ist ...“ Sophie Pfeifer begann, langsam an einem ihrer Ringe zu drehen. Ihr Tonfall war beinahe unterkühlt, als sie fortfuhr: „... er ist vorige Woche ermordet worden. In seinem Geschäft. Drogensüchtige. Angeblich Beschaffungskriminalität. Aber darum ... geht es mir nicht, das ist Aufgabe der Polizei.“

Mord? Orsini zögerte ... darum geht es nicht ... Ohne den ihm gegenüber sitzenden glitzernden Weihnachtsbaum aus den Augen zu lassen griff er instinktiv nach Formular B für Bessergestellte und fragte: „Sondern?“

„Es geht um meinen Bruder Karl. Ich vermute, dass er das Erbe an sich reißen will.“ Sie öffnete ihre Tasche und zog ein Kuvert hervor. „Er wohnt nach wie vor in der elterlichen Wohnung, jetzt natürlich nur mehr mit unserer Mutter, und das schon seit sechsundvierzig Jahren!“

Sechsundvierzig Jahre keine Miete, immer frisch gebügelte Hemden, täglich eine warme Mahlzeit – was ist daran falsch?, spöttelte Orsini heimlich.

Jetzt, wo sie sich offensichtlich dazu entschlossen hatte, zu erzählen, schoss es aufgebracht aus Sophie Pfeifer he­raus: „Das hier habe ich auf seinem Schreibtisch gefunden. Es ist eine Ungeheuerlichkeit!“ Sie leerte das Glas Wasser in einem Zug und ließ es mit klirrenden Armreifen auf den Tisch sausen.

„Gefunden“ war eine nette Umschreibung für herumstöbern und suchen, überlegte Orsini. Umständlich zerrte sie an dem Kuvert, das sich ihr zu widersetzen schien, bis sie endlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier in der Hand hatte. Mit spitzen Fingern schob sie es ihm hin. Von sich weg.

„Moment – könnten wir von vorn beginnen?“ Orsini entfaltete sorgsam das Schreiben. „Ihr Vater wurde letzte Woche ...?“

„Ja. Er ist schon 85 gewesen, aber soweit ich weiß, bei bester Gesundheit. Freitagabend. Er wollte gerade sein Geschäft verlassen, als es geschehen ist.“ Wieder drehte sie am goldenen Ring und zog ihn dann langsam bis zur Fingerkuppe vor und zurück, als hätte es den Gefühlsausbruch wenige Augenblicke zuvor nicht gegeben.

Orsini sah zum Fenster hinunter auf die schmutzige Straße. Es tröpfelte leicht. Am First des Hauses gegenüber bleckte eine mächtige Löwenfigur im trüben Abendlicht die Zähne. Beim Anblick der steinernen Mähne fiel ihm unwillkürlich Sophie Pfeifers Frisur ein: Das feine Haar war zu einem gleichzeitig luftigen und mit diversen Mitteln gefestigten Machwerk verarbeitet. Zuckerwatte. Ein Löwe, besser gesagt eine Löwin, verbarg sich hinter dieser künstlichen Mähne jedoch nicht.

Sophie Pfeifer war nach einer knappen halben Stunde unvermittelt aufgestanden, hatte rasch noch ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt und eine penetrante Parfumwolke hinterlassen.

Nachdenklich überflog er die schlecht leserliche Kopie des Schreibens, das Sophie Pfeifer ihm gezeigt hatte. Sophies Bruder Karl: Im Kopf zog Orsini von dessen sechsundvierzig Jahren die Zeit der Kindheit ab, rechnete mal 365, multiplizierte mit den Kosten eines üblichen Hotelzimmers und staunte ob der Summe, die er sich erspart haben musste. Sophie Pfeifers Neid war durchaus verständlich.

Es handelte sich um ein normales Anbot einer Immobiliengesellschaft namens Immotreu für das elterliche Haus, in dem sich das Geschäft befand. Dort war auch der Mord geschehen. Als Adressat war der Ermordete, Heinrich Novak, angeführt. Der Straßenname war gerade noch zu entziffern, die Hausnummer jedoch nicht. Jemand – Sophie Pfeifer vermutete ihr Bruder – hatte handschriftlich Ziffern hinzugefügt mit dem Vermerk: „Bar, bei Vertragsunterzeichnung.“ Der handschriftliche Betrag war um ein Mehrfaches höher als das offizielle Anbot. Das hatte ihr Misstrauen erweckt.

Sie hat heimlich nach einem Testament ihres Vaters gesucht und dann zufällig das Anbot entdeckt, dachte Orsini, ging ins Nebenzimmer und schaltete seinen Computer ein. Jedenfalls deutete ihre Verlegenheit in diesem Punkt darauf hin ... ungeduldig war sie wohl auch ... Verständlicherweise, denn der Termin mit dem Notar der Familie war erst in knapp drei Wochen angesetzt.

Mann tot in Geschäft aufgefunden, überflog Orsini die Schlagzeile im Internet-Zeitungsarchiv vom 25. 10. Der 85-jährige Händler Heinrich Novak aus Wien Neubau wurde am Freitag, den 24. Oktober kurz vor 20.00 Uhr leblos auf dem Boden liegend in seinem Geschäft in der Zieglergasse 31a aufgefunden ... die Rekonstruk­tion des Unglückshergangs gestalte sich schwierig, erklärte die zuständige Polizeisprecherin ... vermutlich erdrosselt ... Obduktion sei abzuwarten ... mehrere Einvernahmen ...

Erfolglos suchte er nach aktuelleren Einträgen und klickte schließlich auf das Ausschaltsymbol. Für einen Augenblick empfand er seine Tätigkeit als unendlich mühsam, wenn er an die Möglichkeiten seines früheren Jobs dachte. Der Ventilator des Computers gab ein letztes Surren von sich, während Orsini wieder zum Gespräch von vorhin zurückfand.

Sophie Pfeifer selbst war geschieden und kinderlos. Zu ihren Eltern und den beiden Geschwistern hielt sie nur sehr losen Kontakt. Deswegen hatte sie auch von eventuellen Verkaufsplänen nichts gewusst und fühlte sich nun vor den Kopf gestoßen. Zudem hatte sie nach dem Begräbnis auch noch festgestellt, dass von den Kunstgegenständen in der elterlichen Wohnung einiges fehlte. Zur Rede gestellt hatte sie ihre Geschwister diesbezüglich aber nicht. Ein Satz hallte dazu in Orsinis Ohren wider: „In unserer Familie wurde die Sprachlosigkeit kultiviert.“

Morgen würde er sich um alles Weitere kümmern, beschloss er, denn er hatte noch einige dringlichere Aufgaben zu erledigen.

Wenig später bog er mit hochgestelltem Mantelkragen unter der goldenen Weltkugel des Palais des Beaux Arts in die Löwengasse. Wie immer schaute er kurz zu den Weltkugelträgerinnen hoch, denen das Regenwasser von den schwarzen Haaren über die ebenso schwarzen Arme auf die nackten Brüste tropfte, hob grüßend die Hand und marschierte mit zügigen Schritten voran.

Nur halblaut drangen die Geräusche an sein Ohr, ohne dass er sie wirklich registrierte, so versunken saß er gegen Abend auf der mit Kunstleder bezogenen, abgenutzten Sitzgarnitur im ebenso abgenutzten, kleinen Kaffeehaus. Wieder einmal. Er hoffte, auf Paula zu treffen. Einige Male hatten sie hier – im Jell, wie sie es abgekürzt nannten – nach der Arbeit gemeinsam Kaffee getrunken oder stundenlang geredet. Die Zeit war dabei weitergezogen.

Immer noch trug er den Geruch ihrer Haut in seiner Erinnerung mit sich, den Geschmack ihrer Lippen, ihre bedingungslosen, beinah ungestümen Umarmungen, ihre wilden Locken, die dabei sein Gesicht streiften und ihr neckisches Lachen, wenn es ihr gelungen war, ihn auf den Arm zu nehmen.

Vorbei. Das war Jahre her, vergessen konnte er Paula freilich nicht. Dass er mittlerweile zwei Stunden hier saß und auf den kümmerlichen verstaubten Gummibaum starrte, hob die Stimmung nicht sonderlich. Sogar der Kellner, der ihn zuvor schon zweimal gefragt hatte, ob er noch etwas wünsche, aber nur ein missmutiges „Nein!“ zu hören bekommen hatte, schien nun einen Bogen um seinen Tisch zu machen.

Abermals fiel sein Blick auf die Wanduhr, die sich kaum von der nikotingelben Stofftapete abhob, als die Eingangstür darunter aufging. Eine ältere Dame im abgetragenen Filzmantel, die Füße in flauschigen dunkelbraunen Hauspatschen, schob sich herein und schlurfte über den desolaten Parkettboden. Von ihrer Schulter baumelte eine blau blitzende Sporttasche. Zielstrebig steuerte sie den Tisch neben Orsini an, stellte die Sporttasche auf der Sitzbank ab und zog Filzmantel, Wollschal und Pelzhaube aus. Womöglich lag es an ihrem rosa-grauen verwaschenen Jäckchen, dass er erneut an seine Klientin, die Löwenmähnenfrau, denken musste, während sich die Dame ihm gegenüber in Zeitlupe niedersetzte und am Verschluss der blauen Tasche zu hantieren begann.

Dass es zwischen Sophie Pfeifer und ihrem Bruder nicht zum Besten stand, war nicht zu übersehen, aber auch bezüglich ihrer jüngeren Schwester Anna und ihrer Mutter Judith war kaum ein gutes Wort über die geschminkten Lippen gekommen. Bei der Erwähnung des ermordeten Vaters war sie erstaunlich kühl und wortkarg geblieben. Der Konflikt um die Erbschaft dürfte wie so oft als Lupe gedient und aus längst archivierten Streitereien einen massiven, scharfkantigen Berg an Problemen angehäuft haben.

Wieder ging in diesem Augenblick die Tür auf, – Paula?, ließ er sich kurz ablenken – doch es war nur ein junges verliebtes Paar, sodass Orsini bald wieder ins Grübeln verfiel. Die Dame am Nebentisch hatte inzwischen ein Kartendeck in ihrer pergamentenen Hand und legte erstaunlich geschickt die Karten vor sich auf den Tisch.

Patience? Orsini beobachtete neugierig, wie sie danach drei kleine silberne Dosen aus der Tasche holte und sie in einem Dreieck vor den Karten platzierte. Der Kellner kam wie gerufen und stellte ein Glas in die Mitte des Dosendreiecks. Ein doppelter Whisky, stellte Orsini erstaunt fest. Ohne die flink hin- und hereilenden Hände aus den Augen zu lassen, zogen seine Gedanken geradlinig weiter.

Was ihm Sophie Pfeifer noch erzählt hatte, war, dass die bis vor nicht allzu langer Zeit relativ heruntergekommene Gegend, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, seit Kurzem einen Aufschwung erlebte. Die Immobilienpreise waren gestiegen und auch ihre Familie dürfte Kontakt mit Bauspekulanten gehabt haben. Außer dem „gefundenen“ Papier hatte sie allerdings keine weiteren Hinweise dazu. Auf Orsinis Nachfrage, ob sie sicher sei, dass ihr Bruder Karl die mit Bleistift gekritzelten Zahlen dazugefügt habe, hatte sie geantwortet: „Nein, aber das Papier lag jedenfalls in seinem Zimmer. Karl war schon immer berechnend. Die Absicht dahinter ist doch klar – ich finde, das ist Beweis genug!“

Orsini war diesbezüglich nicht ganz so überzeugt, ging jedoch nicht näher darauf ein. Von der Hand zu weisen waren ihre Schlussfolgerungen natürlich nicht. Entweder hatte ihr Bruder sie und den Rest der Familie zu hintergehen versucht, um bar auf die Hand zu kassieren, oder aber er hatte in der ganzen Aufregung nach dem Mord an seinem Vater vergessen, den übrigen Familienmitgliedern von dem Anbot zu erzählen.

„Und keinen Kontakt mit dem Notar!“ Darauf hatte sie bestanden. „Er kennt die Familie und ich will unter keinen Umständen, dass mein Name irgendwie auftaucht. Meine Schwester würde einen Aufstand machen!“

„Dann wird’s aber schwierig“, hatte Orsini geantwortet.

„Na, da müssen S’ sich halt was einfallen lassen, sonst hätte ich Sie ja nicht engagieren brauchen!“

An dieser Stelle war er knapp daran gewesen, das Gespräch abzubrechen. Etwas hatte ihn jedoch davon abgehalten. Ein unbestimmtes Gefühl, von dem er gehofft hatte, es hinter sich gelassen zu haben, war in dem Moment in ihm wach geworden, als Sophie Pfeifer von Mord gesprochen hatte. Ein Instinkt, der ihn antrieb nachzuhaken. Das konnte so weit gehen, dass er die Kontrolle über sich selbst verlor und, von dem Drang nach Wahrheit besessen, alles um sich vernachlässigte. Bewusst hatte er um solche Fälle jahrelang einen Bogen gemacht. Doch die eintönigen Ermittlungen der letzten Zeit hatten ihn möglicherweise ausgehungert. Der Mord an Heinrich Novak schien geklärt, simple Kriminalität am unteren Rand der Gesellschaft. Dort fand sich nichts Mysteriöses. Und doch ...

Die Gegend, in der das Geschäft des Ermordeten lag, kannte Orsini jedenfalls – sie war nicht weit vom Jell entfernt. Zusammen mit dem Viertel rund um Ulrichskirche und Spittelberg bildeten sie die noch in ihrer Ursprünglichkeit erhaltenen Kernzonen des Bezirkes Neubau. Vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis ins neue Jahrtausend hatte sich die Bevölkerungsanzahl halbiert. Die damals florierenden Handwerksbetriebe waren an die Peripherie abgewandert oder ganz ausgestorben. Wer brauchte heute noch Kupferschmiede, Metallgießer, Abzeichen- und Ordenhersteller? Auch die damals in der ganzen Monarchie bekannte Puppen- und Spielwarenfabrik Emil Pfeiffer und das dazugehörige Geschäft Pfeiffers Puppen Paradies waren schon lange verschwunden.

Unterdessen spielte die alte Dame mit der linken Hand eifrig weiter, kramte dabei mit der rechten in der Tasche und zog etwas in Butterpapier Gewickeltes heraus. Ohne den Blick vom Spiel zu nehmen, öffnete sie das Papier mit ­einer Hand, holte ein Wurstbrot hervor und biss ab. Die drei silbernen Dosen und den Whisky hatte sie noch nicht angerührt. Orsini rief den Kellner, um zu zahlen.

„Sagen Sie“, fragte er leise und machte eine Kopfbewegung zur alten Dame, während er dem Kellner einen Zehner in die Hand drückte.

„Ja bitte?“

„Was ...?“, flüsterte Orsini und deutete erneut auf die kartenspielende Dame.

„Ach so, die Frau Newerkla“, erwiderte der Kellner so laut, dass Orsini am liebsten versunken wäre, „kommt jeden Tag zum Spielen her. Spielt die schwierige Variante ... übrigens brauchn S’ net leise redn, die is nämlich derrisch, versteht kaum ein Wort.“ „Und die silbernen Dosen?“

„Wern S’ glei sehn“, entgegnete der Kellner und ging.

Ratlos blieb Orsini sitzen und wartete, während die Frau hochkonzentriert weiterspielte. Ärgerlich blickte er nach einer Weile auf die Uhr, stand auf, bewegte sich auf den Ausgang zu und hatte schon den Türgriff in der Hand, als plötzlich ein dünner Schrei ertönte. Er drehte sich um. Die Dame hatte eine der drei kleinen Dosen in der Hand und versuchte sie zu öffnen. Vier Kartenstapel lagen fein säuberlich geschlichtet vor ihr auf dem Tisch. Mit zitternden Fingern holte sie eine orange Tablette aus der kleinen Dose, steckte sie in den Mund und spülte sie zusammen mit dem Whisky hinunter. Kopfschüttelnd öffnete Orsini die Tür und sah nur noch, wie der Kellner mit einem neuen Glas in der Hand auf die alte Dame zusteuerte.

Kaum war er aus der quietschenden, altersschwachen Tür an die frische, feuchte Luft getreten, blickte er sich nochmals um, konnte aber auch in der beginnenden Dämmerung keine dem Kaffeehaus zustrebende Frau entdecken.

... your love was like the sun, I don’t remember no cold days …, ging ihm ein Song Taj Mahals nicht mehr aus dem Kopf, so sehr er auch versuchte, an etwas anderes zu denken ... a happy fool I would rather be ... Leise vor sich hin pfeifend machte er sich schließlich auf den Weg. Mit eingezogenem Kopf betrachtete er die Auslagen der Geschäfte und wusste selbst nicht, warum und wie er plötzlich in der Gegend angelangt war, in der Sophie Pfeifer ihre Kindheit verbracht hatte. Seine eigene Wohnung lag in der entgegengesetzten Richtung. Es regnete immer noch. Ohne genaues Ziel trottete er die Zieglergasse entlang. Vor einem besonders desolaten Schaufenster hielt er an. „Einbruch zwecklos“ stand auf einem kleinen Aufkleber in der unteren Ecke der Glasscheibe, der für eine Sicherheitsfirma werben sollte. Ein Zeitloch. Hinter der schmierigen gläsernen Barriere hingen Okuliermesser, Nagelscheren und „Spezialgeräte für den Liebling“ an einer abbröselnden Schaumgummipinnwand neben Wetzsteinen für Sensen und einem „Schärfmeister für die Hausfrau“. Die handgeschriebenen Preisschilder waren noch in Schilling angegeben.

Langsam marschierte er weiter. Mehrfach verstellten Baufahrzeuge Einfahrten und Gehwege. Betonierte Kranfundamente verengten die Straße zusätzlich. Einige Häuser waren bereits renoviert worden, bei manchen hatte man zumindest die Geschäftsfassade neu gestrichen. Insgesamt aber machte das Viertel einen bemitleidenswerten und he­runtergekommenen Eindruck, der durch die Dunkelheit und das schlechte Wetter noch verstärkt wurde. Er schlängelte sich weiter durch provisorische Fußgängerumleitungen an Baustellen vorbei, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch keineswegs zur Ruhe gekommen waren. Regen tropfte auf ihn herab, aus den Baustellenausfahrten rann die Erde als Matsch auf die Straße und verteilte sich zu unregelmäßigen, großen Pfützen. In null Komma nichts waren seine Schuhe verdreckt, genauso wie die untere Hälfte seiner Hose. Fluchend suchte er Unterschlupf in einem der verfallenen Hauseingänge. Das Tor stand halb offen. Eine einsame Glühbirne hing an ihrem Draht herab und verströmte spärliches Licht. Zuerst nahm er nur den Geruch nach Erbrochenem und abgestandenem Alkohol wahr. Dann, nachdem seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, bemerkte er zum Stiegenaufgang hin eine Gruppe auf dem feuchten Boden herumlungernder Männer, die von einer beachtlichen Ansammlung Alkoholika umgeben waren. Woher der stechende Geruch kam, wusste er nun.

„Magst an Schluck?“, fragte der einzige noch Stehende aus der Gruppe und reichte Orsini schwankend eine Tetrapackbox. Nur mit Mühe konnte er das Etikett lesen. Es versprach den feinsten Cuvée. Orsini zögerte. Der Mann hielt die Box mit Daumen und kleinem Finger, aber dazwischen standen – anstatt der drei übrigen Finger – nur mehr Stummel von der Handfläche ab. Orsini dachte an die oft eiskalten Nächte weit unter dem Gefrierpunkt. Hier waren die Bewerter für das weltweite Ranking um die lebenswerteste Stadt wohl nicht vorbeigekommen ... Stolz hatte der Bürgermeister erst unlängst mit Wiens vorderster Platzierung geprahlt.

Ablehnen war unmöglich, so nahm er also die angebotene Rotweinmischung, wartete auf einen Moment, da er nicht beobachtet wurde, und führte die Box zum Schein an die Lippen.

„Danke, schmeckt super!“ Orsini fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund, gab die Box zurück und wollte wieder zur Straße zurückkehren. Eine erstaunlich kraftvolle Hand legte sich ihm jedoch auf die Schulter und hielt ihn energisch zurück. Orsini zuckte zusammen. Automatisch werteten seine Sinne die Berührung als Angriff. Er duckte sich blitzschnell, drehte sich um hundertachtzig Grad und holte aus.

Als er aber in das lachende, zahnlose Gesicht des stehenden Obdachlosen blickte, konnte er die reflexhafte Angriffsbewegung gerade noch stoppen.

„Nervös, Masta? ... vur mir ... brauchst ka Angst habn ... i moch da scho nix.“ Erst jetzt bemerkte Orsini, dass dem Mann ein Bein fehlte und zwei Krücken ihm quasi als Barhocker dienten. Das war auch der Grund, warum er noch immer stehen konnte. Er sprach lallend und verschluckte manche Silben. Speichel troff aus seinen Mundwinkeln, und auf seiner Jacke hatte der verschüttete Rotwein jede Menge Flecken hinterlassen.

„I wollt nur schaun ..., obst für den Superwein ... a Marie, ... a Gerstl ... springa losst!“

Verlegen kramte Orsini in seiner Hosentasche nach der Geldbörse, holte einen Schein heraus und fragte, ob sie denn keine Unterkunft hätten.

„O ja! wir ... mia wohnan ... eh glei ums Eck, sogor gratis!“

„Gratis?“

„Klor gratis ... nur scheichn s’ uns jedn Tog ausse, damit ma do in da Gegend ... umadumstengan.“

„Wieso?“

„Des was i ned, und ...“

In diesem Moment drohte der Mann umzufallen. Orsini musste ihn stützen, um ihn danach wieder in die Senkrechte zu befördern.

„Dank da sche, wüst no a moi?“

Orsini lehnte das Angebot höflich ab, was sich aus seiner Sicht als Fehler erwies. Denn der Mann trank nun ansatzlos die Box in einem Schwung leer, rülpste unmenschlich laut und war danach nicht mehr ansprechbar.

„Wer schickt euch raus?“

Keine Reaktion. Mehrmals versuchte Orsini den Mann durch Rütteln am Arm quasi wiederzubeleben. Aber der Mund des Einbeinigen öffnete sich nur und statt Wörtern sonderte er erneut eine Ladung Speichel ab. Ein dünner durchsichtiger Faden zog sich nun vom Kinn abwärts bis zur Brust.

„Wer schickt euch raus!?“, schrie Orsini dem offensichtlich ins Delirium Abgleitenden ins Ohr. Statt des Einbeinigen regten sich jedoch nur die übrigen Umherliegenden. Einer davon erwischte Orsinis Hose und krallte sich an ihr fest. Sein Nachbar kroch auf den Ellenbogen näher und stieß dabei eine Flasche nach der anderen um. Der Inhalt verteilte sich langsam glucksend auf dem Boden. Orsini drehte sich auf einem Bein und schüttelte mit einer präzisen Bewegung den Betrunkenen ab. Hier wurde es allmählich ungemütlich. Kurz dachte er daran, dem Einbeinigen seine Visitenkarte in die Tasche zu stecken, verwarf den Gedanken aber gleich wieder.

Auf dem Gehsteig, oder dem was davon übrig geblieben war, stieg er als Erstes in eine tiefe, mit Schlamm gefüllte Wasserlacke. Lautstark fluchte er die menschenleere Straße hinab. Noch einige Zeit konnte man das rhythmische Geräusch, das ein mit Wasser gefüllter Schuh macht, verklingen hören. Was Orsini jedoch nicht mehr hören konnte, waren die Schritte eines Mannes, der alles aus einem dunklen Winkel des Innenhofes beobachtet hatte, jetzt auf die Gruppe Obdachloser zuschritt und dem Einbeinigen die Krücken wegdrosch, sodass dieser mit dem Gesicht hart auf dem Boden aufschlug.