Thomas Christen

Die Abendgesellschaft der Quartiersleute

Hamburger Generationenroman

Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.

Thomas Morus

Drei Herren I

Fährmann? Fährmann! Ist er der Fährmann? Die Stimme kommt von oberhalb der kleinen grasbewachsenen Erhebung, hinter der der Fluss verläuft, bevor er weiter unten ins Meer mündet. Eigentlich klingt sie nicht wie eine Stimme. Eher so, als habe der Wind zu sprechen gelernt und übe in einer höheren Lage. Er beschattet die Augen und sucht den Horizont ab, schaut zu den Strandkiefern auf dem Hügel hinauf, von wo er glaubt, dass der Wind ihn angesprochen hat. Dort oben steht wirklich jemand, den Arm in den Himmel gestreckt und mit einem Hut wedelnd. Unwillkürlich schaut er über seine Schulter, aber er weiß, dass hier niemand außer ihm ist. Fährmann? Seit wann ist er der Fährmann? Er wirft einen kurzen Blick auf das Ruderboot am Steg, der vom Strand einige Meter ins Wasser führt und zuckt dann mit den Schultern. Fremde. Jetzt sind es schon zwei, nein, sogar drei Gestalten, die aus dem Schatten der Bäume treten und ganz langsam den schmalen Pfad herunterkommen. Azurblauer Himmel, silbrig-grüne Nadelquaste, weiße sandige Adern im Hang und diese drei Fremden. Es sieht aus, als sei ein Gemälde Claude Monets gerade dabei, lebendig zu werden. Mit jedem Schritt, den die drei Männer näher kommen, kann er sie besser erkennen. Der eine ist klein und rundlich, trägt eine ziemliche Plauze vor sich her und in der rechten Hand einen Zylinder. Die beiden anderen sind schmal, einer fast dürr und recht groß, mit einer Frisur und einem Backenbart, die aussehen, als würde er täglich einen kapitalen Stromschlag erhalten. Auch sie tragen Zylinder in den Händen, und als sie ihn fast erreicht haben, legen sie ihre Finger kurz an die Stirn und grüßen wortlos. Samtwesten mit Silberknöpfen, Lederschürze, und am Gürtel des Dicken rasselt bei jedem seiner Schritte ein Schlüsselbund. Ein seltsames Trio.

Er ist der Fährmann, nicht wahr? Sehr fein, sehr fein. Und dann blickt der Mann zum Boot hinunter und meint: Und das Gefährt liegt schon bereit. Sehr fein.

Er macht den Mund auf und will etwas erwidern, aber da hält der Pralle ihm schon ein Goldstück unter die Nase und er kann nur die Augen aufreißen und den Mann ungläubig anschauen. Ja, er ist der Fährmann! Dafür hätte er sich ohne zu zögern auch für vieles andere zur Verfügung gestellt.

Sagen Sie nicht, dass das zu wenig ist, knurrt der Dicke lächelnd und setzt seinen Zylinder auf. Das dort ist nicht der Styx, Sie sehen nicht aus wie Charon, vor allem aber, und er deutet hoheitsvoll auf sich und seine beiden Kollegen, sind wir nicht tot!

Was für Sätze! Er versteht kein Wort!

Wie heißt er, junger Mann? Nenn er uns seinen Namen.

John, antwortet er leise und lässt die Münze in seine Westentasche rutschen. John Buttger, und dann gehen sie im Gänsemarsch zum Boot, wo er die Riemen in die Holme legt.

Dr. Fama hatte natürlich völlig recht. Sie ist und bleibt eine Quelle göttlicher Offenbarung.

Immer wieder tauchen die Ruderblätter leise klatschend ins Wasser ein, in einem schläfrigen Rhythmus, der die Unterhaltung der drei Fremden untermalt.

Wir dürfen nicht müde werden, uns stets deutlich zu machen, dass sie zum Aufbau der Zukunft unerlässlich ist. Wir sind quasi Erben und führen ein in der Vergangenheit begonnenes Werk weiter. Die beiden Schmalen schweigen, nicken aber zustimmend. Und wie Dr. Fama sagte: Es gilt, standhaft zu sein, gegenüber Ruch- und Gewissenlosigkeit eines revolutionären Ungeistes. Haben Sie mitbekommen, meine Herren, was diese jungen Spunde in ihrer zeitgeistigen Umnachtung gefaselt haben? Sie wollen die Arbeit ganzer Generationen über den Haufen werfen, weil sie wahrhaftig davon ausgehen, der Menschen Heil und Segen dadurch hervorbringen zu können, dass sie jegliche Art von Kontinuität ablehnen. Als könne man jeden Tag bei Null anfangen.

Wieder nicken die beiden anderen, und der Mann mit der Drahtfrisur spitzt die Lippen und beginnt dann zu rezitieren: Undankbar der Sohn, der gedankenlos verwirft, was der Vater ihm gegeben. Achtung, sie erhält und strebt, das Bewährte in die Zukunft einzupflegen.

Dieses Mal hebt der Dicke den Zeigefinger und nickt. Alles verirrte Individualisten mit erschreckend übersteigertem Freiheitsdenken. Sie werden noch erleben, was sie davon haben.

Eine Weile sitzen sie schweigend auf ihren Bänken und starren hinaus aufs Wasser. Der Arm des Dicken hängt über der Reling und seine Finger zerschneiden lautlos die Oberfläche der sanften Wellen.

Vom Guten der Vergangenheit zu singen, heißt, stets das Kind von falschen Wegen abzubringen. Der Lange zieht seinen Zylinder und wischt sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.

Ich hätte es nicht besser sagen können, antwortet der Schmerbauch und nimmt die Hand aus dem Wasser. Vergangenheit und Gegenwart sind Partner im Aufbau einer edlen Zukunft. Wie Vater und Sohn, Großvater und Enkel. Quod a patribus acceperunt, hoc filiis tradiderunt. Der eine spricht und der andere hört zu, zum Wohle aller, des Fortschritts und der Nachwelt.

Langsam treibt das Boot auf den Steg zu. Er legt die Riemen längs und springt hinaus, um den Bug an einer Bohle festzumachen.

Habt Dank, John Buttger. Sie waren uns ein zuverlässiger Kapitän. Wir kommen wieder. Noch einen schönen Tag.

Er sieht ihnen nach, wie sie hintereinander die Böschung hinauflaufen und zwischen den Bäumen verschwinden. Leise verklingt das Rasseln des Schlüsselbundes.

Eins