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Jürgen Bauer, Das Fenster zur Welt

E-Book

ISBN: 978-3-903061-03-3

 

© 2013, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Alexander Riha

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: Valerie Fritsch

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-25-0

www.septime-verlag.at

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Jürgen Bauer

 

Geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschein sein Buch No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky. Seine journalistischen Arbeiten zu Theater, Tanz und Oper erschienen regelmäßig in internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Jürgen Bauer nahm mit seinen Theaterstücken zwei Mal am Programm »Neues Schreiben des Wiener Burgtheaters« teil. Das Fenster zur Welt ist sein Debütroman. 2014 wurde ihm das Aufenthaltsstipendium für junge deutschsprachige Autorinnen und Autoren des Literarischen Colloquiums Berlin zugesprochen.

 

 

Klappentext

 

Die 80-jährige Hanna wagt nach dem Tod ihrer Mitter einen späten Ausbruch aus ihrem starren Alltag. Beim Speed-Dating lernt sie den jungen, arbeitslosen Schauspieler Michael kennen, der nach der Trennung von seinem Partner den letzten Halt verloren hat. Zwischen dem ungleichen Paar entwickelt sich bald eine Freundschaft, und als Hanna mit dem Auto eine Reise in ihre Vergangenheit antritt, sitzt Michael am Beifahrersitz. Die Fahrt zu Hannas erster Jugendliebe während der turbulenten Wochen nach Kriegsende zwingt Michael, auch in seiner Kindheit nach Antworten zu suchen, denn Hanna kennt auch den Grund, warum seine Mutter ihn bei seinem Vater zurückgelassen hat. Immer deutlicher wird den beiden die Tragweite bewusst, wie einzelne Entscheidungen ein ganzes Leben prägen.

 

 

 

 

Jürgen Bauer

Das Fenster zur Welt

Roman | Septime Verlag

 

 

I

 

 

 

Hanna hatte nie gedacht, dass sie ihre Mutter überleben wird.

Sie stand vor dem schweren Holzbett, in dem der tote Körper lag, der kaum mehr als Haut und Knochen war. Sie schaute in ihre eingefallenen Augen. Was hatte sie sich bloß gedacht? Dass sie den Nachttopf ihrer Mutter bis in alle Ewigkeit ausleeren muss? Immerhin war sie hundert Jahre alt geworden, wenige Wochen vor Hannas eigenem achtzigsten Geburtstag, der kaum einen Monat her war. Langsam lief ihr eine Träne über das Gesicht, die sie aber schnell fortwischte. Sie wollte nicht weinen. Sie hätte natürlich sofort das Bestattungsunternehmen anrufen können, aber nachdem sie bei ihrer Großmutter gesehen hatte, wie unsensibel, hart und rau dort mit Toten umgegangen wurde, wollte sie selbst tun, was zu tun war.

Beim Anziehen des schönen schwarzen Kleides, das ihre Großmutter immer so gemocht hatte, hatte ihr der Bestatter damals die Schulter gebrochen. Hanna konnte sich noch genau an das Geräusch erinnern, den lauten Knacks, der im stillen Schlafzimmer ihrer Großmutter so unbarmherzig geklungen hatte. Der Bestatter hatte gemeint, das sei bei den kalten und steifen Körpern der Toten durchaus üblich, und ihr Großvater, der die ganze Zeit nicht von der Seite seiner Frau gewichen war, hatte versucht, Hanna zu beruhigen, obwohl er selbst um Fassung hatte ringen müssen. Erst jetzt und heute verstand Hanna, aus welchem Winkel seines Herzens er damals die Kraft dafür geholt hatte, aber dem kleinen Mädchen, das sie damals gewesen war, hatte sich das Bersten des Knochens als Geräusch des Todes für immer eingeprägt. Sie hatte sich aus den Armen ihres Großvaters gerissen und war sofort aus dem Zimmer gelaufen. Nein, das sollte ihrer Mutter erspart bleiben. Sie wollte ein letztes Mal das machen, worum sie die letzten Jahre immer gekämpft hatte: ihrer Mutter etwas Würde bewahren. Das war schwer genug gewesen, der Krebs hatte nicht nur ihren Körper zerstört, er hatte auch ihre ganze Persönlichkeit in Beschlag genommen. Als wäre all das, was einen Menschen ausmacht, nicht schwerer als eine Feder, auf jeden Fall so leicht, dass es mit einem Handstreich wegzuwischen, mit dem Windhauch eines Diagnoseblattes einfach fortzuwehen war. Hanna hatte ihre Mutter nur als liebevollen Menschen gekannt, der sie ihre ganze Kindheit über vor dem Vater beschützt und den Kampf mit diesem so viel größeren, stärkeren Mann nie gescheut hatte. Aber in den letzten Jahren war sie härter, unerbittlicher und bösartiger geworden. Hanna hatte ihr nie einen Vorwurf gemacht. Ihre Mutter hatte für so lange Zeit fast unbeweglich im Bett liegen müssen, den Blick starr auf die weiße Decke über sich gerichtet. Den Fernseher hatte sie genauso wenig ertragen wie das Radio. Nur die alten Kinderbücher, die Hanna ihr jeden Abend vorgelesen hatte, hatten ihr bis zuletzt so etwas wie Freude bereitet. Zumindest vermutete Hanna das, hin und wieder hatte sie im zerfurchten Gesicht ihrer Mutter, in dem außer Schmerzen und Leid kaum mehr eine Emotion erkennbar gewesen war, ein Lächeln zu sehen gemeint. Schon Jahre vor ihrem Tod hatte sie zu sprechen aufgehört und Hanna doch deutlich und unverkennbar zu spüren gegeben, dass sie nicht hier sein wollte. Hatte Abscheu ausgedrückt, Ekel vor sich selbst und der eigenen Schwäche, dem eigenen Verfall, nur durch ihre Augen, ihr Stöhnen und ihre Schreie, an die sich die Tochter nie hatte gewöhnen können.

Jetzt räumte Hanna die alten Bücher fort und rückte das Nachtkästchen zur Seite. Sie machte das, was sie die letzten sechs Jahre jeden Morgen um diese Zeit gemacht hatte: Sie machte sich an die Arbeit. Sie holte die kleine Emailwanne mit dem abgeblätterten Blumenmuster aus dem Kasten in der Küche und stellte Wasser auf die Herdplatte. Dann nahm sie den weichen blauen Lappen vom Wäscheständer, den sie noch am Abend zuvor ausgekocht und zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie fühlte den weichen Stoff, den einzigen, der ihrer Mutter nicht wehzutun schien. Sie hatte den Lappen in einem Babygeschäft gefunden. All die Windeln und Fetzen aus dem Krankenhaus hatten ihre Mutter vor Schmerzen aufstöhnen lassen. Aber der weiche Stoff dieses Babytuches war ihr angenehm gewesen und so hatte Hanna ihn behalten, obwohl die Farbe längst ausgewaschen war.

Sie sah sich in der kleinen Wohnung ihrer Mutter um, in der sie jeden Winkel kannte. Nur eine winzige Küche und ein Schlafzimmer, kein Vorraum, kein Badezimmer, auch sonst kein Luxus. Und doch hatten sie hier fast dreißig Jahre gut gewohnt, Wohnung an Wohnung, nur durch eine Gipswand getrennt. Sie fuhr mit dem Zeigefinger in das Wasser, um die Temperatur zu prüfen, und diese kleine Geste ließ sie plötzlich innehalten, diese unscheinbare Bewegung, die ihr die letzten Jahre in Fleisch und Blut übergegangen, zur morgendlichen Selbstverständlichkeit geworden war. Und erst jetzt gestattete sie sich zu weinen. Und von nun an weinte sie die ganze Zeit, ohne es zu merken. Sie weinte, als sie das warme Wasser in die Wanne goss und als sie den blauen Lappen nass machte, als sie die schwere Steppdecke gebückt und stöhnend auf jene Seite des Ehebetts legte, die schon seit langer Zeit leer war. Sie weinte, als sie den Oberkörper ihrer Mutter hochhob, um ihr das Nachthemd auszuziehen, und als sie dabei die schweißigen Haare roch, die Haare einer Bettlägerigen, die so aufwendig im Liegen zu waschen waren. Sie weinte, als sie die schon kalten und ein wenig steifen Arme ihrer Mutter behutsam zur Seite bog, um die Achseln mit dem Tuch zu reinigen. Wann in dieser Nacht war sie wohl gestorben? Hatte Sie geschlafen? War sie noch einmal aufgewacht? Sie weinte, als sie die alte Stoffwindel herunterriss und über die Menge an Scheiße erschrak, die das ganze Bett verschmutzte. Sie weinte, als sie das Wasser wechselte, ihre Mutter langsam und bedächtig fertig wusch, als sie den Kleiderschrank nach dem schönsten Kleid durchsuchte und ihrer Mutter das erste Mal seit sechs Jahren wieder etwas anderes anzog als ein Nachthemd. Selbst die kleinsten Kleider wirkten mittlerweile viel zu groß an ihrer Mutter. Sie weinte schließlich, als sie sich ein letztes Mal von ihrer Mutter verabschiedete, die sie so lange gepflegt hatte, und ihr einen Kuss auf die dünnen, eingefallenen Lippen drückte. Aber sie weinte nicht mehr, als sie das Telefon nahm und ihre Tochter anrief.

 

*

 

Nach so langer Zeit fühlte es sich verboten an, wieder hier zu sein.

Michael öffnete die Tür und trat durch den schweren schwarzen Vorhang. Außer ihm standen noch ein paar Männer im Eingangsbereich, er sah sich um und ging dann direkt zur Kassa, bezahlte den Eintritt und bekam dafür einen Plastiksack. In der Garderobe, einem kleinen Raum mit ein paar Bänken, war nicht viel los. Die letzten Jahre war er nicht mehr hier gewesen und auch davor hatte er sich nur selten in die Schnellbahn gesetzt, um hierher zu kommen. Meistens dauerte die Fahrt länger als sein Aufenthalt. Was auch immer er hier hätte finden können, war auf anderen Wegen leichter zu bekommen gewesen. Er wunderte sich, wie ein Lokal, das doch von seinem Zweck her so viel Aufregung versprach, seinen Eingangsbereich so unspektakulär, fast bieder gestalten konnte. Man kam sich vor wie an der Kinokasse. Michael zog seine Kleidung aus: Schuhe, Jacke, Pullover, Jeans, T-Shirt, Unterwäsche, nur die Socken behielt er an. Dann stopfte er alles in den Plastiksack und zog seine hohen Stiefel wieder an, die hier so beliebt waren. Kurz hielt er inne, blickte an sich hinunter und überlegte: War ihm kalt? Nein, hier wurde auf die Temperatur geachtet, zumindest so viel Entgegenkommen musste sein.

Er ging nackt zur Garderobe und gab den Plastiksack ab. Der Junge dort lächelte bemüht, nahm Michaels Kleidung, trug sie in einen separaten Raum und kam mit einer Nummer zurück, die er Michael in die Hand drückte. Hatte es etwas zu bedeuten, dass der Junge keinen Blick an ihn verschwendete? Er sah doch immer noch ganz gut aus? Verunsichert verbot er sich weitere Gedanken, bedankte sich und ging durch die Tür in den Barraum.

Hier saßen schon einige Männer eng aneinandergedrückt in etwas abgetrennten Kabinen. Andere, weniger unansehnliche, wie Michael bemerkte, lehnten an der Bar oder saßen auf Barhockern und tranken Bier. Michael hatte beinahe schon vergessen, wie lächerlich es aussah, wenn erwachsene Männer nackt nebeneinander aufgereiht standen und so taten, als sei es das Natürlichste auf der Welt, dass andere mitten unter ihnen Sex hatten. Er mochte diese Biederkeit, diese Langeweile. Was dachten sich andere wohl, was hier abging? Natürlich waren alle nackt, natürlich wollten die meisten Sex. Aber das machte das Ganze noch nicht aufregender als das Stammlokal am Eck kurz vor Sperrstunde. Die beiden Männer, die direkt an der Bar ihren Spaß hatten, wurden von den anderen nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Aus Eifersucht? Wahrscheinlich, weil es in Wirklichkeit kein besonders aufreizender Anblick war. Der eine hatte noch sein halb volles Bier vor sich stehen und nahm hin und wieder einen Schluck. Michael hatte es immer abgestoßen, dass die hässlichsten Männer hier völlig selbstverständlich den meisten Sex abbekamen, weil sie nicht darüber nachdachten oder weil es ihnen egal war und sie sich einfach nahmen, was sie wollten.

Michael ging an der Bar vorbei, er war nicht auf ein Bier gekommen. Am Ende des Raumes führte eine Treppe in das Untergeschoß und dort wollte er hin. Am Geländer lehnte ein junger Mann, der jeden begutachtete, der an ihm vorbei nach unten ging. Vermutlich überlegte er, wem er folgen sollte. Das war eigentlich zwar geschummelt, aber was hätte Michael schon sagen sollen. Er drängte sich an ihm vorbei, ging schnell die Stiegen nach unten und schob die Vorhänge zur Seite. Er gab seinen Augen einen kurzen Moment, damit sie sich an die völlige Dunkelheit gewöhnten, tastete sich dann durch den Raum und wartete darauf, im Dunkeln berührt zu werden. Michael versuchte sich vorzustellen, wie das Ganze von außen aussah. Wie eine Verzweiflungstat, um über die Trennung von Ernst hinwegzukommen und um zu vergessen. Es war erst einige Tage her, als Michael nach Hause gekommen war, in die Wohnung, die Ernst in der Zwischenzeit leergeräumt hatte. Oder wirkte das hier eher wie ein Sexrausch, um das Gefühl des tiefen Verlusts durch oberflächliche Reize zumindest für kurze Zeit zu ersticken. Würde er dann nicht heulen und Ernsts Namen rufen, der von den nackten schwarzen Wänden ins Nichts widerhallt? Dramatischer wäre es, nackt aus dem Club in den Regen - es regnete nicht - zu hetzen, nach einiger Zeit stehenzubleiben, völlig nass in den Himmel zu schielen und in Tränen auszubrechen. Schade, dass das mit den Tränen immer schwierig für Michael geblieben war, er konnte einfach nicht auf Stichwort heulen.

Michael war froh, dass es hier so dunkel war und ihn niemand sah oder erkannte. Er war hier, weil er das Gefühl mochte. Das Gefühl der vielen Hände an seinem Körper, der unerwarteten Berührungen, die er im Dunkeln nicht vorhersehen konnte, der überraschenden Reaktionen seines Körpers, die hier noch intensiver waren. Das änderte nichts an seinen Gefühlen Ernst gegenüber, das überdeckte auch nichts, das war schon gar kein Rausch. Es war am ehesten eine Massage, eine Massage mit anderen Mitteln. Er hatte auch kein schlechtes Gewissen, er fühlte sich nicht schmutzig, höchstens ein klein wenig verrucht. Es änderte aber auch nichts daran, dass er Ernst vermisste. Es war eben ein Versuch. Und doch war er nicht völlig bei der Sache, wechselte gelangweilt den Ort, sobald ihn Hände etwas länger berührten. Nach einiger Zeit beschloss er, doch zur Bar zu schauen, und tastete sich langsam zur Tür.

Als sich seine Augen wieder an das spärliche Licht gewöhnt hatten, sah er an der Bar einen nackten Rücken, den er nicht verwechseln konnte. Ernst hatte wirklich nicht lange gewartet, hier schnellen Sex zu suchen, aber es wäre lächerlich gewesen, sich diesen Gedanken an seiner Stelle nicht sofort zu verbieten. Schließlich stand er genauso nackt hier. Ernst lehnte alleine an der Bar und trank Bier. Michael war sich nicht sicher, wie man sich in so einer Situation wohl verhalten sollte. Er überlegte kurz, zum Ausgang zu gehen und hoffte, Ernst würde ihn nicht bemerken, blieb dann aber doch stehen und wartete darauf, was er machen würde. Er war zu neugierig, jetzt einfach zu verschwinden.

Nach einiger Zeit drehte sich Ernst schließlich um und fing sofort Michaels Blick ein, sie blieben beide stehen, machten keinen Schritt aufeinander zu, taten aber auch nicht so, als hätten sie sich nicht gesehen. Michael wollte sich keine Blöße geben. Der Gedanke erschien ihm absurd, schließlich standen sie nackt voreinander, zwei Männer, kurz nach der Trennung. Trotzdem, er wollte etwas Würde bewahren, wie lächerlich dieser Versuch hier auch wirken musste. Er musterte den Mann, der vor Kurzem noch sein Partner gewesen war, von Kopf bis Fuß. Der Anblick des nackten Körpers überraschte ihn völlig und er erschrak über dieses Gefühl. Einerseits kannte er Ernsts Körper, hatte sich in den letzten Jahren völlig daran gewöhnt und auch jetzt rief der Anblick sofort Gerüche und Geschmäcker in ihm wach, die er mit ihm verband. Er konnte nichts dagegen unternehmen, er spürte, wie Ernsts Körper sich an seinem immer angefühlt hatte, und hatte sofort den vertrauten Geruch in der Nase, über die Distanz des Raumes hinweg. Und andererseits erschien ihm der Anblick auch völlig neu und beinahe unheimlich. Der Körper, der ihm in den letzten Jahren fast so vertraut geworden war wie sein eigener, erschien ausgeschnitten und auf diesen Hintergrund geklebt, der ihm eine vollkommen neue Aura gab. Sollten sie sich schämen oder mussten sie ein schlechtes Gewissen haben, war das hier der endgültige Schlusspunkt ihrer Beziehung, die Farce zur Tragödie? Ernst blickte Michael immer noch in die Augen und dann begann er langsam zu lächeln. Es war ein warmes, fast wohlwollendes Lächeln, ein vertrauter Ausdruck, der Michael in seinen Bann zog und ihn schließlich dazu brachte, auf Ernst zuzugehen. Erst nach ein paar Schritten meinte er, auch etwas anderes in diesem Lächeln zu erkennen, ein wissendes Eingeständnis, eine verständnisvolle Herablassung, wie man sie in den Blicken von Eltern auf ihre Kinder oft sah. Doch nun war es zu spät.

»Bist du hergekommen, um mir etwas zu beweisen?«

»Hallo Ernst.«

»Wegen dem Zettel? Bist du deswegen hier?«

Michael wollte sich sofort umdrehen und verschwinden. Er wollte vor dem vorwurfsvollen Ton in Ernsts Stimme davonlaufen, der Aggression und Arroganz zugleich verriet und doch nicht völlig lieblos war.

»Oder bist du hier, um dir selbst etwas zu beweisen?«

Er sprach von dem Zettel, den er ihm hinterlassen hatte. Dem Zettel, den Michael an der Kühlschranktür gefunden hatte, nachdem er in die leergeräumte Wohnung zurückgekommen war, in der er gemeinsam mit Ernst gelebt hatte.

Du machst überhaupt nie etwas.

Ich glaube, du bist gar nicht schwul.

Die zwei seltsamsten Abschiedssätze, die er sich hatte vorstellen können.

»Ich bin nicht hier, um irgendetwas zu beweisen.«

Seltsamerweise hatte er während seiner Beziehung mit Astrid tatsächlich nie etwas vermisst. Die unbändige Lust auf Männer, die er schon früh gespürt hatte, war während seiner Beziehung mit ihr zur tief verborgenen Erinnerung aus Teenagerzeiten geworden und erst nach ihrer Trennung wieder voll hervorgetreten. Erst dann hatte er sich eingestanden, doch schwul zu sein. Aber stimmte das? Gab es nicht genug Männer, die mit Frauen lebten und trotzdem Sex mit Männern hatten? Die beiden Abschiedssätze hatten ihn ganz seltsam berührt. Nicht wegen ihrer Brutalität, auch nicht wegen der Kälte, die aus ihnen sprach, sie hatten ihn berührt, weil sie eine beunruhigende Frage aufgeworfen hatten: Wer war er, wenn ihm nicht einmal sein Körper und dessen Bedürfnisse bewusst waren?

»Ich bin hier, um Spaß zu haben.«

»Kannst Du das überhaupt?«

»Ich hatte ihn bis jetzt.«

Er log.

»Ich habe das Gefühl, du willst unter allen Umständen unglücklich sein.«

»Weißt du, ich kenne wenige Menschen, die solche Sätze so selbstverständlich rausknallen wie du«, sagte Michael.

Im Hintergrund lief ein Song, der nach Plastik klang. Michael kannte ihn nicht, er hatte seit Jahren keine neue Musik mehr gehört, aber so wurde das Gespräch nur noch seltsamer.

»Bist du hingegangen? Hast du mit ihr geredet?«

Er wusste nicht, wovon Ernst sprach.

»Zur Ärztin. Bist du hingegangen?«

Ernst hatte für ihn einen Termin bei einer Psychologin ausgemacht, die er im Internet gefunden hatte. Er hatte Michael wochenlang dazu überreden müssen, bis er schließlich zugesagt hatte.

»Hast du?«

»Was?«

»Mit ihr geredet.«

»Natürlich habe ich mit ihr geredet. Du hast ja schließlich genug dafür bezahlt. Nehme ich an. Aber stehen wir wirklich hier und reden über meinen Irrenarzt?«

»Und?«

»Und was?«

»Was hat die Ärztin gesagt?«

»Fällt das nicht unter die Schweigepflicht?«

Michael quälte sich zu einer freundlichen Geste und zog die Mundwinkel nach oben.

»Ich will nur, dass es dir gut geht.«

Jetzt musste Michael laut lachen. In der Nähe drehten sich ein paar Männer um, obwohl die Musik immer noch aus den Lautsprechern dröhnte. Lautes Lachen war man hier nicht gewohnt, Blicke reichten zur Kommunikation aus.

»Du willst, dass es mir gut geht? Mir geht es wunderbar. Du hast mit mir Schluss gemacht, aber es geht mir wunderbar. Ich komme abends nach Hause und die halbe Wohnung ist leer, aber es geht mir wunderbar, könnte nicht besser gehen. Arbeitslos und alleine in einer Wohnung, von der ich nicht weiß, wie ich sie bezahlen soll. Findest du das nicht auch wundervoll? Einen Zettel am Kühlschrank, sonst nichts. Kein Wort, kein Gespräch, kein Anruf. Du willst, dass es mir gut geht? Kann dir das nicht egal sein, so wenig wie du für mich empfindest?«

»Ich liebe dich.«

Michael blickte ungläubig von einer Ecke in die andere, ließ seinen Blick über nackte Männerkörper streifen, von der Bar zum Ausgang, von der Treppe zum Darkroom bis zur Tür zum Klo. Aber niemand beobachtete sie, glotzte ungläubig oder verstört wegen dieser Worte, die hier sicher noch nie jemand ausgesprochen hatte. Es ging alles seinen gewohnten Gang.

»Du warst die einzige Entscheidung in meinem Leben, die ich nie bereut habe«, sagte Michael.

Im Hintergrund lief jetzt ein alter Madonna-Song. Ernst verzog das Gesicht.

»Das war einfach zu viel für mich, das kann niemand alleine tragen.«

Michael wusste nichts darauf zu antworten.

»Weißt du, was ich mir mehr als alles andere gewünscht habe, die letzten Jahre? Einen stinknormalen Abend.«

»Ich wollte nichts anderes.«

Jetzt log Michael nicht. Es war das, was er gewollt hatte. Immer noch wollte. Aber es war offenbar nicht das, was er konnte. Ernst schnaufte. Es klang wie Husten. Michael sah ihm in die Augen.

»Ich hätte einfach besser spielen müssen«, sagte er.

»Spielen?«

»Spielen. Glücklich sein spielen. Und irgendwann klappt das. Wie im Theater. So lange tun als ob, bis irgendwann eine echte Emotion entsteht.«

»Du hättest so viel ändern müssen. Anders machen.«

»Ich hätte doch auch einfach spielen können, dass sich alles geändert hat. Ich war einfach zu ehrlich mit dir.«

»Ich bin nicht dein Publikum.«

Michael versuchte zu weinen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte keine Emotion in sich finden, nichts, das diese Tränen aus ihm herauspressen konnte. Da war nur dieses dumpfe Gefühl, diese Schwere unter den Augen. Ernst wandte sich ab.

»Ich wollte nur mal wieder einen normalen Abend. Wie früher. Nichts Spektakuläres, keinen Liebesbeweis. Einfach einen normalen Abend mit dir. Aber jeder Abend, egal wie er begonnen hat, ist irgendwann einfach abgebogen, völlig undramatisch. Aus dem Ruder gelaufen. Und ich konnte nichts dagegen machen. Gar nichts. Ich war einfach hilflos.«

»Und ich war schuld. Wie immer.«

Michael wusste, dass er schuld war. Doch diese Schuld war ihm immer erst im Nachhinein bewusst geworden. Zu spät. Erst dann war ihm klar geworden, welchen Anteil er daran gehabt hatte. Er hatte Ernst auflaufen lassen. Immer wieder. Nicht aus Bosheit, nicht aus Lust am Streit, auch nicht aus Ärger oder Wut, sondern schlicht aus Unfähigkeit, es anders zu machen. Wie oft war er mit Ernst am Tisch gesessen und hatte sein Lächeln bemerkt, das ihm wie neu vorgekommen war. Der Anblick hatte ihn jedes Mal völlig unvorbereitet getroffen, dieses breite, einnehmende Lächeln vollkommen ohne Ironie, mit einer Offenheit, die keinen Hintergedanken und keine Bösartigkeit kannte. Dieses Strahlen im Gesicht, in das er sich sofort verliebt hatte, damals. Als alles einfach gewesen war, unkompliziert und mühelos. Wie oft hatte er etwas Nettes sagen wollen, nur eine Kleinigkeit, mehr wäre nicht nötig gewesen. Und wie oft hatte er dann doch etwas anderes gesagt. Etwas, das, kaum ausgesprochen, nicht mehr zurückzunehmen war, so sehr er auch wollte. Wie konnte man, wenn man sich selbst so genau vor Augen sah und wenn man wusste, was man wollte und welche Zeichen und Taten man dafür setzen müsste, doch so entgegen all dem handeln, was man fühlte?

Michael sah zu Boden, wie ein kleines Kind, das bei einer Lüge ertappt wird. Immer wusste er, welchen Anteil er an einem Streit, an einem verletzten Schweigen hatte. Und niemals konnte er anders handeln. Wie würde er das beschreiben? Als führerlosen Zug? Als Auto, bei dem die Bremse nicht funktioniert? Michael sah Ernst an. Es war ihm beinahe unheimlich, wie ähnlich sie sich in all den Jahren geworden waren: die kurzen Haare, die am Hinterkopf schon etwas weniger wurden, der Dreitagebart. Sie hatten sogar dieselbe Haltung eingenommen. Wie Hund und Herrchen, dachte er.

»Du hättest irgendetwas gebraucht. Eine Perspektive«, sagte Ernst.

Michael wusste das.

»Einen Ausblick. Irgendetwas Neues. Aber du hast einfach nichts gemacht. Gar nichts. Alles abgesagt und dich zurückgezogen. Wir haben ja nicht einmal mehr miteinander geschlafen. Warum glaubst du, habe ich dir diesen Satz geschrieben?«

Er fühlte sich ertappt.

»Wir hätten einfach einen Neuanfang gebraucht.«

Auch das war ihm klar. Und dennoch, was hätte er erwidern sollen, außer:

»Ich weiß schon, was ich brauche. Das musst du mir nicht sagen. Du bist nicht mehr in meinem Leben.«

»Ich habe dich vermisst«, sagte Ernst.

»Ich war immer da«, antwortete Michael.

»Du hast mich runtergezogen. Mich und dich. Wegen nichts. Ich habe versucht, das zu verstehen. Dich zu verstehen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben.«

Das hatte er und Michael nickte.

»Aber es ging nicht. Ich bin nicht dahintergekommen. Wie du tickst.« Es wurde schwerer und schwerer, Ernst weiter zuzuhören.

»Ich habe dir Zeit für dich gegeben. Es hat nichts genützt. Ich war bei dir. Ich war verständnisvoll. Ich war hart. Ich habe einen Urlaub gebucht. Es hat nichts genützt. Ich habe eine neue Wohnung gesucht. Immer dasselbe.«

Michael wusste, dass Ernst recht hatte, und dennoch war er trotzig, verärgert.

»Aber du wolltest nicht das Leben mit mir leben, das mich glücklich gemacht hätte. Du willst mich nur fertig machen. Das ist dein einziges Ziel. Sogar jetzt noch.«

»Kannst du dir vorstellen, dass es Menschen gibt, die einfach nur glücklich sein wollen? Warum konntest du dir das nicht erlauben?«

Michael wollte etwas sagen, aber er konnte sich nicht dazu durchringen.

»Hat sie dir geholfen?«

»Wer?«

»Die Ärztin.«

»Ich bin nicht reingegangen. Ich bin davongelaufen, als sie meinen Namen aufgerufen haben.«

Michael wollte nur mehr seine Kleidung zurück. Er fühlte sich nackt.

 

*

 

»Du musst das auch mal als Chance sehen.«

»Ich muss es als Chance sehen, dass Oma tot ist?«

Hanna saß neben ihrer Tochter Ilse im Auto und versuchte, alle Dokumente in ihrer Handtasche zu finden, die sie am Morgen hineingeschlichtet hatte. Hoffentlich hatte sie nichts vergessen.

»Du verdrehst mir die Worte im Mund.«

»Was gibt es da zu verdrehen? Du hast gesagt: ›Du musst das auch mal als Chance sehen‹.«

»Dass du jetzt auch wieder Zeit für dich hast.«

»Weil Oma tot ist.«

»Ja, weil Oma tot ist. Meine Güte! Immerhin hat sie ein ganzes Jahrhundert gelebt.«

»Und was soll das heißen? Dass es dann einmal reicht?«

Ihre Tochter sagte kein Wort mehr. Dass das Auto immer noch fuhr, überraschte Hanna jedes Mal aufs Neue. Sie hatte sich das Gefährt vor fast zwanzig Jahren gekauft, es dann aber kaum benutzt. Damals, schon lange nach der Scheidung, hatte sie sich eingebildet, den Führerschein machen zu müssen. Schließlich würde sie nun niemand mehr herumkutschieren. Den Schein hatte sie erst nach mehreren Monaten Fahrschule und etlichen Anläufen zur Prüfung bekommen. Sie wusste, ihrem Fahrlehrer war damals noch unwohler gewesen als ihr. Gleich danach hatte sie sich dieses riesige Auto einreden lassen, das ihr schon damals Angst eingeflößt hatte und für das ihr bisschen Geld auch nicht wirklich reichte. Ilses Mann hatte gemeint: je größer, desto sicherer. Offenbar hatte ihr Schwiegersohn nach diversen Probefahrten mit ihr auch seine eigenen Vorstellungen von ihrem Fahrstil entwickelt. Sie hatte dann widerwillig Geld von ihrer Tochter angenommen, Ilse hatte darauf bestanden. Das Einzige, das sie damals selbst entschieden hatte, war die Farbe gewesen, ein rotes Auto sollte es in jedem Fall werden. Sobald das Auto aber vor dem Haus gestanden war, hatte Hanna es nicht mehr benutzen wollen. Zuerst hatte sie sich von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn noch zu kleinen Ausfahrten überreden lassen, doch als sie eines Tages an der Kreuzung ein parkendes Auto geschrammt hatte, hatte sie entschieden, ihre Autofahrerkarriere aufzugeben, bevor Schlimmeres passieren konnte. Sie hatte das Auto ihrer Tochter geschenkt, die es seither begeistert fuhr. Hanna stellte die Handtasche auf den Boden und krallte sich an der Halteschlaufe fest.

»Musst du dich schminken, während du fährst?«

»Du hattest es ja so eilig. Da bin ich zu Hause nicht dazu gekommen. Hier, für dich.«

Ilse drückte Hanna etwas in die Hand.

»Was ist das?«

»Schminkzeug. Du siehst ganz verheult aus.«

»Rate mal, warum.«

Ihre Tochter rollte mit den Augen. Das hatte sie schon als Kind gemacht, es passte aber so gar nicht zu jener erwachsenen Frau, die jetzt neben Hanna saß.

»Aber das müssen die doch nicht sehen.«

»Das ist ein Bestattungsunternehmen. Wenn die keine Tränen sehen wollen, sind sie im falschen Beruf.«

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Was hast du denn dann gemeint?«

»Dass man sich nicht so gehen lassen muss. Man kann doch trotzdem ein bisschen auf sich achtgeben.«

»Gut aussehen. Auch wenn Omi tot ist.«

Ilse trug ein enges dunkelblaues Kleid, zu Schwarz hatte sie sich wohl nicht durchringen können, dachte Hanna. Für ihren Geschmack war das Kleid auch um einiges zu tief ausgeschnitten, aber sie hatte sich auf die Lippen gebissen und nichts gesagt, sie wollte heute nicht erneut einen Streit beginnen. Hanna sah aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Bäume. Den Bestatter hatte sie im Telefonbuch gefunden, und auch wenn sein Büro etwas außerhalb lag, der Name war ihr sympathisch erschienen. Der Wald war schon etwas grün, obwohl es dafür eigentlich noch viel zu früh war. Ilse schnaufte.

»Wenn du unbedingt streiten willst, ich nehme es dir nicht übel. Jeder reagiert anders auf so etwas.«

»Aber ich will doch nicht streiten.«

»Peter sagt, ich muss geduldiger mit dir sein.«

»Ich bin doch kein kleines Kind!«

»Das hat ja auch niemand gesagt. Du …«

»…verdrehst mir nur die Worte im Mund, ich weiß.«

»Dass du immer gleich so eingeschnappt sein musst, Mama.«

Hanna schaute wieder auf die Bäume vor dem Fenster.

»Ich habe immer ›Mutti‹ zu ihr gesagt, nie ›Mama‹. Wo man so etwas wohl her hat?«

Ilse war immer noch nicht fertig, sich zu schminken. Hanna fand, sie sah mittlerweile aus, als wolle Sie auf einen Ball gehen, nicht zu einem Bestatter.

Hanna wusste, dass das, was jetzt kam, schwierig werden würde. Sie wollte nicht streiten, sie wollte Ilses Hilfe. Sie räusperte sich. Wie sollte sie beginnen?

»Ich möchte zu Johannes fahren.«

Vielleicht war es am besten, ganz direkt zu sein. So hatte sie es bisher immer gehalten.

»Das klingt vielleicht seltsam, aber seitdem Oma tot ist, denke ich dauernd daran. Es ist so lange her, dass ich ihn gesehen habe. Und wann, wenn nicht jetzt? Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche jemanden, der mit mir fährt.«

Ilse unterbrach sie.

»Was möchtest du?«

»Johannes besuchen. Ein letztes Mal. Ich habe dir von ihm erzählt, erinnerst du dich? Ich traue mich nicht, alleine zu fahren.«

»Der ist doch sicher längst tot.«

»Sein Name steht noch im Telefonbuch.«

»Also ist es doch eine Chance, dass Oma tot ist. Nur darf ich es nicht aussprechen.«

»So habe ich das nicht gemeint.«

Hanna sollte wohl besser nichts mehr sagen. Es war wahrscheinlich einfach nicht der richtige Zeitpunkt, und als sie sich nach unten beugte, um die Handtasche zu nehmen, ging alles plötzlich ganz schnell. Sie hörte Ilse noch schreien, einen kurzen, fast atemlosen Schrei, dann ein lauter Quietscher, ein dumpfer Schlag und das Auto drehte sich, blieb aber erstaunlich schnell wieder stehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Hanna ihre Tochter.

»Was um Himmels Willen war das?«

»Ein Hirsch.«

Hanna konnte ihn in einiger Entfernung noch weglaufen sehen.

»Plötzlich war da ein dunkler Fleck, ich habe noch gebremst, aber … glaubst du, es ist ihm etwas passiert?«

»Er konnte zumindest noch laufen.«

»Ich meinte das Auto, Mama.«

Hanna kurbelte das Fenster hinunter und blickte nach vorne.

»Eine kleine Delle. Nichts Schlimmes. Du scheinst ihn nur leicht getroffen zu haben.«

Ilse wollte sich offenbar nicht selbst davon überzeugen.

»Das passiert hier öfter. Kannst du dich noch erinnern, als wir mit deinem Vater mal durch den Wald gefahren sind und eine ganze Wildschweinfamilie über die Straße spaziert ist?«

»Nein.«

Ilse zog den Schlüssel ab.

»Nein, ich kann mich nicht mehr erinnern.«

»Das war kurz vor der Scheidung. Eine Wildsau und fünf Frischlinge, du wolltest unbedingt aussteigen und sie streicheln, aber dein Vater hatte nur Angst, dass die Sau das neue Auto attackiert. Da hatten wir gerade unseren weißen Käfer, den du immer als Spielplatz benutzt hast, mit deinen Freundinnen. Ihr habt Urlaub gespielt und euch vorgestellt, ihr würdet mit dem Auto in ferne Länder fahren.«

Hanna strich Ilse über die Wange.

»Aber jetzt wein’ doch nicht.«

»Wir sollten fahren, sonst verpassen wir den Termin.«

»Oma hat es nicht mehr eilig.«

 

*

 

Als Michael zurück in die Wohnung kam, fiel sein Blick sofort wieder auf jene Stelle, an der die Schuhe fehlten. Es war das erste Zeichen gewesen, dass er von nun an wieder allein sein würde. Ernst hatte nie viel Geld für Kleidung ausgegeben, aber schöne Schuhe waren ihm immer wichtig gewesen. Jedes Mal, wenn Michael nun die Eingangstür öffnete, blieb sein Blick sofort an der leeren Stelle am Boden hängen: Ernsts schwarze Halbschuhe, seine hohen braunen Lederstiefel, die ausgetretenen Doc Martens, die er nicht wegschmeißen konnte, seine Hausschuhe und die unzähligen Sneakers. Alle weg. Plötzlich sahen Michaels Schuhe ganz verlassen aus.

Er warf seine Tasche in die Ecke und hängte seine Jacke an den Türgriff, er atmete einmal kurz durch und öffnete dann die Tür zum Wohnzimmer. Auf den ersten Blick war alles wie immer und es war dieser ganz alltägliche und gewohnte Anblick gewesen, der ihn damals so getroffen hatte. Kein halbleeres Wohnzimmer, in dem die Lücken und Schatten mitgenommener Möbel sofort zu sehen waren und in dem klar war, an welchen Stellen Ernst fehlte. Es war ihr gemeinsames Wohnzimmer geblieben, der altbekannte Raum. Michael musste tatsächlich genauer nachsehen, musste die Laden und Regale durchwühlen, wenn er sehen wollte, wie Ernst aus seinem Leben verschwunden war. Die Bücher in Ernsts Hälfte des Bücherregals standen immer noch da, er wird sie nicht mehr abholen. Die Musiksammlung aber war weg, auch der Drucker, den Ernst gekauft hatte. Die Obstschüssel fehlte und ebenso der Polster mit dem Blumenmuster, den Ernst nach dem Tod seiner Großmutter aus deren Wohnung mitgenommen hatte. Im Schlafzimmer fehlte seine Kleidung, in der Küche aber brauchte Michael nicht nachzusehen, Küchengeräte hatte Ernst nie besessen. Sogar die Schmutzwäsche im Badezimmer hatte er damals mitgenommen, nur ein einziges T-Shirt am Wäschekorb hängen gelassen. Er war sich nicht sicher, ob Ernst ihm das Shirt absichtlich dagelassen hatte oder ob es beim schnellen Einpacken einfach unabsichtlich liegen geblieben war. Er hatte das Shirt damals sorgfältig zusammengefaltet und im Schlafzimmer unter der Matratze versteckt. Nur für den Fall.

Er setzte sich auf das Bett und, als sein Blick auf den halbleeren Schrank in der Ecke fiel, begann er endlich zu weinen. Er hatte nicht geweint, als er das erste Mal in die ausgeräumte Wohnung zurückgekommen war. Er hatte seitdem nicht geweint. Jetzt erst das sichtbare Zeichen seiner Gefühle, die er bisher niemandem hatte begreiflich machen können. Es war, als hätte ihm Ernst erst jetzt einen Grund für seine Trauer geliefert.

Die Monate vor ihrer Trennung hatte er versucht, mit Ernst zu reden, sich ihm zu erklären, obwohl er sich selbst nicht verstand. Je mehr Ernst versucht hatte, ein normales und glückliches Leben zu führen und Dinge zu tun, von denen er wusste, dass Michael sie mochte, je liebevoller er zu ihm gewesen war, je verständnisvoller, desto wütender war Michael geworden, da es offenbar an ihm und nur an ihm alleine lag, dass nichts davon Wirkung zeigte, dass nichts davon etwas daran änderte, wie leer er sich fühlte. Und umso verzweifelter Ernst geworden war, umso verbissener er versucht hatte, etwas zu finden, womit er Michael erreichen konnte, umso verschlossener und aggressiver war Michael geworden. Er hatte begonnen, sich dafür zu hassen. Und als Ernst endgültig gegangen war, hatte er sich noch stärker gehasst, hatte er die Aggression gegen sich noch intensiver gespürt. Doch jetzt fühlte er keinen Hass mehr, nur Trauer. Als hätte ein lang anhaltender Schmerz endlich aufgehört. Nach einiger Zeit wischte sich Michael die Tränen mit der Bettdecke ab, stand auf, nahm sein Telefon und wählte.

»Elvira, ich brauche neue Sachen.«

 

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»Wir waren beim Bürgermeister, wegen einer neuen Wohnung für dich.«

»Ilse, nicht jetzt.«

»Schau dir doch an, wer noch in deinem Haus wohnt. Und das Klo am Gang, Mama. So kann es nicht weitergehen. Die bauen neue Wohnungen, gleich gegenüber, da musst du nicht weit wegziehen und kennst die Gegend.«

»Ein anderes Mal, bitte.«

»Er meinte, die Gemeinde kann dir da finanziell unter die Arme greifen, da findet sich schon ein Weg. Bitte.«

»Das ist wirklich nicht der richtige Ort.«

Gerade hatten sie den Sarg aus der Aufbahrungshalle geschoben. Hanna hatte ein schönes, helles Modell ausgesucht. Es hatte nicht zu teuer sein dürfen, aber in Pappe sollte ihre Mutter auch nicht begraben werden. Hanna ging hinter dem Sarg, Ilse neben ihr an ihrem Arm. Ihr Mann und die Kinder folgten direkt dahinter. Alle Bekannten waren schon vor ihr gestorben. Eine Freundin Hannas, die sie seit Jahren kaum mehr gesehen hatte, versuchte auf Krücken Schritt zu halten.

»Darüber reden wir später.«

»Das sagst du immer und jedes Mal weichst du dem Thema aus. Die neuen Wohnungen haben Bad und Dusche, Warmwasser und Zentralheizung. Dann musst du auch nicht mehr dauernd Holz in die Wohnung schleppen, wir sind doch auch nicht immer da. In deinem Alter.«

Schon die Rede des Pfarrers in der Aufbahrungshalle war schmerzlich kurz gewesen und hatte eigentlich nur mühselig jene paar Punkte miteinander verbunden, die Hanna vor der Zeremonie auf einen Zettel geschrieben hatte. Sie machte dem namenlosen Pfarrer keinen Vorwurf, er war erst in ihre Gemeinde gekommen, als Hannas Mutter schon lange bettlägerig gewesen war, und Hanna selbst hatte nie an so etwas glauben können. Seit sie auch nicht Taufpatin ihrer Enkelin hatte sein dürfen, hatte sie keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt.

»Wie soll ich mir das denn leisten können?«

»Der Bürgermeister meinte, es wäre eine Schande, dass du überhaupt noch dort wohnst. Du hast doch jahrelang für die Gemeinde geschuftet, jetzt können sie auch was für dich tun.«

Mittlerweile näherte sich der Leichenzug dem Friedhof. Die Mitarbeiter der Bestattung hatten sichtbar Mühe, den Sarg über den Kiesweg zu schieben. Die zwei Ministranten trotteten neben dem Pfarrer her, der offenbar ein Gebet murmelte, Hanna konnte ihn nicht verstehen.

»Ich habe noch nie Hilfe gebraucht. Ich lasse mir doch nicht vom Bürgermeister eine Wohnung zahlen. Wo kommen wir denn da hin?«

»Mama, bitte. Du bist achtzig.«

»Außerdem habe ich immer für alles selber gearbeitet. Und noch nie von jemandem Geld genommen. Ich konnte mir kein Kostüm für dich leisten, als du als kleines Kind auf den Maskenball gehen wolltest, also habe ich eben selber eines genäht.«

»Nicht das wieder. Das hat doch damit gar nichts zu tun.«

»Ich habe Stricken gelernt, weil die Wolle billiger war als fertige Pullover. Als ich nach der Scheidung kein Geld hatte, bin ich wieder arbeiten gegangen. Ich habe immer für mich selbst sorgen können.«

»Weil du stur bist. Du hättest schon damals auf deinen Unterhalt bestehen sollen.«

Ilse ließ Hannas Arm los, die auf dem Kies unsicher weiterging.

»Ich wollte deinen Vater nicht mehr sehen und schon gar nicht wollte ich um sein Geld streiten. Er hat nicht gezahlt und was hätte ich tun sollen?«

»Ihn verklagen.«

»Wie naiv bist du eigentlich?«

Die Mitarbeiter der Bestattung stellten den Wagen neben dem schmiedeeisernen Eingangstor ab und hoben den Sarg an, auf den engen Wegen des längst viel zu kleinen Friedhofs kamen sie offenbar nur zu Fuß voran. In den letzten Jahren war er einige Male erweitert worden, Hanna hatte es in der Gemeindezeitung gelesen. Menschen sterben eben.

Schwer konnte der Sarg nicht sein, ihre Mutter hatte am Ende kaum mehr etwas gewogen, Hanna hatte sie jeden Tag gewaschen und sogar sie hatte sie anheben können.

»Trotzdem, du hättest schon viel früher ausziehen sollen.«

»Und Oma mitnehmen, in ihrem Zustand?«

Hanna war etwas außer Atem.

»Wir hätten das Pflegeheim doch bezahlt.«

»Man weiß doch, wie die mit alten Menschen umgehen. Da hätte ich sie lieber sterben lassen.«

»Mama!«

Mittlerweile waren sie am Grab angekommen, am Grabstein stand verblichen der Name von Hannas Vater. Die Steinwand dahinter war komplett mit Efeu überwuchert. Auf der anderen Seite dröhnten die Autos auf der Schnellstraße vorbei. Ruhe in Frieden stand am Grabstein.

»Du hättest mir ja auch helfen können. Genug Zeit hättest du gehabt.«

»Und jeden Tag der lange Weg? Ich habe doch das Haus und die Kinder.«

»Die Kinder sind längst erwachsen, Ilse. Ich musste mich auch um dich kümmern und habe trotzdem immer gearbeitet. Und ich war alleine.«

»Geht das wieder los? Ja, du hast gearbeitet und gekämpft, ich weiß. Aber ich bin eben nicht du. Außerdem kommen wir gut aus mit dem Geld, das mein Mann verdient.«

»Man arbeitet doch nicht nur für Geld.«

»Ich dachte, es geht um Oma, nicht um mich.«

Die Bestatter stellten den Sarg auf die dicken Holzbretter, die über der ausgehobenen Grube lagen, und zogen dicke Seile darunter durch. Dann traten sie zur Seite.

»Außerdem weißt du, dass ich Oma so nicht sehen konnte. Und der Geruch, ich weiß nicht, wie du das ausgehalten hast.«

»Nicht jetzt, nicht hier.«

Hanna trat ans Grab, hob die kleine Schaufel mit Erde und verabschiedete sich von ihrer Mutter. Sie überlegte kurz und sagte nur: »Mach’s gut.«

 

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