§ 1. Die Entstehung des Begriffes der Vielheit vermittelst desjenigen der collectiven Verbindung.

Inhaltsverzeichnis

Das gemeine Bewusstsein findet zwei Zahlenarten vor: die Cardinalzahlen und Ordinalzahlen. Erstere sind in der Regel gemeint, wenn schlechthin von, Zahlen' oder Anzahlen' gesprochen wird.

Auf eine nahe Verwandtschaft der beiden Arten von Zahlbegriffen scheint bereits die gewöhnliche Sprache einen besonderen Nachdruck zu legen durch die Aehnlichkeit der Benennungen: die Laut- und Schriftzeichen für die Anzahlen gehen durch geringfügige Modifikationen in diejenigen der entsprechenden Ordinalzahlen über (1, 2, 3, 4,.......; 1te2te, 3ta, 4te. . . .). Wie sich die Anzahlen auf Mengen beziehen, so die Ordinalzahlen auf Reihen. Reihen sind aber geordnete Mengen, und so möchte man von vornherein meinen, dass die Begriffe der Ordinalzahlen nur durch gewisse Beschränkungen aus denen der Anzahlen hervorgehen. Indessen halten berühmte Forscher wie W. R. Hamilton, H. Grassmann, Helmholtz, L. Kronecker u. A. den Ausgang von der Reihe für den naturgemässen und vindiciren hiedurch den Ordinalzahlen (oder verwandten Begriffen) die Superiorität rücksichtlich der Allgemeinheit. Die Frage, ob die eine oder die andere dieser Ansichten, oder ob nicht vielleicht eine dritte, welche eine logische Unterordnung der einen Klasse von Begriffen unter die andere überhaupt leugnet, den Vorzug verdiene, soll uns späterhin beschäftigen. Indem wir nun mit der Analyse der Anzahlbegriffe den Anfang machen, wollen wir für keine dieser Ansichten praejudicirt haben. Mit Rücksicht auf die Beziehung der beiden Zahlarten auf die Vorstellungen von Mengen einerseits, und von Reihen andererseits — wie sie schon der oberflächlichen Betrachtung sich aufdrängt — erschiene die knapp charakterisirende Bezeichnung der einen als, Mengenzahlen‘ der anderen als, Reihenzahlen' recht passend. —

Sämmtliche Autoren namhaft zu machen, welche den Begriff der Zahl auf denjenigen der Menge gründen, wäre kaum durchführbar. Schon Euclid definirt (im Eingänge des VII. Buches d. Elem.):

Wie sonst, so war er auch hier langehin massgebend. — Hobbes (de corp. cap. VII, 7; cf. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik I. Band p. 274) erklärt: „die Zahl ist 1 und 1, oder 1, 1 und 1, u. s. w.; was dasselbe ist als sagten wir: die Zahl ist Einheiten“.

Locke giebt in seinem Hauptwerke über den menschlichen Verstand ausgedehnte Beschreibungen des psychologischen Vorganges beim Zählen, ohne aber seine Ansicht über den Inhalt des Zahlbegriffes in Form einer Definition zusammenzufassen. Doch im Zusammenhang seiner Ausführungen werden die Zahlen charakterisirt als aus Einheiten zusammengesetzte Vorstellungen (,complex ideas“, „collective ideas“), genauer als „ideas for several collections of units, distinguished one from another“ (Essay, B. II, ch. 4; ch. 5).

Leibniz definirt in einem Briefe an Thomasius, fast gleichlautend mit Hobbes: „ Numerum definio unum, et unum, et unum etc. seu imitates“ (Op- ph. Erdmann p. 53). In den Nouveaux Essais II, ch. 16 (Op. ph. Erdm. p. 243) tritt auch die Definition der (ganzen) Zahl als Vielheit (multitude) von Einheiten auf. Gegen die frühere besteht offenbar kein erheblicher Unterschied; nur das Wort Vielheit ist dort vermieden, der Plural bezeichnet es aber mit.

An diesen hervorragenden Beispielen mag es genügen.

Die gewöhnlichste Bestimmung lautet: Die Zahl ist eine Vielheit von Einheiten. Statt, Vielheit' sagt man auch Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge etc.; lauter Ausdrücke, die gleichbedeutend oder sehr nahe verwandt sind, obschon nicht ohne merkliche Nuancen.1

Freilich ist mit dieser Definition nicht viel gethan. Was ist, Vielheit' und was Einheit' ? Darum eben drehen sich die meisten Controversen. Auch scheint, Vielheit' nahezu dasselbe zu bedeuten wie Anzahl. In der That wird der Name Anzahl in einem weiteren Sinne (dann nämlich, wenn er nicht eine bestimmte Zahl bezeichnen soll) so gebraucht, dass er vollkommen gleichbedeutend wird mit,Vielheit'. Manche Autoren meinten darum von jener Definition (wenn man es so nennen will) abgehen zu müssen. Indessen wird hier eben .Anzahl' in einem weiteren Sinne gebraucht. Jedenfalls ist soviel sicher, dass die concretem Phänomene, an welche wir bestimmte Zahlenaussagen knüpfen, concrete Vielheiten, d. h. Mengen von bestimmt gegeben Dingen sind, also eben dieselben Phänomene, welche auch unter den Allgemeinbegriff der Vielheit fallen. Und gerade hierin liegt die Nötigung, von diesen Phänomenen auszugehen und zuzusehen, wie an ihnen sowohl der unbestimmtere und allgemeinere Begriff, welcher jener Reihe von Namen: Vielheit, Mehrheit, Menge u. s. f., zu Grunde liegt, abstrahirt wird, als auch die bestimmten Zahlbegriffe.

Die erste Frage, die wir zu beantworten haben ist diejenige nach dem Ursprünge der in Rede stehenden Begriffe.

Die concreten Phänomene, welche für die Abstraction derselben die Grundlage bilden, sind, wie eben bemerkt, Inbegriffe bestimmter Gegenstände; wir fügen aber auch hinzu: vollkommen willkürlicher und beliebiger. ln der That, für die Bildung concreter Inbegriffe giebt es in Beziehung auf die zu befassenden Einzelinhalte keinerlei Schranken. Jedes Vorstellungsobject ob physisch oder psychisch, abstract oder concret, ob durch Empfindung gegeben oder durch Phantasie etc. kann zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen zu einem Inbegriffe vereinigt werden.2 Z. B. Einige bestimmte Bäume; Sonne, Mond, Erde und Mars; ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien u. s. w. Immer können wir in diesen Beispielen von einem Inbegriffe, von einer Mehrheit, von einer bestimmten Zahl sprechen. Auf die Natur der einzelnen Inhalte kommt es also in keiner Weise an.

Wenn aber dies, wie gelangt man ausgehend von concreten Inbegriffen zum Allgemeinbegriff der Mehrheit, des Inbegriffes, der Zahl? Welcher Abstractionsprocess soll ihn liefern? Was behält man bei der Abstraction übrig als den Inhalt des Begriffes, und was ist dasjenige, wovon abstrahirt wird?

Begriffe, so nehmen wir an, entstehen durch die Vergleichung von specieüen Vorstellungen, die unter sie fallen; von den differenten Merkmalen absehend, hält man die gemeinsamen fest, und sie sind es, welche den Allgemeinbegriff constituiren.

Versuchen wir nun dieser Anweisung hier Folge zu leisten.

Dass uns zunächst die Vergleichung der einzelnen Inhalte, welche wir in den gegebenen Inbegriffen vorfinden, nicht den Begriff der Vielheit, des Inbegriffes, der Zahl ergeben würde, dies ist selbstverständlich, und es war (denn auch dieses kam vor) widersinnig dergleichen zu erwarten. Nicht jene Einzel-imhalte sind ja die Unterlagen der Abstraction, sondern die concreten Inbegriffe als Ganze, in welchen sie zusammengefasst sich finden. Aber auch durch deren Vergleichung scheint das gewünschte Resultat nicht hervorgehen zu wollen. Die Inbegriffe, könnte man sagen, bestehen doch bloss aus den Einzelinhalten. Wie sollten sich also irgend welche gemeinsame Merkmale der Ganzen herausheben lassen, wenn die sie constituiren den Theile völlig heterogen sein dürfen?

Indessen mit Leichtigkeit löst sich diese scheinbare Schwierigkeit. Es ist misverständlich zu sagen, die Inbegriffe beständen bloss aus den Einzelinhalten. Wie leicht man es auch übersieht, so ist doch über die Einzelinhalte hinaus etwas da, was bemerkt werden kann und was in allen Fällen, wo wir von Inbegriffen sprechen, notwendig vorhanden ist: die Verbindung der einzelnen Elemente zu dem Ganzen. Und es ist hier, wie bei manchen anderen Klassen von Relationen; es kann bei der grössten Verschiedenartigkeit der bezogenen Inhalte, doch in Hinsicht auf die verbindenden Relationen Gleichartigkeit bestehen. So giebt es Gleichheiten, Steigerungen, continuirliche Vermittelungen auf ganz heterogenen Gebieten, sie können sowohl zwischen sinnlichen als auch zwischen psychischen Phänomenen statt haben. Es ist also sehr wohl möglich, dass zwei Ganze als solche gleichartig sind, obschon die sie constituirenden Theile beiderseits völlig heterogen sind.

Jene, in allen Fällen, wo von Vielheiten die Rede ist, gleichartigen Verbindungen sind nun die Grundlagen für die Bildung des Allgemeinbegriffes der Vielheit.

Was die Art des Abstractionsvorganges, der unseren Begriff liefert, anbetrifft, so werden wir sie am besten characterisiren können, indem wir auf die Entstehungsweise anderer Zusammensetzungsbegriffe (Ganzen) hinweisen. Achten wir z. B. auf die Zusammenhänge der Punkte einer Linie, der Momente einer Zeitdauer, der Farbennüancen einer continuirlichen Farbenreihe, der Tonqualitäten einer „Tonbewegung“ u. s. f., dann erlangen wir den Begriff der continuirlichen Verbindung und vermittelst desselben den Begriff des Continuum. Dieser Begriff ist nicht etwa als ein besonderer und für sich bemerkbarer Theilinhalt in der Vorstellung eines jeden concret gegebenen Continuum enthalten. Was wir im concreten Falle bemerken, das sind einerseits die Punkte, resp. die ausgedehnten Theile, andererseits die eigentümlichen Verbindungen derselben. Diese letzteren nun sind das überall, wo wir von Continuis sprechen, gleichartig Vorhandene, wie verschieden auch immer die absoluten Inhalte, welche sie verknüpfen, (die Orte, Zeiten, Farben, Töne etc.) sein mögen. Mit Reflexion auf diese characteristische Verbindung von Inhalten entsteht nun der Begriff Continuum, als eines Ganzen, dessen Theile eben in der Weise continuirlicher Verbindung geeinigt sind.

Oder betrachten wir, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die ganz eigentümliche Art, in welcher bei beliebigen Gesichtsobjecten die räumliche Ausdehnung mit der Farbe und diese wieder mit der Intensität in gegenseitiger Durchdringung verknüpft ist Mit Hinblick auf disse Yerbindimgsart, welche wir mit F. Brentano die metaphysische nennen wollen, können wir nun wieder den Begriff eines Ganzen bilden, dessen Theile eben auf solche Weise geeinigt sind.

Wir können überhaupt ganz allgemein sagen: Wo uns eine besondere Klasse von Ganzen entgegentritt, da kann der Begriff derselben nur entstanden sein durch die Reflexion auf eine wol characterisirte, bei jedem Ganzen dieser Klasse gleichartige Verbindungsweise von Theilen.