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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Februar 2015)

© 2015 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Jasmin Sander

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-562-5

 

 

REISEN

 

 

Kurzgeschichten

 

 

Sechs poetische Stimmen

Nach einer Themenidee von Franz Hohler

Herausgegeben von Rafik Schami

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Inhalt

 

Statt eines Vorworts: eine Einladung

 

Franz Hohler – Der Enkeltrick

 

Root Leeb – Fünf Frauen machen eine Reise

 

Monika Helfer – Sechs Geschichten

 

Michael Köhlmeier – Lange Nacht heim

 

Nataša Dragnić – Sandfluchten

 

Rafik Schami – Das Fremde und das Eigene

 

Nachwort des Herausgebers – Fass dich kurz, aber poetisch!

 

Die Autorinnen und Autoren

 

Statt eines Vorworts: eine Einladung

Dieses Buch ist keine Anthologie, sondern eine neue Art, Texte zu inszenieren. Sechs Autorinnen und Autoren greifen einen Themenvorschlag auf und erzählen aus ihrer Sicht darüber. Es sind allesamt Liebeserklärungen an eine der feinsten Erzählkünste: die Kurzgeschichte.

Besuchen Sie die sechs Erzählbühnen. Dort warten Überraschungen auf Sie. Ich garantiere Ihnen große Unterhaltung. Ich war dort.

 

Rafik Schami

 

 

Franz Hohler – Der Enkeltrick

Die Frau, die vor der Wohnungstür stand, war eindeutig nicht die Postbotin, obwohl sie zweimal geklingelt hatte. Die Postbotin hatte blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, und die hier hatte krauses schwarzes Haar und dunkle Augen. Auch trug sie keine blaue Uniform, sondern eine rote Bluse und eine schwarze Lederjacke. »Frau Ott?«, fragte sie und lächelte.

Amalie Ott nickte. Sie musste zwar ab und zu mit Momenten kämpfen, in denen sie nicht mehr sicher war, wo sie gerade stand oder wohin sie gehen wollte und ob heute wirklich Sonntag war, wenn sie eine geschlossene Kirchentür vorfand, aber mit 88 Jahren sei so etwas nicht ungewöhnlich, hatte ihr der Hausarzt gesagt, und wichtig sei einfach, dass sie immer ihre Adresse bei sich trage, wenn sie das Haus verlasse.

Doch jetzt stand sie bloß im Türrahmen und nickte, denn so viel stand fest, sie war Amalie Ott.

»Was wünschen Sie?«, fragte sie die fremde Frau.

»Darf ich einen Moment hereinkommen?«, fragte diese. »Es ist vertraulich.«

Amalie schloss kurz die Augen und sah ihre zwei Töchter mit ihren Männern und ihren Groß- und Urgroßkindern, und sie riefen ihr im Chor zu: »Keine Fremden he­reinlassen!«

Als sie die Augen wieder öffnete, stand die Frau in der roten Bluse immer noch da und schaute sie lächelnd an.

»Bitte«, sagte Amalie, »kommen Sie herein.«

»Das ist lieb von Ihnen«, sagte die Fremde, die bereits einen Fuß auf der Schwelle hatte.

»Wir gehen in die Küche«, sagte Amalie und ging vor der Frau her durch einen schwach beleuchteten Korridor in die Küche. Auf dem Tisch waren ein Teller mit einem halb gegessenen Stück Butterbrot mit Marmelade und eine Tasse, dahinter ein Glas mit Nescafé-Pulver.

»Setzen Sie sich«, sagte Amalie und wies auf den zweiten Stuhl, »ich bin spät dran mit dem Frühstück, möchten Sie auch einen Kaffee?«

»Danke«, sagte die kraushaarige Frau, »ich habe nicht viel Zeit. Ich bringe Ihnen eine Nachricht von Ihrer Enkelin.«

Wieder schloss Amalie kurz die Augen, und wieder sah sie den kleinen Familienchor. Fünf Enkel waren dabei, drei hochgeschossene junge Männer von der ersten Tochter, zwei mit ihren Frauen und zwei Urenkeln, ein etwas kleinerer Mann von der zweiten Tochter, und da stand rechts außen noch eine junge Frau, etwa dreißigjährig, mit einer Stupsnase und einem Bubikopf, die ihr zuwinkte.

»Von Cornelia?«, fragte Amalie, als sie die Augen wieder öffnete.

»Ja, von Cornelia«, sagte die Frau.

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist in Not.«

Und die Fremde erzählte nun, dass Cornelia auf einer Reise in Rom verhaftet worden sei, weil sie für einen Freund ein Päcklein mitgenommen habe, in dem Drogen versteckt waren, natürlich habe sie das nicht gewusst, Cornelia hätte so etwas nie gemacht, aber jetzt sei sie im Gefängnis und käme nur gegen eine Kaution von 20.000 Euro frei, das seien also etwa 25.000 Franken, und Cornelia habe ihr ihre, Amalies, Adresse gegeben mit der Bitte, ob sie ihr vielleicht aus dieser Lage heraushelfen könne.

»Aber ihre Mutter?«

Die dürfe auf keinen Fall etwas erfahren, Cornelia schäme sich furchtbar, dass sie in so etwas hineingeraten sei, und sie bitte sie, niemandem von der Familie etwas davon zu sagen, sie werde ihr bestimmt auch alles zurückzahlen.

Amalie nahm einen Schluck Kaffee und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab.

Ja, die Cornelia, sagte sie, das passe zu ihr.

Sie hatte das Mädchen immer gemocht, schon weil sie ihre einzige Enkelin war, aber auch das Wilde an ihr hatte ihr gefallen. Cornelia war schon als Schülerin gerne gereist, war einmal per Anhalter mit einer Freundin nach Spanien gefahren, während ihre Eltern in allen Ängsten waren, Amalie hatte sie damals beruhigt, die werde schon wieder zurückkommen. Später dann hatte sie eine Kunstschule im Ausland besucht, wollte Filme machen und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, der Kontakt mit ihr war in letzter Zeit etwas verloren gegangen, ab und zu war ein Kartengruß von ihr gekommen, von irgendeiner fernen Insel, und jetzt also das.

Amalie nahm einige Postkarten vom Kühlschrank ab, wo sie mit Magneten befestigt waren, und schaute sie einzeln an. »Das ist von ihr, glaub ich«, sagte sie und hielt der Fremden eine Karte hin, auf der das Meer gegen Küstenfelsen brandete, »da war sie am Meer.«

Die Fremde schaute die Karte an. »In Irland«, sagte sie dann und gab sie Amalie zurück, »sie war oft in Irland, davon hat sie mir erzählt. Und wie machen wir jetzt das mit dem Geld?«

Amalie schloss nochmals die Augen, und ihre ganze Familie rief ihr zu: »Nichts geben!« Sogar die beiden kleinen Urenkel schüttelten ihre Köpfe. Einzig Cornelia ganz außen machte ihren Mund nicht auf und winkte ihr bloß zu.

Amalie seufzte. »Warten Sie«, sagte sie und ging in das Zimmer ihres verstorbenen Mannes. Sie machte die unterste Schublade des Schreibtisches auf und zog die Schachtel hervor, auf der groß »Fotos« stand. Zuoberst lag das Familienfoto, das sie schon gesehen hatte, als sie die Augen schloss. Auf einmal schien ihr, Cornelia blicke traurig drein. Unter dem Foto war ein Umschlag, der mit »Hochzeitsreise« beschriftet war, und dort drin bewahrte sie ihr Geld auf. Ihr Mann hatte das so eingerichtet, »gegen die Einbrecher«, hatte er gesagt. Sie öffnete das Couvert und zählte zehn Hunderternoten. Sie steckte den Umschlag in die Handtasche, die auf dem Schreibtisch stand, und machte Schachtel und Schublade wieder zu.

Als sie sich umdrehte, stand die fremde Frau im Türrahmen.

»Es reicht nicht«, sagte Amalie, »ich muss es auf der Bank holen.«

»Ich kann Sie begleiten«, sagte die Fremde.

Eine Stunde später gingen die zwei Frauen über die Aarebrücke. Amalie hatte sich sonntäglich angezogen, wie immer, wenn sie zur Bank ging, ein blaues Deux-Pièces, darüber ihren feinen Regenmantel und den Hut mit der Brosche und der silbernen Feder, dazu ihre große Handtasche. Die Botin von Cornelia hatte sie zwar zur Eile ermahnt, aber Amalie hatte sich nicht beirren lassen. Sie bekomme ihr Geld nur, wenn sie anständig aussehe, sagte sie.

Die Bank lag gleich am Aarequai, und die kraushaarige Frau sagte zu Amalie, sie warte hier auf der Sitzbank auf sie, bis sie mit dem Geld zurückkomme, und Cornelia werde ihr bestimmt unglaublich dankbar sein.

Als Amalie über den Fußgängerstreifen gegangen war und sich nochmals umdrehte, sah sie, dass sich eine zweite Frau zur Fremden gesetzt hatte und sich mit ihr zu unterhalten begann.

 

Es war nicht leicht, dem Mann am Schalter begreiflich zu machen, dass sie 20.000 Euro brauchte, und zwar in bar. Ob er sie fragen dürfe, wofür sie das Geld brauche. Sie überlegte einen Moment, erinnerte sich daran, dass sie niemandem etwas sagen sollte, und fand dann ein Wort, das ihr angemessen schien.

»Privat«, sagte sie.

Er müsse zuerst schauen, ob sie überhaupt so viele Euros da hätten, sagte der Mann, ging nach hinten und kam erst nach einer Weile wieder. Doch, sagte er dann, es gehe, aber falls sie damit ins Ausland fahre, könne er ihr auch einen Teil davon in Reiseschecks mitgeben, das wäre sicherer als Bargeld.

Als sie nichts davon wissen wollte, legte er ihr eine Quittung über 24.225 Franken zur Unterschrift vor. So viel kosteten die 20.000 Euro, die hier in diesem Umschlag bereit seien. Dann zählte er ihr die Scheine ab, vor allem grüne und braune, Scheine jedenfalls, die sie noch nie gesehen hatte, steckte sie in den Umschlag und schob ihn ihr zu.

Lächelnd steckte sie den Umschlag in ihre große Handtasche und sagte, sie habe gar nicht gewusst, dass sie so viel Geld habe.

Sie solle vorsichtig sein, sagte der Schaltermann, und ob vielleicht jemand von ihnen sie nach Hause begleiten könne.

Oh nein, das sei nicht nötig, sagte sie, sie habe schon jemanden.

Aber als sie zur Sitzbank kam, war diese leer.

Amalie schaute sich um, ohne dass sie irgendwo eine rote Bluse sah.

Sie setzte sich und wartete. Es gefiel ihr nicht, dass die Frau, wegen der sie das alles gemacht hatte, einfach verschwunden war. Dabei brauchte Cornelia das Geld, um in Rom aus dem Gefängnis zu kommen.

Sie wartete und wartete und nickte etwas ein.

Als sie erwachte, standen ein Mann und eine Frau vor ihr. Sie seien, sagten sie, von der Polizei, zeigten ihr ein Foto von der kraushaarigen Frau und fragten sie, ob sie diese Person kenne.

Amalie nickte. »Ja«, sagte sie, »seit heute.«

Ob sie sie um Geld angegangen habe, fragten die beiden weiter, und Amalie nickte wieder: »Für meine Enkelin.«

Nun blickten sich die beiden an und nickten. Da habe sie Glück gehabt, sagte der Mann, die Person sei eine Betrügerin. Ob sie mit ihnen auf die Wache komme zu einer Aussage und einer Konfrontation, fragte er weiter.

Amalie war verwirrt. Sie? Zur Polizei? Sie schüttelte den Kopf.

Oder lieber morgen Vormittag?, fragte die Polizistin, das genüge auch noch. Sie sei doch Frau Amalie Ott von der Rosengasse?

Ja, sagte Amalie, etwas erstaunt darüber, dass man sie kannte, ja, das wäre ihr lieber, sie habe heute noch zu tun.

Der Polizist sagte, er erwarte sie in dem Fall morgen um neun Uhr auf dem Posten der Kantonspolizei, gab ihr sein Kärtchen und fragte dann, ob sie sie in die Bank begleiten sollten, um das abgehobene Geld zurückzubringen.

Amalie schloss kurz die Augen und sah sogleich den ganzen Familienchor, der ihr ein einziges »Jaaa!« zuschrie. Aber wieso stimmte Cornelia nicht mit ein, sondern stand einfach stumm am Rand?

»Nein, danke«, sagte Amalie und erhob sich von der Bank, »ich komme schon zurecht.«

»Passen Sie gut auf«, sagte die Polizistin, und: »Das Geld ist am sichersten auf der Bank«, fügte der Polizist hinzu.

Amalie nickte, sagte auf Wiedersehen und ging langsam neben dem bronzenen nackten Mann, der ein bronzenes Pferd besteigen wollte, über die Aarebrücke zum Bahnhof.

In der Mitte der Brücke blieb sie stehen, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest und blickte ins Wasser hi­­nunter. Es war ihr, als trieben alle ihre Gedanken fluss­abwärts. Wer war sie, und wieso stand sie da? Wieso war sie so gut angezogen? War etwa Sonntag?

Sie schloss einen Moment die Augen, aber der Familienchor war verschwunden, und einzig ihre Enkelin Cornelia stand noch da und blickte sie an, ohne etwas zu sagen.

Als sie die Augen öffnete, wusste sie wieder Bescheid. Cornelia war in Rom im Gefängnis und brauchte Hilfe, und niemand aus der Familie durfte etwas davon wissen. Niemand, außer ihr. Ihre Stunde war gekommen, die Stunde der Großmutter.

Am nächsten Morgen um neun Uhr saß sie im Schnellzug nach Mailand und fuhr gerade in Airolo zum Gotthardtunnel heraus. Am Vierwaldstättersee hatte es noch geregnet, jetzt schien die Sonne.

»Oh«, sagte sie zum Herrn gegenüber, »hier scheint ja die Sonne!«

Der senkte die Basler Zeitung, hob kurz den Kopf und sagte dann: »Wir sind ja auch im Tessin.«

Die Frau im Reisebüro der SBB war gestern sehr nett gewesen, hatte ihr genau erklärt, wie sie in Mailand umsteigen müsse und dass sie dann eine Platzkarte im Wagen 24 für den Zug nach Rom habe, wo sie um 13.55 Uhr ankommen werde. Zuvor hatte sie ihre Kundin kurz gemustert und einladend gefragt, ob sie erster Klasse fahren wolle, und Amalie hatte, ohne die Augen zu schließen, genickt. Auch dem Drei-Tage-Arrangement in einem Viersternehotel, einem Sonderangebot der Bahn, hatte sie sofort zugestimmt, hatte die 685 Franken aus ihrem Couvert »Hochzeitsreise« bezahlt und die restlichen 315 Franken umgewechselt, in Lire, hatte sie verlangt und sich dann belehren lassen, dass man in Italien schon lange mit Euro bezahle.

Als sie der Herr gegenüber bei der Fahrt am Luganersee entlang fragte, was sie denn nach Rom führe, musste sie zuerst einen Moment nachdenken, bevor sie sagte: »Meine Hochzeitsreise.«

Ob da nicht der Mann fehle, fragte der Herr, worauf Amalie entgegnete: »Sie sind ja da.«

Der Herr lachte und sagte: »Aber nur bis Mailand.«

Dort half er ihr jedoch beim Umsteigen, trug ihr sogar das Köfferchen und brachte sie in den Wagen 24, wo sie den Sitz Nr. 35 hatte, einen Fensterplatz, wie sie erfreut feststellte.

Neben ihr saß niemand, und erst kurz vor der Abfahrt setzte sich eine korpulente Frau mit mehreren Halsketten auf den Platz vis-à-vis und stellte ein Hundekörbchen auf den Sitz daneben, aus dem ein kleiner Spitz seine Schnauze streckte.

Amalie lächelte zuerst den Hund an, dann die Dame, und die Dame lächelte zurück.

»Ein herziges Hündli«, sagte Amalie, und die Dame nickte.

Als der Zug Mailand hinter sich gelassen hatte, fuhr er in einem Tempo, das ihr kaum Zeit ließ, etwas von der Landschaft zu sehen. Gutshöfe und Pappelalleen flogen vorbei, Kirchtürme und Dörfer tauchten auf und verschwanden wieder, ein großer Fluss wurde überquert, in einer Ebene, die kein Ende nahm, sodass es Amalie nach einer Weile aufgab, aus dem Fenster zu schauen.

Sie öffnete ihre große Handtasche und zog einen Thermoskrug hervor, schenkte sich einen Tee ein, der immer noch dampfte, und wickelte ein Schinkensandwich aus, das sie sich am Morgen gemacht hatte.

Der Spitz blickte begierig zu ihr herüber.

»Darf ich?«, fragte Amalie und zupfte ein Stücklein Schinken ab.

Die Dame nickte, ihre Halsketten blitzten, und der Spitz schleckte Amalie den Schinken von der Hand.

Wieder kam ein Moment, in dem sie sich erschrocken fragte, wo sie eigentlich war und warum sie in diesem rasenden Zug saß und ein Hündchen fütterte. Dann sah sie in ihrer Handtasche das durchsichtige Mäppchen des Reisebüros, auf dem groß das Wort »Roma« zu lesen war, und wusste wieder Bescheid. Was sie allerdings nicht wusste, war, ob sie Italienisch konnte.

Sie machte einen Versuch. Sie zeigte auf den Spitz und fragte die Besitzerin: »Comment il s’appelle?«

Die Antwort kam sofort: »Zorro.«

Bis Bologna wusste Amalie, dass Zorro der Tochter ihrer Sitznachbarin gehörte, dass er drei Wochen bei ihr in den Ferien gewesen war und dass er jetzt nach Rom zurückgebracht werde.

Bis Florenz wusste die andere Frau, dass Amalie auf ihrer Hochzeitsreise nach Rom war, da sie bei der Heirat nach dem Krieg kein Geld dazu hatten und sie bis zum Tod ihres Mannes nicht mehr dazu gekommen waren, und in Rom schließlich wurde Amalie von der Tochter der Frau mit dem Spitz ins Hotel Ambasciatore gefahren.

Schon die Eingangshalle war überwältigend, mit roten Teppichen ausgeschlagen, und mit einem Kronleuchter, der aus einem gewaltigen offenen Treppenhaus herunterhing. Die Dame hinter dem großen Empfangspult war außerordentlich freundlich, als Amalie ihr das Mäppchen vom Reisebüro hinüberschob, und auch mit ihrem Italienisch, das sie sich in ihrem Welschlandjahr als junge Frau angeeignet hatte, kam sie ganz gut durch. »Pour trois jours«, sagte sie, und »Parfait« bekam sie zur Antwort.

Leicht belustigt sah sie zu, wie ein junger Bursche in einer Uniform mit Goldtressen, silbernen Knöpfen und einem kecken Mützchen ihren Koffer ergriff. Sie folgte ihm, und er fuhr mit ihr im Lift in den fünften Stock.

Als sie auf dem ausladenden Doppelbett im Zimmer saß, entglitt ihr die Welt wieder für einen Augenblick, und sie schloss die Augen. Sie sah ihren verstorbenen Mann, jung war er, im Sonntagsanzug trat er zur Kirche heraus, blickte sich suchend um und winkte ihr dann zu.

Sie nickte, öffnete ihre Handtasche und holte den Umschlag hervor, auf dem »Hochzeitsreise« stand. Es war die exakte und schwungvolle Schrift ihres Mannes, und darin waren die Lire, die jetzt Euro hießen. Und auf dem Prospekt, den sie auf das Nachttischchen legte, stand »Rom – die ewige Stadt«. Da war sie also. Erleichtert legte sie sich auf das große Bett und schlief sofort ein.

Beim Aufwachen brauchte sie eine Weile, bis sie sich zurechtgefunden hatte. Die Aussicht aus dem Fenster über die unendlich vielen Dächer und Türme war ihr vollkommen unvertraut, und sie konnte sich so lange nicht erklären, wo sie war, bis sie den Prospekt wieder sah.

»Rom«, sagte sie zu sich, »ich bin in Rom«, und plötzlich wurde sie von einem Gefühl erfüllt, das sie kaum mehr kannte. Es war eine Neugier, eine Unternehmungslust, etwas von ganz früher, wenn es in ein Klassenlager ging oder auf eine Schulreise, als sie noch nicht Amalie Ott war, Mutter zweier Kinder, sondern selbst noch ein Kind, ein Kind, das sich auf das Leben freute. Aber da mischte sich noch etwas ein, auch von früher, es war die Angst vor dem Unbekannten, wie damals, als sie für ein Jahr ins Welschland ging und nicht wusste, was sie dort erwartete.

Doch die Freude überwog. Das Zimmer, in dem sie sich befand, gehörte zu einem Hotel, der Name des Hotels stand auf einem Notizblock neben dem Telefon. Sie riss sich das oberste Blatt davon ab und schob es in die Handtasche. Der Schlüssel steckte innen an der Zimmertür, die Nummer war auf dem Anhänger, der die Form einer Birne hatte. Sie zog den Zettel des Notizblocks wieder heraus und schrieb die Nummer unter die Hoteladresse: 501. Dann verließ sie ihr Zimmer, schloss die Tür ab, ging zu dem großen offenen Treppenhaus, in welchem der Kronleuchter herunterhing, und stieg in die Eingangshalle hi­­nunter.

Von der freundlichen Frau an der Rezeption erfuhr sie, dass Nachtessen und Frühstück im Sonderangebot inbegriffen waren, dass der Speisesaal gleich neben dem Eingang bereits geöffnet sei, und dass man ihr, wenn sie das wolle, für morgen gerne eine Stadtrundfahrt reserviere.

Die nächsten zwei Tage vergingen wie im Rausch. Amalie sah Kirchen, Paläste, Tempelsäulen, Brunnen, Park­anlagen, Kreuzgänge, Dome, sie stand im Kolosseum, sie hörte von den Römern, von Garibaldi und dem Papst, sie sah Gottes ausgestreckten Finger an der Decke der Sixtinischen Kapelle, und es war ihr, als strecke er den Finger nach ihr aus, sie fühlte sich in einer andern Welt, beim Essen hatte sie zuerst geglaubt, die Spaghetti seien die Hauptspeise und konnte fast nicht glauben, dass das Kalbsschnitzel mit der reichen Gemüsegarnitur auch noch für sie war, aber sie aß alles mit großem Genuss auf, trank dazu ein Viertelchen Rotwein, nahm zum Tiramisu einen Kaffee, was sie sonst am Abend nie tat, krönte den Tag mit einem Grappa, ging dann beschwingt in den Lift, den sie bald zu bedienen gelernt hatte, und ließ sich im Zimmer 501 wohlig in das mächtige Doppelbett sinken.

Und die Leute waren so freundlich und verwöhnten sie und sprachen Französisch mit ihr, denn dass das nicht Italienisch war, was sie sprach, hatte sie inzwischen gemerkt. Einmal rannte ihr sogar jemand nach und brachte ihr die Handtasche wieder, die sie in einer Kirche liegen gelassen hatte, und die Kellner waren von einer Höflichkeit, die sie nicht kannte, rückten ihr den Stuhl zurecht, wenn sie sich zu Tisch setzte, und zogen ihn leicht zurück, wenn sie wieder aufstand, sie konnte sich gar nicht erklären, womit sie das alles verdient hatte, so ging man doch sonst nur mit reichen Leuten um.

In den Momenten, in denen ihr nicht klar war, wo sie sich eigentlich befand und was genau sie hierhergeführt hatte, umklammerte sie ganz fest ihre Handtasche, die sie immer mit sich trug, und dann wusste sie es wieder: Sie war auf ihrer Hochzeitsreise, sie holte sie nach, auf Geheiß ihres Mannes, der das Geld im Couvert eigens dafür bestimmt hatte.

Zwar war ihr manchmal, als sei da noch etwas gewesen, eine Art Auftrag, aber sie kam nicht drauf und gab sich ganz dem Genuss ihrer Reise hin.

Am dritten Abend, dem Abend vor ihrer Abreise, gerade als sie ihr Zimmer verlassen wollte, um in den Speisesaal zu gehen, klingelte das Telefon.

Amalie erschrak. Wusste denn jemand, dass sie hier war? Sie zögerte etwas, doch dann drehte sie sich um, ging zum Nachttischchen, hob den Hörer ab und sagte: »Hallo?«

Es war ihre Enkelin Cornelia.

Eine Stunde später betrat diese das Entrée des Hotels Ambasciatore, wo ihre Großmutter auf sie wartete. Amalie stand auf, und sie umarmten sich.

»Du bist schwanger, Mädchen?«, fragte sie, »das wusste ich gar nicht.«

Sie wusste vieles nicht, und sie erfuhr erst, als sie zusammen im Speisesaal des Hotels Ambasciatore saßen, dass man sie zu Hause gesucht hatte und die Polizei herausgefunden hatte, dass sie nach Rom gefahren war, worauf ihre Tochter Cornelia angerufen hatte, da diese seit einem halben Jahr in Rom wohnte. Sie unterrichtete an einer deutschen Schule, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während sie an einem Film arbeitete, der nicht vom Fleck kam. Ihr Mann war Italiener, sie kannte ihn von der Filmhochschule in München, und er war gerade auf einer sizilianischen Insel, um etwas über Flüchtlinge aufzunehmen. Zusammen bewohnten sie hier eine Einzimmerwohnung, was nicht so schlimm sei, weil er sowieso die meiste Zeit nicht da sei, und –

Amalie legte ihre Hand auf die Hand ihrer Enkelin. Es war ihr gerade in den Sinn gekommen, weshalb sie nach Rom gefahren war.

»Und die Sache mit den Drogen?«, fragte sie.

Cornelia zog ihre Hand zurück. »Hat es dir Mama erzählt? Da kannst du beruhigt sein, da bin ich längst wieder raus.«

Amalie schaute sich zu den Nachbartischen um und flüsterte dann: »Warst du lange im Gefängnis?«

Cornelia war baff. »Wie kommst du denn darauf? Ich war überhaupt nie im Gefängnis.«

Und während sie den gemischten Salat aßen, erzählte ihr ihre Großmutter vom Besuch der kraushaarigen Frau und den Folgen.

 

Am nächsten Nachmittag gingen die beiden durch den monumentalen Bahnhof von Mailand. Cornelia hatte Amalie bis dorthin begleitet und brachte sie zum Zug nach Basel, in dem sie ohne Umsteigen bis Olten fahren konnte. Am reservierten Platz hob sie das Köfferchen auf die Gepäckablage hinauf und setzte sich einen Moment ihr gegenüber. »Also«, sagte sie, »ich muss wieder zurück nach Rom. Und denk daran: erst in Olten aussteigen, gell?«

Amalie nickte. »Aber sicher, Mädchen, was glaubst du denn?«

Sie schloss einen Moment die Augen. Dann griff sie in ihre Handtasche, nahm den dicken Umschlag der Bank heraus, der die ganze Zeit zuunterst gelegen hatte, und drückte ihn ihrer Enkelin in die Hand.

»Bevor ich’s vergesse, das ist für dich. Für dich und das Kind. Du kannst es bestimmt brauchen.«

Cornelia zögerte.

Amalie lachte. »Auch wenn du nicht im Gefängnis warst.«

Cornelia zögerte immer noch, da sagte Amalie: »Nimm es ruhig. Mich gibt’s nicht mehr lang. Aber dich.«

Cornelia umarmte sie, dann gingen sie zusammen zur Waggontür.

»Und schick mir eine Anzeige, wenn das Kind da ist!«

Später, als sie am Fuß des San Salvatore am Luganersee entlangfuhr und die Frau gegenüber sie fragte, wo in Italien sie gewesen sei, sagte Amalie: »In Rom. Auf der Hochzeitsreise.«

 

Root Leeb – Fünf Frauen machen eine Reise

 

Nach links

Die Tage sind hell, werden immer wärmer und länger, es juckt sie überall. Das kennt sie gut, es ist keine Allergie, sie muss nur hinaus ins Freie und weit weg.

Sie gehört zu den Frauen, die mit beiden Füßen auf dem Boden stehen und die konsequent ihre Ziele verfolgen. Sie will nach links, das heißt also nach Westen. Obwohl für uns in Deutschland links als politische Richtung eher in den Osten weist. Aber wir halten uns an die Kartografie, die den Norden oben, den Süden unten, den Osten rechts, und den Westen links festgelegt hat. Daran ist nicht zu rütteln. Man würde ja sonst alles durcheinanderbringen. Trotzdem kann ich persönlich, wenn ich mich, aus Versehen vielleicht, nur ein bisschen drehe und dann weiter geradeaus gehe, nicht mehr sagen, in welcher Richtung ich unterwegs bin.

Aber ich bin nicht sie, und sie weiß, wie man die Richtung hält. Zu Lande. Sie wirft in Gedanken einen grünen Faden vor sich aus, bricht am späten Nachmittag in der Mitte Deutschlands auf und läuft mit leichtem Gepäck, guten Schuhen und frohen Mutes zur untergehenden Sonne. Wie ein junger Hund, der zu lange in einem Zimmer festgehalten wurde, tänzelt sie über die Straße, nimmt ihre Spur auf.

Im Westen sei mit wechselhaftem Wetter und Regenschauern zu rechnen, hat sie in den Nachrichten gehört. Sie lässt sich von Wasser nicht abschrecken. Weder von oben noch von unten. Und das ist auch gut so, wenn sie in den Westen will. Denn über kurz oder lang wird sie am Meer enden. Auf jeden Fall früher als bei einer Reise in den Osten.

Schon nach wenigen Stunden ist die Sonne verschwunden, es wird schwarz, kein Mond leuchtet ihr, so muss sie das erste Mal übernachten. Da Frühsommer ist, die Nächte sehr kurz sind und sie bei Sonnenaufgang gleich weiterwill, legt sie sich einfach mit ihrem Schlafsack auf eine Wiese. Da ist sie immer noch, oder schon wieder, in der Nähe des windungsreichen Mains, der ihr Heimatfluss und heimlicher Mississippi ist und der sie, die sich so konsequent von ihm wegbewegt, zu verfolgen scheint. Du musst mir nicht nachstellen, denkt sie, ich komme doch zurück, aber jetzt werde ich mich erst einmal von deinen Armen und Winkeln entfernen. Als es kurz vor Mitternacht heftig zu stürmen und zu regnen beginnt, hüllt sie sich in eine Plastikplane und beschließt, kurz bevor sie einnickt, bei Regen und für lange Strecken doch ein Auto zu benutzen, als Anhalterin.

England

Wellen und Strömungen kennen nur den nautischen Faden und halten sich nicht an festgelegte Himmelsrichtungen. Der Verdacht kommt ihr schon am nächsten Morgen, aber er bestätigt sich erst, als sie viel später sehr weit südlich an Land getrieben wird.

Da ist sie ausgelaugt, hungrig und sonnenblind und will nur noch nach Hause.