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HOUSE OF RAIN

Greg F. Gifune

übersetzt von

Nicole Lischewski



Copyright © by Greg F. Gifune

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By arrangement with Greg F. Gifune

FÜNF

Südostasien. Erschöpft, zerschlagen und blutig klammert er sich an den Stamm eines verdrehten, umgestürzten Baumes, treibt den dreckigen Fluss hinunter … treibt … auf was auch immer zu. Aber er ist in der Hölle. So viel weiß er. Und er wird hier so bald nicht rauskommen. Die Möglichkeit, dass er hier niemals wieder rauskommt, besteht durchaus, was ihm inzwischen aber egal ist. Es ist schon sehr lange her, dass ihm nicht alles egal ist. Wenn er stirbt, dann soll es nun mal so sein. Wenn schon sonst nichts, dann wird dieser Horror dadurch endlich ein Ende finden, und was ihn auf der anderen Seite erwartet – oder auch nicht – kann nicht viel schlimmer sein. Dessen ist er sich sicher, als er sich an das tote Treibholz klammert und den Dschungel an beiden Seiten wie im Traum vorüberziehen sieht. So viel schwarzer Rauch steigt wirbelnd von brennenden Dingen und brennenden Menschen auf; wenn er nur für einen kleinen Moment schlafen könnte, würde das alles verschwinden. Aber wenn er schläft, wird er von seinem Baum rutschen und in das dreckige und blutige Wasser sinken und niemals mehr heimkommen. Wäre das so schlecht? Warum macht er es nicht einfach und fertig? Weil er der Hölle diese Befriedigung nicht geben und willentlich aufgeben will. Wenn die Hölle ihn will, dann wird sie ihn sich holen müssen, ihn fortreißen und tretend und schreiend in die Vergessenheit schleppen müssen.
Um ihn herum treiben zerschundene Leichen – manche nur einzelne Körperteile – wie dämonische Bojen. Früher hat er in seinen Albträumen Tote gesehen, aber das ist ihm nicht mehr vergönnt: Jetzt kommen sie ihm ständig hinterher, genauso hartnäckig wie sie ihn lebendig verfolgt haben. Doch jetzt gehören sie dem Fluss. Der hat sie an sich gerissen, wie er auch ihn zu holen versucht, an ihm zieht, hofft, ihn unter die Oberfläche zu zerren. Alles riecht nach Benzin, Fäkalien und Urin, nach verkohltem und brennendem menschlichen Fleisch. Nach Tod.
Er sieht ein Kriegsschiff aus der Ferne auf sich zukommen. Ein Rolling Stones Song dröhnt aus den Lautsprechern. Wieder einmal wird er überleben und den Tod übers Ohr hauen, während andere um ihn herum abgeschlachtet werden. Sie werden ihn aus diesem Fluss des Bösen fischen, jedoch nicht, bevor der ihn mit seinen Sünden getauft hat … und er ihn mit seinen eigenen … und einen Teil von sich für immer in diesem Fluss zurückgelassen hat. Etwas, das er nie wiederbekommen kann. Wie so viele andere hat dieser Dschungel auch ihn verflucht, ihn weit von Zuhause weg zu einem blassen Gespenst werden lassen, das an den schlammigen Ufern des Flusses steht, in dessen Blut es gebadet hat, dessen Lügen es trägt.
Als Gordon den Bürgersteig entlanggeht, verlassen ihn seine Albträume und sein Blick fällt auf den Friedhof in der Ferne, oben auf einem Hügel. Der Regen ist schwächer geworden, fällt aber weiterhin in wehenden Dunstschleiern. Er kämpft sich den Hügel hoch, hält zweimal inne, um Atem zu schöpfen, bevor er am Tor ankommt. Es steht offen. Er schaut sich um. Hier, am Rande der Stadt, gibt es wesentlich weniger Gebäude, nicht so viel Beton, mehr Bäume und Gras, weniger Autos und weniger Menschen. Es ist nicht so leicht, sich hier zu verstecken, und obwohl er allein zu sein scheint, weiß er, dass er es nicht ist.
Er geht durch das Tor. Seine Schuhe schmatzen auf dem aufgeweichten Rasen, der sich entlang des Pfads zum ersten Abschnitt der Gräber hinzieht. Ein Meer von Gräbern erwartet ihn: Krypten, Gruften, Grabsteine, Mausoleen und Engelsstatuen erstrecken sich, soweit das Auge reicht. Doch ironischerweise kann Gordon hier in diesen langen Korridoren aus bedeutungslosem Stein und verrottendem Fleisch, den Staub gesetzten Monumenten, von den Toten nichts spüren.
Es ist lange her, dass Gordon das letzte Mal hier gewesen ist, daher dauert es einen Moment, bis er sich erinnert; aber als er es schließlich tut, folgt er den schmalen asphaltierten Wegen zwischen den Gräbern. Nach einiger Zeit erreicht er, was er besuchen will: einen kleinen Grabstein aus dunkelgrauem Granit. In die Vorderseite ist ein Kreuz eingemeißelt und darunter steht Katharinas Name, ihr Geburtsdatum und Todestag. Daneben stehen Gordons Name und sein Geburtstag, dann ein Bindestrich und danach nichts. Wie seltsam, den eigenen Namen schon auf einen Grabstein gemeißelt zu sehen, wo er einen bereits erwartet. Ein grüner Plastikblumentopf mit einem Riss liegt vor dem Grabstein; die bunten Blumen, die einst darin wuchsen, sind schon lange tot. Gordon erinnert sich, wie er das letzte Mal mit Harry hier war, Monate war das inzwischen her, und wie sie die eingetopften Blumen gekauft hatten. Er gibt sich Mühe, seinen Gedanken und Vorstellungen von dem Körper unter seinen Füßen, in den schrecklichen Sarg gezwängt, aus dem Weg zu gehen. Sein Blick wandert zu ihrem Namen zurück, den seine Tränen verschwimmen lassen. »Katy«, flüstert er. »Meine Katy.«
»Gordon …«
Der Wind raschelt in den Zweigen eines in der Nähe wachsenden Baums und erregt seine Aufmerksamkeit. Er reibt sich die Augen, bis sie wieder klar sehen, und schaut dann erneut hin. Aber er hat sich nicht getäuscht. Dort in dem Baum ist etwas … etwas auf einem dicken Ast nicht weit über dem Boden, das dort nicht hingehört. Er geht ein paar Schritte auf den Baum zu, der ungefähr zehn Meter von ihm entfernt ist, und starrt angestrengt in den Nieselregen.
Was zum Teufel ist das?
Gordon geht noch einen Schritt näher, und dann sieht er ihn: Ein schwarz gekleideter Mann sitzt auf dem Ast und beobachtet ihn mit einem schiefen Lächeln. Seine Beine baumeln und schwingen hin und her wie die eines Kindes. Er weiß, was er sieht, aber sein Verstand kann es nicht begreifen.
»Hallo, Gordon«, sagt der Mann. Seine Stimme ist weich und tief, fast melodisch, und er scheint um die dreißig zu sein. Er ist so gut aussehend, dass er fast schon hübsch ist, mit auffallenden eisblauen Augen und dichtem schwarzen Haar, das ihm nach hinten gekämmt bis auf die Schultern hängt. Sein Ziegenbärtchen ist perfekt getrimmt und betont seine strahlend weißen Zähne. »Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich warte schon.«
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Ich kenne jedermanns Namen.« Langsam rutscht er vom Ast herunter und lässt sich zu Boden gleiten, landet mühelos auf den Füßen. Sein langer schwarzer Ledermantel flattert im Wind, als er näherkommt. »Aber manche behalte ich besser als andere«, fügt er mit demselben schiefen Lächeln auf seinem gut aussehenden Gesicht hinzu. »Wir haben uns schon mal getroffen. Erzähl mir nicht, dass du dich daran nicht mehr erinnerst.«
Im weitesten Sinne kommt er ihm tatsächlich bekannt vor, so wie eine halb vergessene Erinnerung am Rande eines alten Traums. Aber er will ganz und gar nicht, dass er ihm bekannt vorkommt. Er will diesen Mann weder kennen noch in seiner Nähe sein. »Ich hab den Verstand verloren«, sagt Gordon. »Das ist es doch, oder? Ich hab meinen Verstand verloren.«
Der Mann hebt eine Augenbraue. »Wie kommst du darauf, dass er dir gehört?« Er kratzt sich mit langen, schmal zulaufenden manikürten Fingernägeln geziert am Kinn. An jedem Finger beider Hände sind Ringe. Silberne verschnörkelte Ringe, die wie Schlangen und Dämonen aussehen. Er kämmt mit der Hand sein Haar zurück, steckt es hinter die Ohren und entblößt dabei baumelnde Silberohrringe in Dolchform an beiden Ohrläppchen. »Hast du wirklich gedacht, dass du hier finden würdest, wonach du suchst? Hier ist niemand mehr, Gordon. Hier sind nur noch Knochen.«
Unzusammenhängende grausige Bilder leuchten in seinem Kopf auf wie Blitze, und auf einmal wird ihm schlecht. »Wer bist du?«
»Was denkst du, wer ich bin?«
»Dich gibt es nicht wirklich.«
Der Mann grinst und weitet seine hellblauen Augen. »Dich auch nicht.«
»Was willst du?«
Das Grinsen verschwindet langsam, aber der Mann antwortet nicht.
»Lass mich in Ruhe.« Gordon geht einen Schritt zurück. »Ich bin nur ein alter Mann.«
Der Fremde deutet mit einer langsamen, ausladenden Geste auf Katharinas Grab. »Aber du und ich, wir haben Dinge, die wir bereden müssen.«
»Ich kenne dich nicht, wir – ich hab dich noch nie im Leben gesehen. Du lügst.«
»Ich bin der König der Lügen, alter Freund.« Das Lächeln des Mannes kehrt zurück. »Aber denk daran: Die Verdammten brennen nicht im Höllenfeuer, sondern im Licht der Wahrheit.«
»Es waren nur Gedanken in meinem Kopf«, murmelt Gordon mit einer Hand vorm Mund, als ob ihn das irgendwie davor bewahren könnte, noch etwas zu sagen.
»Ich bin der Regenmann, Gordon.« Er schaut zum Himmel hoch. Der Regen wird stärker, von Nieseln zu einem steten Dauerregen. In der Nähe grummelt Donner und rollt über den Himmel. »Knie nieder.«
Wieder macht Gordon einen Schritt zurück und verliert diesmal das Gleichgewicht, rutscht aus und fällt fast hin. »Lass mich in Ruhe!«
»Du glaubst, dass dich irgendein vergammelndes blutloses Schaufensterpüppchen in einer Kiste retten kann?«
»Katy war alles für mich, ich – sie war alles, was ich hatte!«
»Nein, Gordon, mich hattest du auch. Du hast mich auch immer gehabt.« Der Mann öffnet die Arme und breitet sie wie große schwarze Schwingen aus; sein Ledermantel bläht sich im Wind. »Und jetzt habe ich dich.«
Gordon humpelt zu Katys Grab und fällt auf die Knie. »Hilf mir«, keucht er. »Hilf mir, Katy. Sag mir, was ich machen soll.« Gordon hört den Mann, dessen Stiefel mit jedem Schritt auf der nassen Erde schmatzen, hinter ihm nahen. Gordon kann sich nicht länger aufrecht halten und sinkt nach vorne ins nasse Gras und den Matsch. Seine erstickten Bitten werden vom Lärm des plötzlich niederströmenden Regens ertränkt …
Die Stadt bei Nacht …
Gordon wandert stundenlang durch die Straßen wie so oft, wenn er beunruhigt ist oder über etwas nachdenken muss oder versucht, etwas zu verstehen. An diesem Abend kommt er nach ein paar Stunden des Umherwanderns zu einem kleinen Nachtklub, der im Keller zwischen künstlerisch gestalteten Geschäftsfassaden in einer ansonsten ruhigen Nachbarschaft im West Village liegt. Das ungewöhnliche kleine Schild macht ihn darauf aufmerksam: night-rain club. Er ist müde vom vielen Gehen und braucht einen Drink. Eigentlich mehrere Drinks, und dies sieht wie ein ruhiges Plätzchen aus, wo ihn niemand belästigen wird und er seinen Kummer in Ruhe ertränken kann.
Er geht die Stufen hinunter, schlüpft durch eine schwarze Tür, die so bemalt ist, dass sie einem Sternenhimmel ähnelt, und kommt in den kleinen Klub. Er besteht aus einer Bar, die eine Wand entlang verläuft, Tischen und Stühlen, die überall verteilt sind, und einer winzigen, hoch polierten Tanzfläche. Auf einer Eckbühne spielt ein Jazztrio eine sanfte Melodie und wird von den Neonleuchtschienen, welche die Decke und Wände entlang verlaufen und selbst die Vorderseite der von hinten beleuchteten Bar umreißen, in ein verführerisch bläuliches Licht getaucht. Diverse Tische sind besetzt, aber bis auf einen der zehn Barhocker sind alle frei. Gordon überlegt, sich an einen der freien Tische hinten im Klub zu flüchten, aber entscheidet, sich stattdessen an die Bar zu setzen.
Er kann an nichts anderes als die Frau denken, die er auf dem Silvesterball kennengelernt hat.
Katharina. Ihre Freunde nennen sie Katy, hatte sie ihm erzählt. Seit er sie vor ein paar Wochen das erste Mal gesehen hatte, ist er vernarrt in sie und hinter ihr her. Aber bisher erfolglos; sie scheint sich für ihn überhaupt nicht zu interessieren. Vielleicht als Freundschaft, aber Gordon will mehr, braucht mehr.
»Ich bin in sie verliebt«, hatte er seinem Freund Harry gestanden.
»Du bist besessen, Junge. Verliebt kannst du nicht sein, du kennst sie ja kaum.«
»Ich kenne sie gut genug. Ich weiß, dass ich mich sofort in dem Moment in sie verliebt habe, als ich sie sah.«
Er kommt sich albern vor, so etwas auch nur zu denken. Es ist untypisch für ihn, so ist er nicht, aber er kann nichts dagegen machen. Er hat sein ganzes Leben lang auf diese Frau gewartet, er wusste es nur nicht … bis er sie sah … und dann traf ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines Vorschlaghammers.
»‘nabend, willkommen im Night-Rain Club.« Der Bartender, ein untersetzter Mann mit Igelfrisur in Goldweste, schwarzen Hosen und weißem Hemd, begrüßt ihn fast mit einem Lächeln.









































Ich bin der König der Lügen, alter Freund.


Die Verdammten brennen nicht im Höllenfeuer, sondern im Licht der Wahrheit …