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NIGHTRISE CORPORATION

Streng vertraulich

Memorandum aus dem Büro des Vorsitzenden:

15. Oktober 2008

Wir werden die Macht übernehmen.

Vor vier Monaten, am 25. Juni, öffnete sich das Tor in der Nazca-Wüste und die Alten konnten endlich zurückkehren auf die Welt, die sie einst beherrschten. Sie sind jetzt unter uns und warten auf den richtigen Zeitpunkt, sich zu erkennen zu geben und den Krieg zu beginnen, den sie diesmal nicht verlieren können.

Warum dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen ist?

Der Triumph von Nazca wurde überschattet von der Anwesenheit zweier Kinder, zweier Jungen im Teenageralter. Einen von ihnen kennen wir gut – wir beobachten ihn schon fast sein ganzes Leben lang. Sein Name, oder der Name, unter dem er jetzt bekannt ist, lautet Matthew Freeman. Er ist fünfzehn und Engländer. Der andere war ein peruanischer Straßenjunge, der sich Pedro nennt und in den Slums von Lima aufgewachsen ist. Diese beiden sind verantwortlich für den Tod unseres Freundes und Kollegen Diego Salamanda. Und, so unfassbar es klingt, sie haben den König der Alten im Moment seines größten Triumphes verwundet.

Dies sind keine normalen Kinder. Sie sind zwei der fünf sogenannten Torhüter, die vor mehr als zehntausend Jahren an der großen Schlacht teilgenommen haben, bei der die Alten besiegt und vertrieben wurden. Wenn wir diesmal Erfolg haben und eine neue Weltordnung schaffen wollen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir die Natur dieser Torhüter verstehen.

Vor zehntausend Jahren führten fünf Kinder die letzten Überlebenden der Menschheit in die Schlacht gegen die Alten. Die Schlacht fand in Großbritannien statt, allerdings zu einer Zeit, als das Land noch keine Insel war, noch vor dem Abschmelzen der Eisflächen im Norden.

Durch einen Trick gewannen die Kinder und vertrieben die Alten. Um sie von der Erde zu verbannen, wurden zwei Tore errichtet: eines in Yorkshire, im Norden von England, das andere in Peru. Ein Tor hielt. Das andere konnten wir im Juni endlich aufbrechen.

Die Fünf existierten damals. Die Fünf existieren auch heute. Es scheint, als wären sie auf der anderen Seite der Zeit wiedergeboren worden, aber so einfach ist es nicht. Es sind dieselben Kinder, die irgendwie in verschiedenen Zeitaltern leben.

Tötet man eines der Kinder, wird es durch eines aus der Vergangenheit ersetzt. Dies ist die entscheidende Tatsache, die diese Kinder zu so gefährlichen Feinden macht. Sie zu töten ist sinnlos. Wenn wir sie kontrollieren wollen, müssen wir sie lebendig fangen.

Allein sind diese Kinder schwach und besiegbar. Ihre Kräfte sind unzuverlässig und können von ihnen nicht vollständig kontrolliert werden. Aber wenn sie zusammen sind, werden sie stärker. Das ist die größte Gefahr für uns. Wenn alle fünf irgendwo auf der Welt zusammentreffen, sind sie möglicherweise in der Lage, ein drittes Tor zu errichten, und dann ist alles verloren, was wir bisher erreicht haben.

Der fünfte der Fünf

Bisher sind nur vier der Kinder identifiziert worden. Dem englischen und dem peruanischen Jungen haben sich Zwillinge aus Amerika angeschlossen, Scott und Jamie Tyler, auf die wir durch unser PSI-Projekt gestoßen sind. Zu dieser Zeit haben sie in einem Theater in Nevada gearbeitet.

Zur Kenntnisnahme: Scott Tyler wurde während seiner Haft in Nevada einer gründlichen Umprogrammierung durch unsere Agenten unterzogen. Inzwischen ist er zwar wieder mit seinem Bruder vereint, aber es ist trotzdem denkbar, dass wir ihn gegen seine Freunde richten können. Beachten Sie das psychologische Gutachten (Anhang 1).

Über den fünften der Fünf wissen wir bisher sehr wenig. Es ist ein Mädchen. Wie die anderen wird es fünfzehn Jahre alt sein. Wir vermuten, dass es chinesischer Abstammung ist und in Asien lebt. In der alten Welt war sein Name Scar. Ohne jeden Zweifel suchen die anderen vier nach ihm und wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass sie Erfolg haben könnten.

Das bedeutet, dass wir das Mädchen zuerst finden müssen.

Unsere Agenten suchen in allen Ländern der Erde nach ihm. Viele Politiker und Polizeikräfte arbeiten mittlerweile aktiv für uns. Das PSI-Projekt läuft in Europa und Asien weiter und wir untersuchen immer noch Teenager mit möglichen paranormalen Fähigkeiten. Die Aussichten, das Mädchen zu finden, stehen gut. Es ist zu vermuten, dass es bisher nicht weiß, was und wer es ist.

Sobald wir das Mädchen haben, können wir es dazu benutzen, die anderen Torhüter in eine Falle zu locken. Wir werden einen nach dem anderen in die Nekropole bringen und sobald wir alle fünf haben, werden wir sie getrennt einsperren, foltern und bis ans Ende der Zeiten am Leben erhalten.

Alles ist bereit. Die Torhüter haben keine Vorstellung, wie stark wir sind oder wie weit unsere Vorbereitungen gediehen sind. Unsere Augen sind überall, auf der ganzen Welt, und schon bald wird die Schlacht beginnen.

Wir müssen nur das Mädchen finden.

La sakkath. Lak sakkakh. La sah xul.

RETTUNG IN LETZTER SEKUNDE

Das Mädchen schaute nicht, bevor es die Straße überquerte.

Das sagte der Fahrer später aus. Sie hatte nicht nach links und rechts gesehen. Sie hatte auf der anderen Straßenseite einen Freund entdeckt und war einfach losgelaufen, ohne zu merken, dass die Ampel wieder grün war, und ohne daran zu denken, wie viel Verkehr auf dieser Kreuzung herrschte und dass um vier Uhr nachmittags alle Leute schnell von der Arbeit nach Hause kommen wollten. Das Mädchen lief einfach los, ohne nachzudenken. Es warf nicht einmal einen Blick auf den weißen Lieferwagen, der mit fast achtzig Sachen heranraste.

Das war typisch für Scarlett Adams. Sie hatte schon immer zu den Leuten gehört, die erst handeln und dann nachdenken – wenn es längst zu spät ist. Der Hockeyball, den sie über das Schulgebäude hatte schlagen wollen, der aber ausgerechnet ins Fenster der Schulleiterin geflogen war. Der Hausmeister, den sie voll angekleidet in den Swimmingpool geschubst hatte. Es wäre cleverer gewesen, zuerst herauszufinden, ob er schwimmen kann. Der 20-Meter-Baum, auf den sie geklettert war, nur um dann zu merken, dass sie nicht wieder hinunterkam.

Zum Glück war man an ihrer Schule nachsichtig. Es half, dass Scarlett allgemein beliebt war und dass die meisten Lehrer sie mochten. Und auch wenn sie keine Musterschülerin war, gehörte sie doch nicht zu den Schlusslichtern ihrer Klasse. Richtig gut war sie in Sport. Sie war Kapitän der Hockeymannschaft (trotz der gelegentlichen Fehlschläge), eine starke Tennisspielerin und bei den Sommerwettkämpfen war sie in Leichtathletik immer die Beste. Einer Schülerin, die die Trophäen holt, macht keine Schule zu viel Ärger und Scarlett hatte ihrer Schule schon eine ganze Sammlung eingebracht.

Ihre Schule hieß St. Genevieve und von außen betrachtet hätte sie genauso gut ein vornehmer Herrensitz oder vielleicht ein Privathospital für die Superreichen sein können. Sie stand auf einem großen Grundstück, ein paar Meter von der Straße entfernt, war von Efeu überwuchert und hatte einen Glockenturm auf dem Dach.

St. Genevieve war eine Privatschule, eine der vielen, die sich im Zentrum von Dulwich im Londoner Süden zusammendrängten. Dulwich war ein merkwürdiger Stadtteil: Im Westen lag Streatham und im Osten Sydenham, beides Viertel mit Hochhäusern, Drogen- und Gewaltkriminalität. Aber in Dulwich war alles grün. Hier gab es altmodische Teestuben und an den Laternenpfählen hingen Blumenkörbe. Die meisten Autos waren Geländewagen und die Mütter, die sie fuhren, sprachen sich alle mit dem Vornamen an.

Scarlett war auf den ersten Blick anzusehen, dass sie nicht in England geboren worden war. Ihre Eltern mochten zwar typische Bewohner von Dulwich sein – ihre Mutter groß, blond und schick, ihr Vater ein Rechtsanwalt mit ergrautem Haar, einem rundlichen Gesicht und einer Brille –, aber sie sah ihnen kein bisschen ähnlich. Scarlett hatte lange schwarze Haare, merkwürdig braun-grüne Augen und die hellbraune Haut eines Mädchens, das aus China, Hongkong oder einem anderen Teil Ostasiens stammte. Sie war klein und schlank und ihr strahlendes Lächeln hatte sie schon aus so mancher peinlichen Lage gerettet. Sie war nicht die richtige Tochter der Adams. Das wusste jeder. Auch sie hatte es schon von frühester Kindheit an gewusst.

Sie war adoptiert. Paul und Vanessa Adams konnten keine eigenen Kinder bekommen und hatten sie in einem Waisenhaus in Jakarta entdeckt. Niemand wusste, wie sie dorthin gekommen war. Niemand kannte ihre leibliche Mutter. Scarlett versuchte, möglichst nicht an ihre Vergangenheit zu denken und daran, woher sie kam, aber sie fragte sich doch öfter, was passiert wäre, wenn das Paar, das den weiten Weg aus London gekommen war, das Baby in Bett sieben oder neun genommen hätte statt das in Bett acht. Würde sie dann jetzt irgendwo in Indonesien Reis pflanzen oder in einem Ausbeuterbetrieb Nike-Turnschuhe zusammennähen? Allein der Gedanke ließ sie schaudern.

Aber dazu war es nicht gekommen und sie lebte mit ihren Eltern in einer ruhigen Straße in der Nähe des Bahnhofs North Dulwich, von dem es bis zu ihrer Schule nur fünfzehn Minuten Fußweg waren. Ihr Vater Paul Adams war auf internationales Firmenrecht spezialisiert. Ihre Mutter Vanessa hatte ein Reisebüro und organisierte Reisen nach China und andere Länder im Fernen Osten. Die beiden waren so beschäftigt, dass sie kaum Zeit für Scarlett hatten – oder füreinander. Seit Scarlett fünf war, hatten sie deshalb eine Haushälterin, die sich um alles kümmerte. Christina Murdoch war klein und dunkelhaarig und hatte nicht den geringsten Sinn für Humor. Sie war aus Glasgow nach London gekommen und ihr Vater war Vikar. Davon abgesehen wusste Scarlett kaum etwas über sie. Die beiden kamen zwar ganz gut miteinander aus, aber ohne es laut auszusprechen, waren sie längst übereingekommen, dass sie nie Freundinnen sein würden.

Einer der Vorteile des Lebens in Dulwich war, dass Scarlett viele Freunde hatte, die alle in der Nachbarschaft lebten. Zwei Mädchen aus ihrer Klasse wohnten sogar in derselben Straße und ein Junge – Aidan Ravitch – nur fünf Minuten entfernt. Es war Aidan, wegen dem sie auf die Straße gelaufen war.

Aidan besuchte nun schon das zweite Jahr The Hall, eine andere Privatschule in Dulwich. Er war aus Los Angeles nach London gekommen, war groß für sein Alter und sah mit seinen struppigen Haaren und der leicht schlaffen Haltung auf eine entspannte Weise gut aus. Er trug tagein, tagaus dasselbe Kapuzenshirt, dieselben Jeans und Turnschuhe. Aidan konnte die Engländer nicht verstehen. Er behauptete, Dinge wie Fußball, die Teestunde und Doctor Who nicht zu kapieren. Aber vor allem die englischen Polizisten hatten es ihm angetan. „Warum müssen die diese dämlichen Hüte tragen?“ Er war Scarletts bester Freund, obwohl sie beide wussten, dass sein Vater, der für eine amerikanische Bank arbeitete, jederzeit wieder nach Hause geschickt werden konnte. Aber bis es so weit war, verbrachten sie so viel Zeit miteinander, wie sie konnten.

Der Unfall passierte an einem warmen Sommernachmittag. Scarlett war zu dieser Zeit dreizehn.

Es war kurz nach vier und Scarlett war auf dem Heimweg von der Schule. Allein die Tatsache, dass sie ohne Begleitung nach Hause gehen durfte, bedeutete ihr sehr viel. Ihre Eltern hatten erst an ihrem letzten Geburtstag endlich nachgegeben. Bis dahin hatten sie darauf bestanden, dass Mrs Murdoch sie jeden Tag am Schultor abholte, obwohl es viel jüngere Mädchen gab, die den Gefahren der Dulwich High Street ganz allein und ohne bewaffnete Eskorte trotzen durften. Scarlett hatte nie begriffen, wieso ihre Eltern so besorgt waren. Sie konnte sich nicht verlaufen. Ihr Weg führte vorbei an einem Blumengeschäft, einem Bioladen und einer Kneipe, wo sie möglicherweise ein paar alte Männer sehen konnte, die mit ihrer Mischung aus Bier und Limonade in der Sonne saßen. In der unmittelbaren Nachbarschaft gab es keine Drogenhändler, keine Kindesentführer und keine Axtmörder. Außerdem war es ja nicht so, als wäre sie allein auf weiter Flur gewesen. Von halb vier an waren die Straßen voller Mädchen und Jungen, die auf dem Weg nach Hause in alle Richtungen unterwegs waren.

Sie war an einer Ampel angekommen, wo fünf Straßen aufeinandertrafen, als sie Aidan entdeckte. Er war allein und hörte Musik. Sie konnte die weißen Kabel sehen, die von seinen Ohren herunterhingen. Er sah sie, lächelte und rief ihren Namen. Ohne nachzudenken, lief sie auf ihn zu.

Der Fahrer des Lieferwagens war ein fünfundzwanzigjähriger Kurierfahrer namens Michael Logue. Die Polizei würde später seine Personalien aufnehmen. Er transportierte Ersatzteile für eine Nähmaschinenfabrik in Bickley und hatte es dem Londoner Verkehr zu verdanken, dass er schon jetzt Verspätung hatte. Er war ganz sicher zu schnell, als er auf die Kreuzung zufuhr, aber andererseits war die Ampel eindeutig grün.

Scarlett war schon mitten auf der Straße, als sie ihn sah, und da war es viel zu spät. Sie sah, wie Aidan erschrocken die Augen aufriss, und drehte erst da den Kopf, weil sie wissen wollte, was er gesehen hatte. Sie erstarrte. Der Lieferwagen war schon fast über ihr. Sie konnte den Fahrer sehen, der sie über das Lenkrad hinweg anstarrte, voller Entsetzen, weil er genau wusste, was gleich passieren würde, und nichts dagegen tun konnte. Der Lieferwagen schien größer und größer zu werden, je näher er Scarlett kam. Schließlich füllte er ihr ganzes Gesichtsfeld aus.

Und dann passierte alles auf einmal.

Aidan schrie auf. Der Fahrer riss hektisch das Lenkrad herum. Der Lieferwagen geriet in gefährliche Schräglage. Und Scarlett wurde vorwärtsgestoßen, denn etwas – oder jemand – rammte mit unglaublicher Wucht ihren Rücken. Sie wollte aufschreien, aber der Schlag hatte ihr den Atem genommen und ihre Knie gaben unter ihr nach. Irgendwo in ihrem Gehirn registrierte sie, dass ein Passant vom Bürgersteig gesprungen war und sie zu retten versuchte. Sein Arm lag um ihre Taille, sein Kopf und seine Schulter pressten sich in ihren Rücken. Aber wie war er so schnell zu ihr gekommen? Selbst wenn er den Lieferwagen hatte kommen sehen und sofort losgesprintet war, hätte er sie kaum rechtzeitig erreichen können. Es war beinahe, als hätte er schon vorher gewusst, was passieren würde.

Der Lieferwagen schoss vorbei und verfehlte sie nur um Zentimeter. Sie spürte sogar den warmen Luftzug im Gesicht und konnte die Abgase riechen. Sie hatte zwei Bücher unter dem Arm gehabt, ein französisches Wörterbuch und das Mathebuch, denn in diesen Fächern standen ihr noch anderthalb Stunden Hausaufgaben bevor. Doch als sie nach vorn gestoßen wurde, flogen ihre Arme unkontrolliert hoch und die Bücher segelten durch die Luft, landeten auf der Straße und rutschten über den Asphalt, als hätte sie sie mit Absicht weggeworfen. Scarlett machte es ihnen nach. Während der Mann sie noch immer festhielt, ging sie zu Boden. Einen Moment fühlte sie einen scharfen Schmerz, als sie mit einem Knie aufschlug und sich die Haut abschürfte. Hinter sich hörte sie Reifenquietschen, Hupen und dann das grässliche Krachen von Metall auf Metall. Eine Autoalarmanlage heulte los. Scarlett lag still.

Die folgenden Augenblicke, in denen absolut nichts passierte, kamen ihr vor wie eine ganze Minute. Es war fast, als hätte jemand ein Foto gemacht, es eingerahmt und den Titel „Verkehrsunfall in Dulwich“ daraufgeklebt. Dann setzte sich Scarlett auf und sah sich um. Der Mann, der sie gerettet hatte, lag auf der Straße und sie erkannte nur, dass er Chinese war, um die zwanzig, mit schwarzen Haaren, Jeans und einer weiten Jacke. Sie sah an ihm vorbei. Der weiße Lieferwagen war um eine Verkehrsinsel geschleudert worden und auf den Bürgersteig geraten, wo er ein parkendes Auto gerammt hatte. Es war dieses Auto, dessen Alarm losgegangen war. Der Fahrer des Lieferwagens hing über dem Lenkrad und seine Haare waren voller Glassplitter.

Sie schaute wieder zurück. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt – vielleicht war sie aber auch schon von Anfang an da gewesen – und Leute eilten auf sie zu, vorbei an Aidan, der wie angewurzelt dastand. Er schüttelte den Kopf, als müsste er beteuern, dass es nicht seine Schuld war. Es hatten sich auch zwanzig oder dreißig Schüler eingefunden, die Fotos mit ihren Handys machten. Ein Polizist war so schnell aufgetaucht, als wäre er durch eine Falltür im Gehsteig gekommen. Er war der Erste, der bei Scarlett ankam.

„Bist du in Ordnung? Versuch jetzt bitte nicht, dich zu bewegen …“

Scarlett ignorierte ihn. Sie stützte eine Hand auf und rappelte sich hoch. Ihr Knie brannte wie Feuer und ihre Schulter fühlte sich an, als hätte sie einen Schlag mit einem Brecheisen abbekommen, aber sie war ziemlich sicher, dass sie nicht ernsthaft verletzt war. Sie sah Aidan an und dann den weißen Lieferwagen. Ein paar Leute halfen dem Fahrer heraus und legten ihn auf den Bürgersteig. Neben ihr sprach der Polizist eindringlich in sein Funkgerät und forderte Verstärkung an.

Schließlich tauchte Aidan bei ihr auf. „Scar …?“ Das war sein Name für sie. „Bist du okay?“

Sie nickte und war plötzlich den Tränen nahe, ohne zu wissen, warum. Vielleicht war es nur der Schock, das Wissen, was beinahe passiert wäre. Sie fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht und merkte erst da, wie schmutzig ihre Nägel waren und dass sie sich alle Fingerknöchel aufgeschürft hatte. Ihr Rock war auch zerrissen. Sie musste total demoliert aussehen.

„Du hättest tot sein können …!“ Warum sagte Aidan ihr das? Darauf war sie auch allein gekommen.

Aber seine Worte erinnerten sie an den Mann, der sie gerettet hatte. Sie sah nach unten und stellte verblüfft fest, dass er nicht mehr da war. Im ersten Moment glaubte sie an einen Zaubertrick – dass er sich irgendwie in Luft aufgelöst hatte. Aber dann sah sie ihn, schon am Ende der Straße, wo er an den Geschäften vorbeieilte. Er erreichte den Friseursalon an der Ecke, aus dem gerade eine Frau kam, drängte sich an ihr vorbei und dann war er weg.

Warum? Er war nicht einmal so lange geblieben, dass sie sich bei ihm bedanken konnte.

Danach lief alles viel langsamer ab. Ein Krankenwagen kam, den Scarlett nicht brauchte, aber der Lieferwagenfahrer wurde auf eine Trage gelegt und weggebracht. Auch Scarlett wurde untersucht, aber da nichts gebrochen war, durfte sie nach Hause gehen. Aidan ging mit ihr und eine Polizistin begleitete sie. Scarlett fragte sich, was Mrs Murdoch wohl dazu sagen würde. Sie wusste aber schon jetzt, dass es ganz sicher nicht auf Gelächter und übermütiges Auf-den-Rücken-Klopfen zur Schlafenszeit hinauslaufen würde.

Tatsächlich hatte der Unfall mehrere Konsequenzen.

Als Paul und Vanessa Adams am Abend erfuhren, was passiert war, und den ersten Schrecken, dass ihr einziges Kind beinahe überfahren worden wäre, überwunden hatten, fingen sie sofort an, darüber zu streiten, wessen Schuld es war: ihre eigene, weil sie Scarlett zu viel Freiheit gegeben hatten, Aidans, weil er sie abgelenkt hatte, oder Scarletts, die einfach auf die Straße gelaufen war – und das mit dreizehn Jahren. Schließlich entschieden sie, dass Mrs Murdoch in Zukunft wieder am Schultor auf Scarlett warten sollte. Es vergingen neun Monate, bis Scarlett wieder allein von der Schule nach Hause gehen durfte.

Wer ihr Retter gewesen war, blieb ein Rätsel. Woher war er gekommen? Wie hatte er erkannt, was gleich passieren würde? Warum war er so schnell verschwunden? Mrs Murdoch vermutete, dass er ein illegaler Einwanderer gewesen sein musste, der angesichts des herannahenden Polizisten die Flucht ergriffen hatte. Scarlett tat es nur leid, dass sie sich nicht bei ihm hatte bedanken können. Und wenn er in irgendwelchen Schwierigkeiten gewesen wäre, hätte sie ihm gern geholfen.

In dieser Nacht hatte sie den ersten Traum.

Scarlett hatte eigentlich nie lebhafte Träume. Normalerweise kam sie von der Schule, aß, machte ihre Hausaufgaben, spielte noch eine halbe Stunde mit ihrer Playstation und fiel dann in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der immer viel zu schnell zu Ende war, wenn Mrs Murdoch sie für den Start in einen neuen Schultag wach rüttelte. Aber dieser Traum war mehr als lebhaft. Er war so realistisch und detailliert, dass es fast so war, als sähe sie einen Film. Und da war noch etwas Merkwürdiges. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er nicht das Geringste mit ihrem Leben oder den Ereignissen dieses Tages zu tun.

Sie träumte, dass sie in einer matt erleuchteten Welt war, vielleicht auf einem anderen Planeten – dem Mond? In der Ferne sah sie einen riesigen Ozean, der sich zum Horizont und noch darüber hinaus erstreckte – aber da waren keine Wellen. Die Wasseroberfläche hätte auch eine riesige Metallplatte sein können. Alles war tot. Sie war von Dünen aus Staub umgeben, die irgendwie dorthin geweht worden waren und – wie der Staub auf dem Mond – dort bis in alle Ewigkeit unverändert bleiben würden. Scarlett ging los, doch es blieben keine Fußabdrücke zurück.

Ein Stück entfernt standen vier Jungen.

Sie suchten nach ihr. Wenn sie genau hinhörte, konnte sie sogar hören, wie sie ihren Namen riefen. Sie versuchte zurückzurufen, aber obwohl kein Wind wehte, nicht einmal eine Brise, wurden ihr die Worte vom Mund weggerissen.

Die Jungen waren nicht echt. Das konnten sie nicht sein. Scarlett hatte sie noch nie gesehen. Aber trotzdem war sie überzeugt, ihre Namen zu kennen.

Scott. Jamie. Pedro. Und Matt.

Sie kannte sie von irgendwoher. Sie waren sich schon begegnet.

Dies war das erste Mal, dass sie diesen Traum hatte, aber im Laufe der nächsten zwei Jahre kam er immer wieder. Allerdings veränderte er sich allmählich. Es kam ihr vor, als wären die Jungen jedes Mal ein Stück weiter weg, bis sie sich mit dem Gedanken vertraut machen musste, dass sie ganz allein war. Sie stellte fest, dass sie abends vor dem Schlafengehen immer darauf hoffte, sie zu sehen. Nein, es war mehr als das. Sie musste sie treffen.

Sie sprach nie über ihre Träume, nicht einmal mit Aidan. Aber irgendwo in ihrem Hinterkopf wusste sie, dass es die wichtigste Sache in ihrem Leben geworden war, diese vier Jungen zu finden.

DIE TÜR

Zwei Jahre später, als Scarlett gerade fünfzehn geworden war, wurde sie zum zweiten Mal in ihrem Leben Waise.

Paul und Vanessa Adams waren zwar nicht gestorben, dafür aber ihre Ehe. In gewisser Weise war es erstaunlich, dass sie es so lange miteinander ausgehalten hatten. Scarletts Vater hatte einen neuen Job bei einem multi-nationalen Konzern in Hongkong angenommen und ihre Mutter verbrachte mehr und mehr Zeit mit ihrem eigenen Betrieb und ihren Kunden, die anscheinend vierundzwanzig Stunden am Tag ihre Aufmerksamkeit forderten. Die beiden sahen immer weniger voneinander und stellten irgendwann fest, dass es ihnen so gefiel. Sie stritten nicht und schrien sich auch nicht an. Sie entschieden einfach, dass beide glücklicher sein würden, wenn sie sich trennten.

Als sie es Scarlett am Ende der Sommerferien mitteilten, war sie nicht sicher, wie sie sich deswegen fühlen sollte. Aber die Wahrheit war, dass es eigentlich nichts an ihrem Leben änderte. Die meiste Zeit war sie ohnehin mit Mrs Murdoch allein und auch wenn sie sich immer freute, ihre Eltern zu sehen, war sie doch daran gewöhnt, dass die beiden fast nie zu Hause waren. Die drei hatten ein letztes Gespräch in der Küche. Die beiden Erwachsenen machten ernste Gesichter und hielten ihre Weingläser fest.

„Deine Mutter wird mit ihrem Geschäft nach Australien gehen und sich in Melbourne niederlassen“, sagte Paul. „Sie muss dahin gehen, wo der Markt ist, und Melbourne ist eine große Chance für sie.“ Er warf Vanessa einen kurzen Blick zu und in diesem Moment erkannte Scarlett, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht waren die Australier tatsächlich ganz wild auf exotische Reisen. Aber ihre Mutter hatte mit Absicht ein Land gewählt, das so weit weg war wie möglich. Vielleicht hatte sie jemand Neues kennengelernt. Aus welchem Grund auch immer – sie wollte ein neues Leben anfangen. „Und was mich betrifft, so würde Nightrise es begrüßen, wenn ich nach Hongkong zöge …“

Die Nightrise Corporation. Das war der Konzern, für den ihr Dad arbeitete.

„Ich weiß, wie schwierig das für dich ist, Scarly“, fuhr er fort. „Zwei so gewaltige Veränderungen. Aber wir möchten uns beide um dich kümmern. Du kannst dir aussuchen, mit wem du leben willst.“

Eigentlich war es überhaupt nicht schwierig für Scarlett. Sie hatte bereits darüber nachgedacht und eine Lösung gefunden. „Wieso kann ich nicht hierbleiben?“, fragte sie.

„Allein?“

„Mrs Murdoch ist doch da. Ihr wollt das Haus nicht verkaufen, oder? Es ist mein Zuhause! Außerdem will ich St. Genevieve nicht verlassen. All meine Freunde sind hier …“

Natürlich protestierten ihre Eltern. Sie wollten Scarlett mitnehmen. Wie sollte sie ohne sie zurechtkommen? Aber eigentlich wussten sie alle, dass es so am besten und am einfachsten war. Mrs Murdoch arbeitete nun schon zehn Jahre für sie und kannte Scarlett vermutlich genauso gut wie sie selbst. In gewisser Weise hätten sie nicht glücklicher sein können, wenn sie selbst den Vorschlag gemacht hätten. Es war vielleicht etwas unüblich, aber eindeutig die beste Lösung für alle.

Und so war es entschieden. Ein paar Wochen später reiste Vanessa ab. Sie nahm Scarlett in den Arm und versprach ihr, dass sie sich schon bald wiedersehen würden. Insgeheim fragte sich Scarlett, ob das nicht eher unwahrscheinlich war. Sie hatte sich zwar immer um ein enges Verhältnis zu Vanessa bemüht, aber im Grunde hatten sie nichts gemeinsam. Sie waren nicht wirklich Mutter und Tochter und deshalb war es für Scarlett auch keine wirkliche Trennung.

Kurze Zeit später reiste Paul Adams nach Hongkong ab und plötzlich fand sich Scarlett in einem neuen Abschnitt ihres Lebens wieder, in dem sie quasi auf sich allein gestellt war. Aber wie sie erwartet hatte, war es wirklich kaum anders als vorher. Mrs Murdoch war immer noch da, kochte, putzte und sorgte dafür, dass sie zur Schule ging. Ihr Vater rief regelmäßig an, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Vanessa schickte lange E-Mails. Die Lehrer – die informiert waren – achteten besonders auf sie. Scarlett war selbst erstaunt, wie schnell sie sich an ihr verändertes Leben gewöhnte.

Sie war glücklich. Sie hatte viele Freunde und Aidan war auch noch da. Die beiden unternahmen jetzt noch mehr zusammen. Sie gingen shoppen, hörten Musik oder gingen mit Aidans schwarzem Labrador auf der Gemeindewiese von Dulwich spazieren. Scarlett durfte wieder allein von der Schule nach Hause gehen. Genau genommen hatte sie jetzt sogar deutlich mehr Freiheiten als vorher. An den Wochenenden ging sie ins Kino. Sie übernachtete bei Mädchen aus ihrer Klasse. Sie hatte eine große Rolle für die Weihnachtsaufführung bekommen, was Proben am späten Nachmittag und Stunden des Textlernens am Abend bedeutete. Das alles beschäftigte sie so, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, wie ungewöhnlich ihr Leben war.

An einem Novembertag änderte sich alles. Es war, als Miss Chaplin ihr großes Bombenkriegs-Projekt ankündigte – einen Ausflug in den Osten von London.

Joan Chaplin war die Kunstlehrerin von St. Genevieve und berühmt dafür, jünger, netter und wesentlich lockerer zu sein als die vielen Dinosaurier, die das Lehrerzimmer bevölkerten. Sie fand immer neue Wege, das Interesse der Mädchen zu wecken, gewöhnlich, indem sie mit ihnen Ausflüge zu Ausstellungen und Veranstaltungen in ganz London unternahm. Eine Klasse hatte den gewaltigen Riss besichtigt, der in den Fußboden der Tate Gallery eingebaut worden war. Eine andere hatte einen in einem Becken aufgehängten Hai betrachtet, eine Installation des Künstlers Damien Hirst. Noch Wochen später hatten sie darüber diskutiert, ob es sich dabei um ein Kunstwerk gehandelt hatte oder nur um einen toten Fisch.

Viele der Mädchen hatten als Prüfungsthema den Zweiten Weltkrieg gewählt und zurzeit beschäftigten sie sich mit der Bombardierung Londons durch deutsche Flieger. Miss Chaplin hatte beschlossen, dieses Thema auch in ihrem Kunstunterricht aufzugreifen.

„Ich möchte, dass ihr ein Gefühl für den Geist jener Zeit bekommt“, erklärte sie. „Was macht es für einen Sinn, etwas darüber zu lernen, wenn ihr es nicht fühlt?“ Sie verstummte kurz, um ihren Schülerinnen Gelegenheit zum Protestieren zu geben, und als nichts kam, fuhr sie fort. „Ihr könnt jedes Medium benutzen, Fotografie, Malerei, Collage oder meinetwegen auch Modellieren mit Ton. Ich möchte, dass ihr mir eine Vorstellung davon vermittelt, wie es gewesen sein könnte, im Winter 1940 in London zu leben.“

In der Klasse war zustimmendes Gemurmel zu hören. Einen Ausflug zu machen war natürlich aufregender, als alles nur in Büchern nachzulesen. Scarlett freute sich besonders darauf. Geschichte und Kunst gehörten zu ihren Lieblingsfächern und jetzt bekam sie die Gelegenheit, beide miteinander zu verbinden.

„Am Montag fahren wir nach Shoreditch“, fuhr Miss Chaplin fort. „Das ist ein Viertel von London, das besonders heftig bombardiert wurde. Wir werden uns viele der Straßen ansehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es gewesen sein muss, und wir werden auch einige Häuser sehen, die erhalten geblieben sind.“

Sie warf einen Blick nach draußen. Der Kunstraum lag im Erdgeschoss und erlaubte einen Blick in den Garten und auf die dahinter liegenden Tennisplätze. Es war Freitag und es regnete. Der Regen fiel in Strömen, der Rasen war durchweicht. So war es nun schon seit drei Tagen.

„Natürlich“, erklärte Miss Chaplin weiter, „werden wir nicht fahren können, wenn sich das Wetter nicht bessert. Und ich muss euch warnen: Der Wetterbericht ist nicht besonders vielversprechend. Aber vielleicht haben wir trotzdem Glück. Denkt bitte in jedem Fall daran, eure Eltern die Einwilligung unterschreiben zu lassen.“ Dann kam ihr noch ein Gedanke und sie lächelte. „Was meinst du, Scarlett?“

Das war eine Art Scherz in St. Genevieve.

Scarlett Adams schien immer zu wissen, wie das Wetter wurde. Niemand wusste, wann das angefangen hatte, aber alle waren sich darüber einig. Man brauchte sich nur anzusehen, was Scarlett anhatte, und schon wusste man, wie der Tag werden würde. Wenn sie ihren Schal vergaß, wurde es warm. Wenn sie einen Schirm dabeihatte, regnete es. Nach einer Weile fingen die anderen an, sie nach ihrer Meinung zu fragen. Wenn ein wichtiges Tennisspiel oder ein Picknick am Fluss geplant waren, redete man mit Scarlett. Und wenn man darauf hoffte, dass ein lästiger Geländelauf abgesagt wurde, würde sie es wissen.

Natürlich hatte sie nicht immer recht. Aber etwa neunzig Prozent ihrer Vorhersagen stimmten.

Jetzt sah sie aus dem Fenster. Draußen war es grässlich. Dunkelgraue Wolken bedeckten den gesamten Himmel. Regentropfen rannen über die Fensterscheiben. „Es wird schön“, sagte sie. „Nach dem Wochenende wird es aufklaren.“

Miss Chaplin nickte. „Ich hoffe, du hast recht.“

Sie hatte recht. Es regnete den ganzen Sonntag und in der Nacht zum Montag nieselte es. Aber als Scarlett am Montagmorgen aufwachte, war der Himmel blau. Sogar Mrs Murdoch pfiff ein Liedchen, während sie Scarletts Lunchpaket packte. Es war, als wäre der Sommer zu einem letzten Gastauftritt zurückgekehrt.

Der Bus kam am späten Vormittag. Der Ausflug, der den Kunst- und den Geschichtsunterricht kombinierte, sollte zwei Schulstunden und die Mittagspause dauern und wegen des Londoner Verkehrs würden die Mädchen sicher nicht vor Schulschluss zurück sein. Als sie in St. Genevieve abfuhren, erklärte ihnen Miss Chaplin über das Busmikrofon, was sie geplant hatte.

„Wir machen unsere Mittagspause an der St.-Pauls-Kathedrale“, sagte sie. „Sie ist interessant für uns, weil sie trotz heftiger Bombardierung nicht zerstört wurde. Dann bringt uns der Bus nach Shoreditch, wo wir uns zu Fuß umsehen werden. Da es noch zu feucht ist, um draußen zu sitzen, habe ich mich für St. Meredith in der Moore Street entschieden. Das ist eine der ältesten Kirchen Londons. An dieser Stelle stand bereits im dreizehnten Jahrhundert eine Kapelle.“

„Warum besichtigen wir eine Kirche?“, fragte eines der Mädchen.

„Weil sie im Krieg eine wichtige Rolle gespielt hat. Viele Menschen aus der Nachbarschaft haben während der Bombardierung dort Zuflucht gesucht. Sie glaubten tatsächlich, dass die Kirche sie schützen würde – dass sie dort sicher wären.“

Sie verstummte. Der Bus hatte die Themse erreicht und fuhr über die Blackfriars-Brücke. Scarlett blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah sie das Riesenrad, das Millennium Wheel, dessen silberner Rahmen in der Sonne glänzte. Der Anblick machte sie traurig. Sie war in den Ferien mit ihren Eltern in diesem Riesenrad gefahren. Das war eines der letzten Dinge gewesen, die sie gemeinsam gemacht hatten, als sie noch eine Familie waren.

„… allerdings ist sie am 2. Oktober 1940 getroffen worden.“ Miss Chaplin sprach immer noch über St. Meredith. Scarlett hatte ihre Gedanken schweifen lassen und deswegen nur die Hälfte mitbekommen. „Sie wurde nicht zerstört, aber schwer beschädigt. Dort könnt ihr mit euren Skizzenblöcken arbeiten. Wir haben die Erlaubnis, uns in der Kirche aufzuhalten, und ihr dürft euch überall umsehen. Versucht, die Atmosphäre zu spüren. Stellt euch vor, wie es gewesen sein muss, als überall die Bomben explodiert sind.“

Miss Chaplin schaltete das Mikrofon aus und setzte sich auf den Platz neben dem Fahrer.

Scarlett saß ein paar Reihen hinter ihr, neben ihrer Freundin Amanda, die in derselben Straße wohnte wie sie. Ihr fiel auf, dass Amanda die Stirn runzelte.

„Was ist?“, fragte sie.

„St. Meredith“, antwortete Amanda.

„Was ist damit?“

Amanda brauchte ein paar Momente, um sich zu erinnern. „Da ist jemand ermordet worden. Vor ungefähr sechs Monaten.“

„Im Ernst?“

„Ja, ganz sicher.“

Jedem anderen hätte Scarlett das sicher nicht geglaubt. Aber sie wusste, dass Amanda sich sehr für Morde interessierte. Sie hatte alle Agatha-Christie-Krimis gelesen und verpasste auch keinen Kriminalfilm im Fernsehen. „Und wer ist umgebracht worden?“, fragte sie.

„Ich erinnere mich nicht genau“, sagte Amanda. „Irgendein Typ. Ein Bibliothekar, glaube ich. Er ist erstochen worden.“

Scarlett hielt das für ziemlich unwahrscheinlich und als der Bus an der St.-Pauls-Kathedrale hielt, ging sie zu Miss Chaplin. Zu ihrer Verblüffung zögerte die Lehrerin nicht einmal. „Ja, das stimmt“, bestätigte sie. „Dort gab es diesen Sommer einen Zwischenfall. Ein Mann ist von einem Unbekannten angegriffen worden. Ich glaube nicht, dass die Polizei den Täter gefasst hat, aber das alles ist schon so lange her. Es beunruhigt dich doch nicht, oder Scarlett?“

„Nein“, sagte Scarlett. „Natürlich nicht.“

Aber das war nicht ganz die Wahrheit. Insgeheim beunruhigte es sie doch, wenn sie auch nicht erklären konnte, wieso. Sie hatte eine böse Vorahnung, die immer stärker wurde, je näher sie der Kirche kamen.

Ihre Kunstlehrerin hatte diesen Teil Londons aus gutem Grund gewählt. Hier war der Flickenteppich aus Alt und Neu besonders gut zu sehen und es gab große Baulücken, wo Häuser oder sogar ganze Straßen von den Bomben vernichtet worden waren. Die meisten Geschäfte waren schäbig, mit Plastikschildern und Schaufenstern voller Dinge, die die Menschen vermutlich brauchten, aber sicher nicht kaufen wollten: Staubsauger, Hundefutter … hundert Artikel für weniger als ein Pfund. Ein hässliches Parkhaus überragte die Gebäude, aber es war schwer, sich vorzustellen, wieso hier jemand parken sollte. Der Verkehr rauschte auf vier Spuren vorbei, als könnten die Autofahrer nicht schnell genug wegkommen.

Dennoch gab es ein paar Hinweise darauf, wie die Gegend einst ausgesehen hatte: eine gepflasterte Gasse, eine Gaslampe, eine rote Telefonzelle, ein Haus mit Säulen und einem eisernen Zaun. Das London von vor siebzig Jahren. Das war es, was Miss Chaplin ihnen hatte zeigen wollen.

Sie bogen in die Moore Street ein. Es war eine Sackgasse, schmal und voller Pfützen und Schlaglöcher. Auf einer Straßenseite war eine Kneipe und gegenüber ein Waschsalon, der allerdings geschlossen hatte. St. Meredith stand am Ende der Straße, eine aus roten Backsteinen gemauerte Kirche, die viel zu groß für dieses Viertel war. Die Schäden des Krieges waren auf den ersten Blick zu erkennen. Der Turm war nachträglich angeflickt worden. Er hatte nicht einmal die gleiche Farbe wie der Rest des Bauwerks und passte auch nicht richtig zu den riesigen Eichentüren oder den Fenstern mit ihren schweren Steinrahmen.

Drinnen fühlte Scarlett sich noch unbehaglicher. Sie fuhr zusammen, als die Tür dröhnend hinter ihr zuschlug und der Londoner Verkehrslärm und ein Großteil des Tageslichts plötzlich wie abgeschnitten waren – und damit jedes Gefühl, sich in einer modernen Großstadt zu befinden.

Das Innere der Kirche erstreckte sich bis zum weit entfernten silbernen Kreuz über dem Altar, auf das ein Strahl staubigen Lichts fiel. Überall sonst hielten die Buntglasfenster das Licht fern und in der matten Beleuchtung verschwammen die Farben. Hunderte Kerzen flackerten nutzlos in eisernen Haltern. Scarlett konnte die kleinen, in die Wände eingelassenen Seitenkapellen erkennen. Auch wenn sie versuchte, nicht an den Mord zu denken, der hier verübt worden war, empfand sie St. Meredith trotzdem nicht als besonders heiligen Ort. Diese Kirche war einfach nur gruselig.

Die anderen Mädchen schienen ihre Gefühle nicht zu teilen. Sie hatten ihre Skizzenbücher herausgeholt, saßen in den Bankreihen, unterhielten sich und zeichneten, was sie draußen gesehen hatten. Miss Chaplin sah sich die Kanzel an, die die Form eines Adlers hatte. Offenbar neigten die Londoner nicht dazu, nachmittags um zwei zu beten, denn sie hatten die Kirche für sich allein.

Scarlett sah sich nach Amanda um, aber die Freundin unterhielt sich auf der anderen Seite des Querschiffes mit einem anderen Mädchen und so setzte Scarlett sich hin und schlug ihren Block auf. Sie musste aufhören, an den Mord zu denken. Um sich abzulenken, machte sie sich stattdessen Gedanken über die Menschen, die in den Bombennächten in der Kirche Schutz gesucht hatten. Hatten die wirklich geglaubt, dass St. Meredith irgendwelche geheimen Kräfte besaß und dass sie hier sicherer waren als in einem Keller oder U-Bahn-Tunnel? Sie stellte sich vor, wie sie hier gesessen und gebetet hatten, während über ihnen die Luftwaffe hinwegdonnerte. Vielleicht würde sie das zeichnen.

Sie schauderte. Sie hatte zwar einen Mantel an, aber es war eiskalt in der Kirche. Es kam ihr hier drinnen kälter vor als draußen. Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Reihe Kerzen hatte geflackert, als wäre eine Brise vorbeigezogen. War jemand hereingekommen? Nein. Die Tür war noch zu. Niemand hätte sie öffnen und schließen können, ohne dass sie es gehört hätte.

Ein Junge ging vorbei. Im ersten Augenblick nahm Scarlett ihn kaum wahr. Er bewegte sich im Schatten an der Seite und ging zwischen den Säulen und den Seitenkapellen in Richtung Altar. Er machte kein Geräusch. Nicht einmal seine Schritte auf dem Marmorfußboden waren zu hören. Er hätte auch schweben können. Sie sah ihn an, als er vorbeiging, und einen Moment lang fiel das Licht einer nackten Glühbirne auf sein Gesicht.

Sie kannte ihn.

Einen Augenblick lang war sie vollkommen durcheinander, weil sie nicht wusste, woher sie ihn kannte. Und plötzlich fiel es ihr ein. Es war total verrückt. Es war unmöglich. Andererseits bestand nicht der geringste Zweifel.

Es war ein Junge aus ihrem Traum, einer der vier, die sie so oft zusammen in dieser grauen Wüste gesehen hatte. Sie wusste sogar, wie er hieß.

Es war Matt.

In normalen Träumen sah Scarlett die Gesichter der Menschen nicht – oder wenn sie sie sah, hatte sie sie beim Aufwachen bereits wieder vergessen. Aber diesen Traum hatte sie nun schon seit zwei Jahren immer wieder. Sie erkannte Matt und die anderen mittlerweile sofort nach dem Einschlafen und deswegen hatte sie ihn auch jetzt erkannt. Kurze dunkle Haare. Breite Schultern. Blasse Haut und tiefblaue Augen. Er war ungefähr in ihrem Alter, wenn auch etwas an ihm war, was ihn älter wirken ließ. Vielleicht war es seine Art zu gehen, dieses Zielstrebige. Er ging wie jemand, der eine Menge Probleme und Verantwortung hat.

Was machte er hier? Wie war er überhaupt hereingekommen? Scarlett drehte sich zu einem Mädchen um, das in ihrer Nähe saß und dem Gekritzel auf seinem Block zufolge eine riesige Explosion malte.

„Hast du ihn gesehen?“, fragte sie.

„Wen?“

„Den Jungen, der gerade vorbeigegangen ist.“

Das andere Mädchen sah sich um. „Was für ein Junge?“

Scarlett wandte sich wieder nach vorn. Der Junge war verschwunden. Einen Moment lang zweifelte sie an sich selbst. Hatte sie ihn sich nur eingebildet? Aber dann sah sie ihn wieder, ein Stück von ihr entfernt. Er stand vor einer Tür. Nach einem Augenblick des Zögerns drehte er den Türgriff und ging hindurch. Die Tür schloss sich hinter ihm.

Scarlett folgte ihm. Sie tat es, ohne darüber nachzudenken. Sie legte einfach ihren Block hin, stand auf und ging ihm nach. Erst als sie schon vor der Tür stand, fragte sie sich, was sie hier eigentlich machte. Sie jagte jemandem hinterher, den sie nie getroffen hatte, der vielleicht nicht einmal existierte. Was, wenn sie ihm plötzlich gegenüberstand? Was sollte sie sagen? „Hi, ich bin Scarlett und habe von dir geträumt. Hast du Lust auf einen Big Mac?“ Er würde sie für verrückt halten.

Die Tür, durch die er gegangen war, befand sich in der Außenwand unter einem Buntglasfenster, das so düster und verdreckt war, dass man das Bild nicht mehr erkennen konnte. Scarlett vermutete, dass die Tür nach draußen führte, vielleicht auf den Friedhof, falls die Kirche einen hatte. Die Tür sah irgendwie merkwürdig aus. Sie war sehr klein, was überhaupt nicht zum Rest der Kirche passte. Ins Holz war ein Symbol eingeschnitzt, ein fünfzackiger Stern.

Sie zögerte. Bei Klassenausflügen durften sie sich nicht von der Gruppe entfernen. Aber sie würde ja nicht weggehen. Wenn sie den Jungen auf der anderen Seite der Tür nicht sah, würde sie einfach wieder hineingehen. Statt einer Türklinke hatte die Tür einen eisernen Ring. Sie drehte ihn und ging hindurch.

Zu ihrer Verblüffung landete sie nicht auf der Straße, sondern in einem breiten, hell erleuchteten Gang. Lodernde Fackeln steckten in eisernen Wandhaltern und die Flammen züngelten hoch zur Gewölbedecke. Der Gang war vollkommen schmucklos und wirkte alt und neu zugleich, denn der Putz bröckelte zwar ab, aber darunter kamen Ziegelsteine zum Vorschein. Es musste eine Art Kreuzgang sein, den die Priester benutzten, wenn sie ihre Ruhe haben wollten. Aber der Gang passte nicht zum Rest von St. Meredith. Er hatte nicht nur eine andere Farbe, auch Größe und Form passten nicht.

Außerdem war es lausig kalt, viel kälter als vorher. Als Scarlett ausatmete, hatte sie eine Dampfwolke vor dem Gesicht. Es kam ihr vor, als stünde sie in einem Kühlschrank, dabei hatten sie doch gerade erst die erste Novemberwoche. Es fühlte sich an, als wäre tiefster Winter. Sie rieb sich in der beißenden Kälte die Arme.

Ihr gegenüber saß ein Mann auf einem Stuhl, mit dem Gesicht zur Tür. Anfangs war er ihr nicht aufgefallen, weil er im Schatten saß. Mit der langen schmutzig braunen Kutte, die ihm bis auf die in Sandalen steckenden nackten Füße reichte, sah er aus wie ein Mönch. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und saß zusammengesunken da. Scarlett hatte bereits beschlossen, kehrtzumachen und zurückzugehen, doch bevor sie sich bewegen konnte, schaute er auf. Scarlett schnaufte entsetzt auf, als seine Kapuze zurückfiel.

Er war einer der hässlichsten Männer, die sie jemals gesehen hatte. Er war vollkommen kahl und die Haut spannte sich über seinem Schädel, der weiß und tot aussah. Sein Kopf war irgendwie deformiert – er war zu schmal und eine Seite war eingedrückt wie ein Ei, auf das man mit dem Löffel geschlagen hat. Seine eingesunkenen Augen waren schwarz und er hatte grässliche Zähne, die sichtbar wurden, als er seine dünnen Lippen zu einem Lächeln verzerrte, sodass sie aussahen wie eine Messerwunde. Was hatte er hier gemacht? Wieso saß er hier? Sie sah nach links und rechts, aber es war sonst niemand da. Der Junge namens Matt – wenn er es überhaupt gewesen war – war verschwunden.

Der Mann sagte etwas. Scarlett verstand kein einziges seiner knarrenden Worte. Es hörte sich an wie Russisch oder Polnisch oder so etwas. Scarlett wich zurück.

„Tut mir leid“, sagte sie. „Ich muss mich in der Tür geirrt haben.“

Sie fuhr herum und griff hektisch nach dem Türgriff, doch der Mönch war schneller. Er sprang auf, packte ihre Schultern und zerrte sie von der Tür weg. Er war sehr stark, seine Finger krallten sich in sie wie Stahlzangen.

„Loslassen!“, schrie sie.

Sein knochiger Arm legte sich um ihre Kehle und hinderte sie am Atmen. Er hielt sie mit einer unglaublichen Kraft fest und schrie noch mehr Worte, die sie nicht verstand. Seine Stimme klang schrill wie die Schreie eines Tieres. Am Ende des Ganges tauchte ein zweiter Mönch auf. Scarlett konnte ihn nicht genau sehen. Sie erhaschte nur einen Blick auf die wehende Kutte, als er auf sie zurannte.

Trotzdem kämpfte sie weiter. Sie versuchte mit beiden Händen, nach den Augen des Mönchs zu krallen. Sie trat mit einem Fuß nach hinten und rammte ihren Ellbogen dorthin, wo sie seinen Magen vermutete. Aber sie erwischte ihn nicht. Und dann warf sich der zweite Mönch auf sie.

Im nächsten Augenblick lag sie auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Sie zappelte und wand sich und die Haare fielen ihr übers Gesicht. Die Mönche lachten nur.

Scarlett spürte den kalten Steinboden unter ihrem Rücken, als die beiden Männer sie wegschleiften.

PATER GREGORY

Die Zelle war winzig – weniger als zehn Quadratmeter – und vollkommen leer. Nicht einmal einen Stuhl oder eine Bank gab es darin. An den gemauerten Wänden waren Überreste abgeblätterter Farbe zu erkennen, was vermuten ließ, dass sie irgendwann einmal gestrichen gewesen sein mussten. Die Tür bestand aus drei dicken Brettern, die mit Metallbändern verbunden waren. Es gab ein vergittertes Fenster, doch es war so hoch oben, dass selbst jemand, der deutlich größer war als Scarlett, nicht hätte hinaussehen können. Zusammengesunken auf dem Steinboden, konnte sie gerade mal einen schmalen Streifen Himmel sehen. Aber schon dieser Anblick reichte aus, um ihr Angstschauer über den Rücken zu jagen.

Denn es war dunkel. Noch nicht ganz dunkel, aber fast. Ihr wurde bewusst, dass es in nur wenigen Stunden stockfinster in ihrer Zelle sein würde, weil man ihr weder eine Kerze noch elektrisches Licht gegeben hatte. Aber wie war das möglich? Es war ungefähr zwei Uhr gewesen, als sie St. Meredith betreten hatten, und die Sonne hatte geschienen. Jetzt plötzlich war es früher Abend. Wo war die Zeit dazwischen geblieben?

Scarlett zitterte – aber nicht nur vor Angst. Es war eiskalt in der Zelle. Das Fenster hatte keine Scheibe und es gab keine Heizung. Die nackten Mauern machten alles noch schlimmer. Zum Glück hatte sie ihren Wintermantel an, den sie jetzt eng um sich zog. So kalt war ihr noch nie gewesen. Scarlett konnte sogar die Knochen in ihren Armen und Beinen spüren. Sie fühlten sich so hart und kalt an, dass sie glaubte, sie müssten zerspringen.

Verzweifelt überlegte sie, was passiert sein konnte. Aus Gründen, die sie nicht einmal ahnte, hatte ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, sie gepackt und in diese Zelle gesperrt. War sie vielleicht in irgendeinen geheimen Trakt der Kirche geraten, den niemand sehen durfte? Der dunkle Himmel widersprach dieser Theorie. Er und die Eiseskälte. Außerdem fiel ihr wieder ein, dass der Mönch eine fremde Sprache gesprochen hatte.

Sie war nicht mehr in London.

Es war verrückt, aber sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden, als der Mönch sie gepackt hatte. Vielleicht hatten sie sie betäubt und sie war ohne Bewusstsein gewesen, ohne es zu merken. Alles deutete darauf hin, dass dies hier nicht England war. Irgendwie hatte man sie weggeschafft.

Plötzlich wurde sie wütend, rappelte sich auf und ging zur Tür. Sie würde ganz sicher nicht herumsitzen und darauf warten, dass die Kerle zurückkamen. Was, wenn sie nie zurückkamen? Dann würde sie hier sterben. Scarlett erkannte schnell, dass die Tür kein Ausweg war, jedenfalls nicht, solange sie nicht jemand von der anderen Seite aufschloss. Sie war massiv und hatte ein Loch für einen altmodischen Schlüssel. Scarlett schaute durchs Schlüsselloch, aber es gab nichts zu sehen. Sie richtete sich wieder auf und hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz.

„He! Kommt zurück! Lasst mich raus!“

Aber es kam niemand. Sie war sich nicht einmal sicher, ob man ihre Stimme draußen hören konnte.

Damit blieb nur noch das Fenster. Ob sie an dem groben Mauerwerk zu ihm hochklettern konnte? Scarlett versuchte es, aber ihre Fingerspitzen fanden nicht genügend Halt. Außerdem standen die Gitterstäbe so eng zusammen, dass sie sich nicht hätte hindurchquetschen können, selbst wenn auf der anderen Seite ein Ausweg gewesen wäre. Nein. Sie steckte in einem massiven Kasten ohne Falltüren, ohne Geheimgänge, ohne magischen Weg nach draußen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis jemand kam.