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Anna-Maria Wallner

Blinde Liebe

Was Blinde über Liebe wissen

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag / edition a, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Blinde Liebe - Was Blinde über Liebe wissen 

ISBN: 978-3-99041-803-1 

Anna-Maria Wallner - Einleitung

 

Wie funktioniert Liebe auf den ersten Blick, wenn man nichts sehen kann?

 

Mit einer Sehkraft von fünf Prozent und darunter gilt man in Europa als vollständig blind. Wie viele Menschen in Österreich an einer Sehschwäche oder vollständiger Erblindung leiden, ist nicht exakt bekannt. »Wir können nur mit Schätzungen arbeiten«, sagt Martin Tree vom Österreichischen Blindenverband. Im Behindertenbericht 2008 waren 318.000 Sehbehinderte und Blinde in Österreich erfasst. Das sind fast vier Prozent der Bevölkerung. Rund 15.000 davon, glaubt Tree, seien vollständig blind. Auch in Deutschland wird die Zahl der Blinden und Sehbehinderten nicht exakt ermittelt. Schätzungen ergeben, dass rund 150.000 blinde und rund 500.000 sehbehinderte Menschen in der Bundesrepublik leben. Das sind gerade einmal 1,3 Prozent. Hunderttausende Menschen, die in eine Statistik passen. Ihr Liebesleben passt nicht in Tabellen und Listen.

   Neun junge österreichische Autoren haben sich auf den folgenden Seiten damit auseinander gesetzt. Sie haben Interviews geführt und blinde Menschen in ihrem Alltag begleitet, um herauszufinden, ob man anders liebt, wenn man nicht sehen kann - vielleicht sogar besser? Wie findet man die Liebe, abseits von optischer Anziehungskraft? Und wie behält man sie?

   Die Autoren haben ihre Eindrücke in ganz unterschiedlichen Texten und Textformen verarbeitet, aber alle beschäftigen sich mit dem Kennenlernen, dem Verlieben, dem Versuch des Zusammenbleibens - und manchmal auch mit seinem Scheitern.

 

l. »Ich bin dein Auge, wenn wir zusammen sind« Von der Kunst, sich im Dunkeln zu finden.

 

Die Worte »blind« und »Liebe« existieren in der deutschen Sprache auffallend oft im Doppelpack. Man kann »blind vor Liebe« oder »blind ergeben sein«, jemandem »blind vertrauen« oder »blindlings folgen«. Kein Zufall, dass der amerikanische Musiksender mtv einer seiner Kennlern-Shows den Titel »Love is blind« gab. Und das »Blind Date«, das intime Treffen zwischen zwei Menschen, die einander noch nicht kennen, ist längst mehr als eine Modeerscheinung.

   Für Blinde ist jedes Treffen mit einem anderen Menschen gewissermaßen ein »Blind Date«. Nicht selten ein einseitiges. Weshalb man beim Thema Liebe mit Nichtsehenden stets auf das Problem des Kennenlernens zu sprechen kommt. Der deutsche Unternehmensberater und Autor Saliya Kahawatte ist während seiner Jugend, genau in der Pubertät, an einer Netzhautablösung erkrankt, die ihm vollständig das Augenlicht raubte. In seinem 2009 erschienen Buch »Mein Blind Date mit dem Leben« (Eichborn Verlag) schrieb er: »Als ich das erste Mal ein Mädchen kennenlernte, war ich siebzehn. Genauer gesagt: Sie lernte mich kennen«. Er sah sie nicht.

   Auch wer mutig und aufgeschlossen ist, muss kleinere und größere Hürden überwinden. Vor allem als junger Mensch, im Teenageralter, kann es schwierig sein, Kontakte mit Gleichaltrigen zu knüpfen oder jemanden zu finden, der mit der Sehbehinderung umgehen kann. In diesem Punkt sind Mädchen und Buben übrigens gleichermaßen zurückhaltend, um nicht zu sagen: unreif. Eine Eigenschaft, die vor allem Frauen mit zunehmendem Alter ablegen, sagt der Sänger Michael Hoffmann, selbst von Geburt an vollständig blind. Weil Frauen dann nämlich mitunter ganz gern die ewige Kümmerin mimen. »Es gibt weitaus mehr Paare mit blinden Männern und sehenden Frauen«, sagt Heike Herrmann, die in der Praxis als Psychotherapeutin im deutschen Marburg viel mit sehbehinderten Menschen zu tun hat und sich selbst seit Jahren im Prozess der vollständigen Erblindung befindet. »Für Frauen ist ein blinder Mann auch etwas Tolles - der sieht nicht nach anderen Frauen, sieht nicht, wie ich zunehme und ist so schön hilfsbedürftig. Mit einem Wort: der lässt sich leicht betüdeln«, sagt sie.

   Sind blinde Männer also feinfühliger als sehende? Manche werden jedenfalls regelrecht von Frauen umschwärmt. Vielleicht weil man ihnen immer wieder nachsagt, sie seien besonders sensible Liebhaber. Herrmann jedenfalls zerstört den Mythos: »Auch unter Blinden gibt es Machomänner«. Und besonders begehrte, weil berühmte: Männer wie Ray Charles oder Stevie Wonder, der italienische Tenor Andrea Bocelli, der mit einem Grünen Star (auch genannt Glaukom) geboren wurde oder der Puertoricaner José Feliciano, der ebenfalls durch Grünen Star sein Augenlicht verlor. Der Promi-Bonus wird bei diesen Männern sicher eine große Rolle spielen. Stevie Wonder zum Beispiel hat stets wunderschöne Frauen an seiner Seite. Und eigentlich hatte es bis vor kurzem den Anschein, dass der amerikanische Soulsänger sich mit seiner Augenkrankheit, die durch die übermäßige Sauerstoffdosierung im Brutkasten in seinen ersten Lebenswochen ausgelöst wurde, abgefunden hätte. In Interviews hat er mehrfach betont, dass er sein feines Gehör, sein musikalisches Können nur dem fehlenden Augenlicht verdanke. Trotzdem hat er sich nie musikalisch an seinem Handicap abgearbeitet. Anders als José Feliciano, der in dem Lied No dogs allowed vom Leben mit seinem Blindenhund erzählte. Wonder aber schwieg lange über seine Erblindung. Umso erstaunlicher, dass er vor einigen Jahren plötzlich offen darüber sprach, er überlege sich (kurz vor dem Sechziger), seine Augen operieren zu lassen. Soll das heißen, dass sogar Stevie Wonder, ein Star, der auch durch seine Erblindung berühmt wurde, den Wunsch nie abschütteln kann, wieder sehen zu können? Heike Herrmann kennt das aus ihrer Arbeit mit blinden Menschen. »Das Gefühl, dass man in einer anderen Liga spielt, wird immer bleiben«, glaubt sie.

   Stevie Wonder spielt so und so in einer anderen Liga. Ihm wird es nie besonders schwer gefallen sein, Frauenbekanntschaften zu machen. Nicht ganz so einfach erging es da Michael Hoffmann in seinen Teenietagen. Aufgewachsen ist der heute 30-jährige Musiker in dem burgenländischen 2500-Seelen-Nest Mönchhof, später ging er in Wien ins Internat. Er kann sich noch gut erinnern, dass »Verlieben« und »Flirten« in seiner Jugend heikle Themen für ihn waren, noch heikler als sie in dem Alter ohnehin schon sind. Weil die Mädchen am Land »doch immer geschaut haben, ob der Typ ein Auto hat.« Hoffmann hatte nicht. Seine Mutter war zwischen dritter und sechster Schwangerschaftswoche an Röteln erkrankt, er kam vollblind zur Welt. Die Jugend in Mönchhof habe er aber genossen, sagt er, die Gemeinschaft sei dort überaus rücksichtsvoll und feinfühlig gewesen. Härter waren eher die Jahre in Wien, trotz der Unterstützung von seinem ebenfalls blinden Freund, der mit ihm ins Internat ging. »In der Stadt ist doch noch alles um eine Spur größer und deshalb auch eine Spur schwieriger.«

   Irgendwann hat er begriffen: »Man muss sich generell als Blinder in der Welt der Sehenden beweisen. Du musst dich interessant machen.« In seinem Fall war es die Musik, das Gründen von Bands, sagt Hoffmann. Rückwirkend betrachtet hat ihm die Teilnahme an der Teenie-Singshow aber einen ganz anderen Gewinn gebracht: seine heutige Partnerin und - seit März 2008 - auch die erste gemeinsame Tochter. Das Kennenlernen gestaltete sich bei Hoffmann und seiner Freundin nicht mehr schwierig. Zumindest musste der Burgenländer nach seinen freitäglichen Auftritten im Femsehen nicht mehr klar stellen, dass er nicht sehen konnte. Seine heutige Freundin schrieb ihm eine Glückwunschkarte, die beiden trafen sich beim nächsten Auftritt von Hoffmann in ihrer Heimatstadt Graz und blieben von da an in Kontakt. »Ein Jahr später waren wir ein Paar.« Heute sind sie Eltern. Und immer noch zusammen.

   Nun, nicht jeder kann auf der Bühne stehen und so seinen Partner kennen lernen. »Auch andere Hobbys können zusammenbringen«, sagt Hoffmann, als wolle er andere aufmuntern. Und fast hätte er auch noch von Vereinen gesprochen. Aber mit Vereinen ist das eben so eine Sache. Da gibt es zum Beispiel den Österreichischen Blindenverband, bei dem man ab einer Sehkraft von zehn Prozent und darunter Mitglied werden kann. Neben vielen anderen Aufgaben ist dessen oberstes Ziel, Gleichgesinnte zusammenbringen. Aktivitäten für die Mitglieder stehen im Mittelpunkt, der Faschingsball des Louis Braille-Hauses im Jänner sei ein Höhepunkt im Jahr, sagt Martin Tree vom Blindenverband. Dort hätten schon einige Beziehungen ihren Anfang genommen. Allerdings hat der Verband ein kleines Problem: der Altersschnitt ist relativ hoch, über 50 Prozent der Mitglieder sind bereits im Seniorenalter, junge Menschen werden dort schwer Anschluss finden.

   Zudem muss man der Typ für solche Vereine sein - Monika Weinrichter ist das zum Beispiel nicht. Im Blindenverband ist die 39-Jährige zwar auch Mitglied, aber sie nimmt dort »fast nie« an Veranstaltungen teil. Als Kind ist sie durch eine Netzhauterkrankung erblindet, heute ist sie faktisch blind. Schon seit der Jugend hat die Wiener Sozialarbeiterin beim Demontage und Recycling Zentrum Wien fast nur sehende Freunde, sogar ihre Partner waren bisher alle - bis auf einen einzigen - sehend. »Ich mache sicher vieles, was andere Blinde nicht tun«.

   Weinrichter war zum Beispiel schon einmal Model bei einer Modenschau und hat im Vorjahr an einem Hörbuchprojekt von Heike Herrmann mitgewirkt, bei dem blinde Frauen über ihre Vorstellung von Schönheit - auch die eigene - sprachen. Die blinde deutsche Autorin Jennifer Sontag hat die beiden Frauen zusammengebracht. Wo Weinrichter Männer kennen lernt? »Nicht in der Blindenschule, dort war ich nie. Ich war in der Tanzschule«. Tanzen geht sie bis heute gerne, erzählt die zweifache Mutter. Und eigentlich gern allein, da können die sehenden Freundinnen ihr keinen Mann wegschnappen. Das Bermudadreieck in der Wiener Innenstadt ist eines ihrer liebsten Ausgehviertel. Dort hat sie auch einen ihrer Partner kennengelernt. Eines ist ihr an diesen Abenden an den Bars diverser Lokale aufgefallen: »Es war immer leicht mit den Männern zu plaudern, aber es war nicht leicht zu flirten. Weil die schon immer interessiert waren an Blinden, wie das so ist und so.« Manche Männer erzählen dann plötzlich von ihren eigenen Krankheiten. »Dabei wollte ich mich doch eigentlich amüsieren.«

   Sie lernt Männer am liebsten in dunklen Lokalen kennen. »Da fällt es nicht so schnell auf, dass ich nichts sehe und man kommt schneller in ein lockeres Gespräch.« Damit ist der harte Anfang schon getan.

   Was sie ärgert: wenn Männer sie nicht als Frau wahrnehmen. Sie selbst zieht sich »schon gern sexy und schön an«. Sie mag ihre Haare und ihren Körper - »obwohl der schon mal schlanker und schöner war«, wie sie sagt - und ihre eigene Stimme. »Wenn ich verliebt bin, dann merke ich, wie meine Stimme besonders schön wird. Dann habe ich auch manchmal das Gefühl, dass die Haut glatter und schöner wird.«

   Weinrichter ist offen und mutig. Erst vor kurzem hat sie einfach so eine Annonce in der Zeitung aufgegeben, auf die sich einige Männer gemeldet haben. Was sie verwundert hat, denn sie hat in der Anzeige auf die Sehbehinderung hingewiesen. »Und ich würde mir ja auch nicht extra jemanden im Rollstuhl aussuchen«, sagt sie. Die meisten haben ihr erklärt, »das Normale würden sie eh immer haben, sie seien neugierig auf etwas anderes«. Nur ein Mann hat die Anzeige wohl nicht so genau gelesen. Er war in ihrem Alter, lebte aber noch bei seinen Eltern auf dem Land und hatte die Sache mit der Erblindung in der Anzeige überlesen. Als er verstand, dass Weinrichter beinahe vollblind ist, war seine einzige Sorge: »Ach so, kannst du dann überhaupt kochen?«

   Kennenlernen funktioniert - wie bei Sehenden - noch immer am besten im Freundes- oder Bekanntenkreis. Zumindest ist es Sanja Martinovic so ergangen. Die 17-jährige Schülerin ist seit mehr als einem Jahr mit ihrem Freund zusammen. Martinovics Eltern sind Anfang der Neunziger Jahre aus Kroatien nach Wien gekommen. Ihr Freund ist aus dem gleichen Ort wie ihre Eltern, die Familien kennen sich gut. Auch wenn das junge Paar eine Fernbeziehung lebt, basiert sie auf Respekt und Vertrauen. Dabei hat Sanja früher schon schlechte Erfahrungen mit jungen Männern gemacht. »Die Burschen hatten nicht die Reife, vielleicht hatten sie auch Angst«, sagt sie heute. Martinovic leidet an einer Augenkrankheit namens Retinitis Pigmentosa. Konkret bedeutet das: sie sieht klar, aber alles doppelt. In der Nacht ist sie vollblind. Ihr Freund hilft ihr, wo er kann. Bei Tisch im Haus seiner Familie, wenn es große Platten mit verschiedenen kleinen Speisen gibt, die Martinovic nicht sehen kann, beim Stiegen steigen, beim Ausgehen in der Disco. Er hat einmal zu mir gesagt: »Ich bin dein Auge, wenn wir zusammen sind. Das trifft es sehr gut.«

   Martinovic hat auch ein Handy mit einem besonders großen Display, die Schrift stellt sie sich ganz groß ein, dann kann sie sogar sms lesen. Schreiben kann sie die ohnehin ohne hinzusehen. Und da wäre auch schon das neueste Hilfsmittel beim Kennenlernen: das Internet. Wer jung ist, bewegt sich im World Wide Web wie ein Fisch im glasklaren Wasser. Und Blinde schwimmen da ganz vorne mit. Sie schreiben mit Hilfe der Braille-Zeile, einer speziellen Tastatur mit Braille-Buchstaben, viele aber auch mit der normalen Tastatur. Der Inhalt von Internetseiten, E-Mails oder Chat- Protokollen gelangt über eine Sprachausgabe an ihr Ohr. Das ist beinahe wie ein Hörbuch mit stets individuell besprochenem Text.

   »Durch das Internet ist es viel leichter geworden, einen Zugang zu Sehenden zu erhalten«, sagt auch der Musiker Michael Hoffmann. Nicht nur in Liebes-, sondern auch in Freundschaftsbeziehungen. Helga Wanecek, 71, pensionierte Juristin, geburtsblind und sehr kommunikativ, erledigt alle Korrespondenzen mit dem Computer. Auf E-Mails antwortet sie oft innerhalb weniger Minuten. Ihre Hündin Dori hilft ihr nur außerhalb der eigenen vier Wände. Auch Martin Tree weiß, dass die Technik vieles ermöglicht. »Aber die Grundsituation ist unverändert: Hürden sind da. Es gibt nur viel mehr Möglichkeiten sie aus dem Weg zu schaffen«.

   Nicht nur in der Sprache, auch in der Literatur ist das Nicht-sehen und die sogenannte Skotomaphobie, die Angst vor der Erblindung, oft Thema. Und es gibt nicht nur blinde Musiker, sondern auch Schriftsteller. Einer der berühmtesten ist mit Sicherheit der Argentinier Jorge Luis Borges. Er verlor sein Augenlicht mit 56 Jahren, benötigte später einen »Vorleser«, wurde aber dennoch zum Direktor der Nationalbibliothek von Buenos Aires ernannt.

   Die wahre Geschichte der blinden Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis, die 1759 als Tochter eines Staatsbeamten in Wien geboren wurde, hat viele Literaten fasziniert. Der österreichische Autor Gerhard Roth erzählt von ihr im Kapitel über das Blindeninstitut in seinem jüngsten Buch »Die Stadt - Entdeckungen im Inneren von Wien« (S. Fischer). Es heißt, die junge Frau, die zu Mozarts Zeiten sehr bekannt war, wurde von dem Arzt und gern als »Wunderheiler« bezeichneten Franz Anton Mesmer kurzfristig von ihrer Erblindung befreit. Bei Gerhard Roth kommt dieser Mesmer vor, Alissa Walser, die Tochter des Schriftstellers Martin Walser, widmet der Beziehung zwischen ihm und Paradis gleich einen vielseitigen, ihren ersten, Roman. Was man sich auch erzählt: die beiden verband bis ans Ende ihrer Tage eine innige Liebesgeschichte.

 

2. »Der Sehsinn wird im Zwischenmenschlichen sehr überschätzt« - Von der Kunst, sich zu Verlieben.

 

Zuerst kommt immer die Stimme. Wer einen Blinden fragt, worauf es beim Verlieben ankomme, hört als Antwort immer: auf die Stimme. Sie ist für Nichtsehende das Tor in die Welt ihres Gegenübers. Sie kann einem blinden Menschen innerhalb weniger Sekunden sagen, ob die dazugehörige Person sympathisch, liebenswürdig oder unmöglich ist. Die Ohren sind die Augen der Blinden. Die Hände sind es nur begrenzt, denn wer hat schon den Mut (und die Lust?), jeden Erstbesten anzugreifen, wahllos abzutasten. Das Gehör ist bei Nicht-Sehenden jedenfalls aufs Allerbeste geschärft - solange nicht ein störendes Geräusch, ein Ton, Musik, die interessanten Töne überlagert.

   Discos mag Sanja Martinovic genau deshalb nicht. Weil sie dort nachtblind ist und im Dunklen nichts mehr sieht und nicht mehr hört, was die anderen sagen. Ihre Freunde lachen, werfen sich Blicke zu und sie habe dann »irgendwie immer nur Spaß mit mir allein«, sagt sie. Eines kann die um fast zwanzig Jahre ältere Monika Weinrichter nicht verstehen: »Die Leute glauben oft, man hat als Blinder keine Vorurteile«. Ein Blödsinn sei das. »Schon allein an der Stimme und Sprache hört man, ist das ein Prolet oder ein Sandler«, sagt sie. Auch Blinde haben ihre Schubladen.

   Michael Hoffmann glaubt an die Kraft der Stimme. Als Sänger muss er das wohl auch. »Und bei uns stimmt das, was die Sehenden so gerne von sich behaupten, tatsächlich: die inneren Werte, der Charakter zählt.« Sanja Martinovic sieht das ein bisschen anders. Sie hat in ihrer Schule, dem Bundesblindenerziehungsinstitut in der Wiener Leopoldstadt, Unterschiede zwischen geburtsblinden und sehschwachen Menschen entdeckt. »Blinde sind nicht so offen beim Kontakte knüpfen, die gehen mehr auf die inneren Werte. Bei Sehbehinderten ist das wieder etwas anderes - wir sind offener.« Darum habe es bei ihr schon eine Rolle gespielt, wie ihr Freund gebaut ist. Auch wenn sie nicht viel sieht, sagt sie: »Ich weiß, wie mein Freund aussieht.«

   Geburtsblinde Menschen wissen das nicht. Farben, Formen, alltägliche Gegenstände haben sie noch nie gesehen.

   Da sind Haar- oder Augenfarben nicht von großer Relevanz, eher schon wie dicht oder stark das Haar sich anfühlt, wie zart die Haut ist. Geruch geht ohnehin vor Aussehen. Zumindest sieht das die Psychotherapeutin Heike Herrmann so. Und die Wissenschaft gibt ihr da Recht. »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir uns unsere Partner nach dem Geruch aussuchen. Der Sehsinn wird im Zwischenmenschlichen völlig überschätzt«.

   Wie sich Blinde Farben vorstellen, das hat der italienische Autor Carlo Lucarelli in Worte gefasst. Sein viel zu wenig beachteter Kriminalroman »Der grüne Leguan« (DuMont) erzählt von Simone, einem 25-jährigen jungen Mann, der von Geburt an nichts sieht und nur mit seinem exzellenten Gehör einen Serienmörder aufspüren kann - und sich dabei in die ehrgeizige Polizistin Grazia verliebt. In einem inneren Monolog spricht Simone zum Leser. Farben ordnet er Geräuschen zu, nach dem Klang der Aussprache. »Azur zum Beispiel, mit diesem Z in der Mitte ist die Farbe von Zucker, Zebras und Zikaden. Wälder, Wege und Wölfe sind violett, und Gelb ist durchdringend wie ein heller Schrei. Schwarz kann ich mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, doch ich weiß, dass es die Farbe des Schlafes ist, des Schattens, der Leere. (...) Dagegen sind alle Farben, die mit B anfangen, bildschön. Wie blaß oder blond. Oder blau, blau ist wunderschön. Deshalb müsste zum Beispiel ein schönes Mädchen, wenn es wirklich schön sein soll, blasse Haut und blondes Haar haben. Ein bildschönes Mädchen aber hätte blaues Haar.« Beim ersten Geschlechtsverkehr mit Grazia beschreibt Lucarelli »die rosa Rundung ihrer Brüste und die azurblauen Spitzen ihrer Brustwarzen«. Simone sagt zu Grazia aber auch: »Du bist ein Geruch. Ein Klang. Du bist du«. Der Sex ist für Blinde, erzählen viele, ein besonders intensives Erlebnis. Weil die verbleibenden Sinne so besonders geschärft werden, der Geruchs- und vor allem der Tastsinn hier ganz stark gefragt sind.

   Riechen, Hören, Tasten - damit kommt der Nichtsehende an andere Menschen und letztlich an seinen Partner heran. Vor allem Jüngere geben allerdings zu, dass sie sich doch gerne bei sehenden Freunden erkundigen, ob der gefundene Wunschpartner denn nach objektiven Kriterien auch »was hermacht«. Ein kleiner Gegencheck wird ja noch erlaubt sein.

 

3. »Viele lassen sich so unterdrücken«: Von der Kunst, zusammenzubleiben.

 

Eine Statistik gibt es nicht. Nicht einmal Schätzungen lassen sich anstellen, ob Blinde öfter Beziehungen mit ebenfalls Blinden oder Sehenden eingehen. Und so schätzt eben jeder vor sich hin. Die Psychotherapeutin Heike Herrmann glaubt an Blinde im Doppelpack, die Wiener Sozialarbeiterin Gabriele Nowotny kennt dafür wieder mehr »gemischte« Paare, Helga Wanecek glaubt auch eher an doppelt-blinde Paare. Sie hat vermutlich die meiste Erfahrung in Sachen Beziehungen mit ihren 70 Jahren. Sehr reichhaltig sei ihr Liebesleben ja nicht gewesen, sagt Wanecek zu Beginn des Gesprächs. Aber reden will sie trotzdem gerne darüber. Obwohl sie später auch noch spitz sagt: »Wenns nichts zu schreiben haben, dann schreibend halt über Behinderte.« Sie meint die Journalisten. Das sagt sie, nachdem sie von jenem Mann erzählt, der ihr in jungen Jahren gut gefallen hätte. Das war im Jahr 1958. »Damals gab es eine Fernsehsendung«. Und der Moderator wollte mit ihr ein Interview machen. »Der war ein sympathischer Reporter, da habe ich mir schon gedacht, wenn der mit mir ausgehen würde, würde ich nicht Nein sagen.« Daraus ist nichts geworden. Aber ihre große Liebe hat die Helga dann doch bekommen. Den Herrn Hofrat. Den Ottokar. Ihren ersten und einzigen Ehemann.

   Kennengelernt hatte sie den schon in ihrer Jugend, die auf eine alles andere als schöne Kindheit gefolgt war. »Ich war eher das Unglück der Familie. Ich war ein unerwünschtes Kind und noch dazu im Krieg, da war es gar nicht gut ein behindertes Kind zu haben, überhaupt für den Vater. So ist der sehr bald von uns weggegangen«, erzählt sie und fügt nach einem Seufzer und einem traurigen »Naja« noch hinzu: »Wenn man nicht so viel Liebe kriegt, gibt man auch nicht so viel weiter.«

   Sie habe sich ihr Leben lang alle Männer, die ihr gefallen hätten »ganz genau angeschaut - mit dem inneren Auge, weil ich allein leben wollte«. Außerdem sei es damals nicht einfach gewesen, alleinerziehende Mutter zu sein, sie habe deshalb immer Angst vor einer Schwangerschaft gehabt. »Es gab einige verheiratete Männer, die ein Kind mit mir gewollt hätten, weil ihre Frau keines bekommen konnte. Aber ich habe mir immer nur gedacht: Alles, nur kein Kind.«

   Helga war Einzelkind, 1938 genau zu Kriegsbeginn geboren, die Mutter führte ein Cafe an der Oberen Weißgerberlände am Donaukanal. Die Tochter lernte ordentlich in der Schule, holte nebenberuflich die Matura an der Abendschule nach und absolvierte schließlich neben ihrem Job in der Pensionsversicherung ein Jusstudium in Mindestzeit. Oft mit Hilfe von Vorlesemädchen, die sich ein Zubrot verdienen wollten und ihr die Lehrbücher vorlasen oder auf Kassetten sprachen. Der »Herr Wanecek«, ihr späterer Mann, war um 47 Jahre älter als sie und schon verheiratet, als sie ihn kennenlernte. Er war Pädagoge und beschäftigte sich intensiv mit der Förderung von Blinden.