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Wilfried A. Hary (Hrsg.)

GAARSON-GATE: Die 1. Kompilation


Nähere Angaben zum Autor siehe hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_A._Hary


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

GAARSON-GATE:

Die 1. Kompilation

 

GAARSON-GATE ist die Schwesterserie von STAR GATE – das Original!

 

Erno Fischer * Wilfried A. Hary * W. A. Travers

 

Die ersten zehn Bände der Serie hier in einem Buch zusammengefasst“

 

Im Jahr 2052 erschließt Tipor Gaarson der Menschheit eine schier unerschöpfliche Energiequelle. Man nennt sie nach ihm den „Gaarson-Effekt“. Aber es gibt auch Warner, die vor ungeahnten Folgen der hemmungslosen Anwendung des Gaarson-Effektes warnen. Sie sind überzeugt davon, dass der Gaarson-Effekt auf lange Sicht gesehen das energetische Gleichgewicht des Universums stört!

Niemand will auf sie hören - angesichts der fantastischen Möglichkeiten - einschließlich der Erfüllung des Traumes von der interstellaren Raumfahrt. Die Warner werden sogar als gefährliche Kriminelle eingestuft und verfolgt.

Vierhundert Jahre später erst erfüllen sich ihre düstersten Voraussagen: Ein Raumschiff kehrt zurück und ist der berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Chaos beginnt. Ahnte das Genie Tipor Gaarson wirklich nicht, was „sein“ Gaarson-Effekt auf lange Sicht gesehen anrichtet? Gibt es gar Vorkehrungen, die den Kampf zum Überleben lohnend machen? Das fragt sich auch sein direkter Nachfahr, der nur Namen und Ähnlichkeit mit dem Tipor Gaarson der Vergangenheit gemeinsam hat...

 

Impressum:

Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary

 

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de

 

Diese Fassung:

© 2015 by HARY-PRODUCTION

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

 

Coverhintergrund: Anistasius

Titelbild: Gerhard Börnsen

Logo: Gerhard Börnsen

 

1

 

Tipor Gaarson streichelte stirnrunzelnd ein welkes Blatt seines Ghreekho. Es löste sich vom Stängel und fiel zu Boden. Das Geräusch des Aufpralls war leise und doch ließ es Tipor Gaarson zusammenzucken.

Er hob den Kopf. Das Ghreekho beherrschte seine Wohnung. Es war überall. Es kroch aus Wandschlitzen, über die Wände, über den Boden, klebte an der Decke und war teilweise sogar in seinem Bett.

Und jetzt sah es so aus, als wollte es... sterben!

Das Ghreekho war sein Hausfreund, sein Talisman, sein Lebenspartner, sein... Tipor Gaarson schüttelte den Kopf. Als es ihm zum ersten Mal aufgefallen war, hatte es ihn lediglich irritiert. Man wusste schließlich, wie robust die Ghreekhoj waren, seit man sie irgendwo in den Tiefen des Weltraums entdeckt und auf der Erde kultiviert hatte. Seit über dreihundert Jahren passten sich die Ghreekhoj perfekt an die irdischen Bedingungen an - zumindest innerhalb wohnlicher Wände, in unmittelbarer Wohngemeinschaft mit Menschen. Denn allein schienen die Ghreekhoj auf der Erde nicht überlebensfähig zu sein.

„Bist du allein, fehlen Dir die menschlichen Gedanken und du wirst einsam. Du stirbst.“ Tipor Gaarson sagte es und begann halblaut zu fluchen. „Verdammt, aber du bist überhaupt nicht allein. Teile ich nicht sogar mein Bett mit dir? Was willst du mehr? Mehr Konversation? Mehr Streicheleinheiten?“

Jetzt lachte er heiser. Es war eine altbekannte Tatsache, dass ein Ghreekho mit seinem Besitzer starb. Zumindest kurz nach ihm. Und wenn ein Ghreekho einer ganzen Familie gehörte, starb es mit der Familie. Es dauerte zu lange, bis ein ausgewachsenes Ghreekho sich an einen neuen Besitzer gewöhnte.

Tipor Gaarson winkte ab. Eine lässig anmutende Geste, wie um sich Mut zu machen. „So ein Quatsch. Es genügt dir doch, dass es mich gibt. Auch wenn ich Wochen von dir getrennt bin, spürst du selbst über große Entfernungen hinweg meine Gedanken. Sie nähren dich. Sie müssen sich nicht speziell mit dir beschäftigen. Sie genügen als eine Art Erkennungsmuster. Das lernt schon jedes Kind in der Schule. Schließlich bist du kein intelligentes Wesen, auch wenn du in der Lage bist, ein Haus zu hüten und bis zu einem gewissen Grad sogar gegen Eindringlinge zu verteidigen.“

Diese Aussage war übertrieben, aber fast jeder Mensch im fünfundzwanzigsten Jahrhundert schien diese Auffassung zu teilen. Man schien dabei zu vergessen, dass die Ghreekhoj eine Symbiose eingingen mit Biocards und diese waren es letztlich, die eine Wohnung schützten, hüteten, pflegten und versorgten.

Tipor Gaarson erging es wie den meisten seiner Zeitgenossen: Er wusste eigentlich sehr wenig über diese Zusammenhänge. Man lernte es irgendwann in frühen Kindheitstagen und ersetzte dieses Wissen danach allmählich mit Alltagsklischees. Und bei denen spielten Biocards keine große Rolle mehr, wenigstens nicht unabhängig von den Ghreekhoj, mit denen sie zumindest in der Vorstellungswelt der Menschen sozusagen zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Einzig hochspezialisierte Leute wie zum Beispiel Card-Kreative (wie sich die Programmierer heute nannten) oder zumindest Schiffsleute, die an Bord eines Raumschiffes auf Biocards auf Gedeih und Verderb angewiesen waren, machten sich über diese Tatsache noch Gedanken.

Die Biocards waren die „intelligente Seite“ der Ghreekhoj. Und die Ghreekhoj gingen mit den Menschen auch keine Arbeitssymbiose ein, sondern lediglich eine Gedankensymbiose - gewissermaßen. Obwohl der Mensch als Besitzer eines oder mehrerer Ghreekhoj eigentlich außer seinen Gedanken nichts zu dieser Gemeinschaft beitrug.

„Was ist los mit dir?“ fragte Tipor Gaarson. Es klang eine Spur verzweifelt. Wenn man bedachte, dass ein Ghreekho niemals vor seinem Besitzer starb, dann konnte es einen schon bis in die tiefste Seele erschüttern, wenn man plötzlich von welken Blättern umgeben war. „Wie sieht es mit deinen Funktionen aus?“

Jetzt endlich reagierte das Ghreekho (obwohl in Wirklichkeit eigentlich nur die betreffende Biocard, aber für Tipor Gaarson machte das ja keinen Unterschied): „Funktionen sind prima, mein Freund, oder hast du was auszusetzen?“

Tipor Gaarson lächelte flüchtig. Es war seine Idee gewesen, das Sprachprogramm mit lässigen Formulierungen füttern zu lassen. Das machte ihm alles freundlicher, denn er konnte mit seiner Wohnung und seinem Ghreekho nach Herzenslust über alles und jeden herziehen, wenn ihm danach war. Für Tipor Gaarson ein Idealrezept gegen Frust und Langeweile.

Aber das Lächeln verschwand angesichts der welken Blätter.

Das eine, das zu seinen Füßen auf den Boden gefallen war, wurde von einer beweglichen Luftwurzel aus dem Verkehr gezogen und verschwand im noch relativ satten Grün in der Ecke. Tipor Gaarsons Wissen reichte nicht aus, um sich vorzustellen, was mit dem abgestorbenen Blatt dort geschah.

Dasselbe wie mit jeglichem anderem Schmutz, den das Ghreekho für mich beiseite räumt - so ich es wünsche! dachte er zerknirscht. Und dann schaute er wieder in die andere Richtung, dorthin, wo es auffällig viele welke Blätter gab, die sich anscheinend nur noch mit Mühe an ihren Stängeln hielten.

„Ich verlange eine Erklärung!“ schrie er plötzlich und erschrak vor seiner eigenen viel zu lauten und viel zu schrillen Stimme. Er ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich verstehe nicht ganz, alter Freund...“ sagte die Biocard - und Tipor Gaarson hielt sie für das Ghreekho persönlich.

„Ja, ich meine dich, speziell dich: Du stirbst!“

„Nein, das müsste ich schließlich wissen.“

„Aber siehst du es denn nicht selber? Deine Blätter sterben ab!“

Scheinbar unauslöschlich war es da, das zeitgenössische Vorurteil, das alle Biotechnik mit den Ghreekhoj in einen Topf warf. Und im Grunde genommen war es ja auch nicht das Ghreekho gewesen, das dieses welke Blatt „aus eigenem Antrieb“ vom Boden entfernt hatte, sondern es war unter Steuerung einer anderen Biocard geschehen. Diese hatte auch dafür gesorgt, dass das Blatt durch eine kleine Klappe in den zentralen Müllschlucker der Wohnung und von dort in den Müllverwertungskreislauf gelangte.

„Ich finde, du bist heute ein wenig hysterisch. Ärger gehabt? Mit wem? Wieder mit deinem Chef? Es wird Zeit, dass du ihm deine Meinung sagst. Wenn du schon neuerdings sogar sechs Stunden die Woche in die Maloche musst, dann solltest du dir nicht soviel gefallen lassen. Vorher die fünf Stunden waren ja schon schlimm genug gewesen, aber diese Überstunde... Wie hat man das noch begründet? Mit erhöhtem Arbeitsanfall? So etwas Fadenscheiniges. Dabei ist man absichtlich die Antwort auf deine Frage schuldig geblieben: Erhöhter Arbeitsanfall - welcher Art und wodurch?“

Tipor Gaarson begann zu zittern. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Er griff sich an die Stirn.

Das war es! Ja, das war die Antwort!

Erhöhter Arbeitsanfall?

Er arbeitete bei der Regionalregierung in der Verwaltung. Und die Verwaltung hat immer mehr zu tun, wenn es auf Krisenzeiten zusteuert!

Krisenzeiten?

Das kannte man schon nicht mehr seit dem 21. Jahrhundert, seit der Bewältigung aller Energieprobleme.

Seit der berühmte Vorfahre von Tipor Gaarson den nach ihm benannten Gaarson-Effekt entdeckte.

Und Tipor Gaarson kam nicht umhin, den Gedanken an Krise mit seinem offensichtlich sterbenden Ghreekho in Verbindung zu bringen...

Er hatte auf einmal Angst und diese Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Als wäre er selbst der Todeskandidat und nicht sein Ghreekho!

 

*

 

Etwa zur selben Zeit, dreißigtausend Kilometer über der Erde: Die Sirius-McCoy stand kurz vor der „Anlandung“.

„He, schickt uns schon mal den Fahrstuhl!“ rief Captain Millory gutgelaunt.

Dan Holder, sein Gesprächspartner im Tower-Satelliten, war ein persönlicher Bekannter von ihm. Er antwortete nicht weniger gutgelaunt: „Ist schon unterwegs, John - und das Bier steht kalt. Fehlt nur noch die Frage: Was feiern wir eigentlich?“

„Es wäre das erste Mal, dass mir kein Grund für ein kühles Bier einfallen würde!“ warnte ihn John Millory.

„Dann mal los, ich bin gespannt!“

John Millory kam zu keiner Antwort mehr. Ein deutlicher Ruck ging durch sein Raumschiff.

Dan Holder im Tower-Satelliten hatte es scheinbar auch bemerkt. Vielleicht zeigten seine Instrumente etwas? Er rief aus: „He, achte erst einmal auf die Steuerung, dass du mir heil anlegst.“

Das war natürlich mehr ein Scherz, denn John Millory brauchte auf keine Steuerung zu achten. Wenigstens nicht persönlich. Diese Arbeit wurde vollautomatisch vom Bio-Gehirn seines Schiffes erledigt. Die Besatzung hatte nur eine überwachende Funktion. Sie nahm das ernst, obwohl es schon seit mindestens hundert Jahren nicht mehr passiert war, dass ein Bio-Gehirn Fehlfunktionen zeigte. Die Biotechnik war längst zur absoluten Perfektion gereift. Aber welcher Mensch würde schon freiwillig zugeben wollen, dass er eigentlich überflüssig war, auch wenn man ihn noch so gut ausgebildet und spezialisiert hatte?

„Was ist los?“ rief John Millory.

Das Bio-Gehirn antwortete akustisch, während die Instrumente vor John Millory keinerlei Abweichungen zeigten: „Unerklärbar, Sir!“

„Wie bitte?“ In seiner langjährigen Praxis hatte er eine solche Antwort noch niemals vom Bio-Gehirn bekommen.

Nun wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, dass John Millory seine Erfahrungen erwähnte, aufzählte, auf wie vielen Planeten er schon gewesen war, welchen Berühmtheiten er begegnet war und auch noch andere für ihn herausragende Dinge seines erfüllten Lebens - um deutlich zu machen, dass es unmöglich an ihm liegen konnte, wenn er etwas nicht sofort verstand... So erwartete es jedenfalls die übrige Besatzung in der Zentrale gewohnheitsgemäß. Aber diesmal ersparte es ihnen der Captain, denn erneut ging ein deutlicher Ruck durch das Raumschiff. Gleichzeitig erlosch das Licht. Nur das erschrockene Gesicht von Dan Holder leuchtete noch vom Nebenbildschirm.

Auch der Hauptschirm, der mit leichter Verkleinerung einen Ausschnitt des gigantisch anmutenden Tower-Satelliten gezeigt hatte, war erloschen.

Der Nebenschirm mit Dan Holder flackerte.

„Nein!“ schrie John Millory, einem gestandenen Captain der Flotte eigentlich unwürdig. Aber auch die anderen Besatzungsmitglieder schrieen jetzt durcheinander. Es fiel ihnen daher nicht auf, dass ihr Captain genauso wie sie dabei war, die Nerven zu verlieren.

Aber John Millory wäre nicht der Captain gewesen, hätte er nicht als erster die Beherrschung wiedererlangt.

Auf einmal wirkte er ganz ruhig. Es war ihm kalt, dass ihn fröstelte.

Er bellte ein paar Namen und übertönte damit das entstehende Chaos in der Zentrale.

Die Angesprochenen meldeten sich prompt.

„Manuelle Steuerung!“ befahl ihnen ihr Captain.

Sie wussten, was zu tun war: Sie brachen den Anlegevorgang ab. Das hieß, ihr Schiff baute ein selbständiges Kraftfeld auf, das den Traktorstrahl des Tower-Satelliten unwirksam machte und die Driftbewegung ruckfrei stoppte.

John Millory konnte eigentlich stolz auf seine Leute sein. Zum ersten Mal durften sie tätig werden - in einem echten Ernstfall und nicht in einer Simulation. Zum ersten Mal, seit sie Schiffsleute waren. Und sie taten es mit Bravour, als hätten sie nie anders gehandelt als in völliger Dunkelheit, denn auch der Nebenschirm war jetzt endgültig erloschen.

Nur die akustische Verbindung mit Dan Holder stand noch.

„Was ist los mit euch?“ hörten sie ihn rufen.

Das Bio-Gehirn antwortete ihm: „Unerklärlich, Sir!“

John Millory dachte: Jetzt kann es nicht mal mehr unterscheiden zwischen der Stimme von Dan Holder und meiner.

Denn das Bio-Gehirn hätte auf die Frage von Dan Holder gar nicht antworten dürfen - normalerweise.

Aber an Bord der Sirius-McCoy schien überhaupt nichts mehr normal zu sein: Auch der größte Teil der Instrumente hatte seinen Geist aufgegeben. Die Entfernungsanzeige zum Tower-Satelliten gehörte zu den wenigen, die anscheinend einwandfrei funktionierten. Und noch eine Anzeige, die jetzt die Aufmerksamkeit von John Millory erregte: Der Energiepotentiometer!

Es war eine Anzeige, die normalerweise kaum beachtet wurde - im Zeitalter des schieren Energieüberflusses. Weil sich schon seit vierhundert Jahren kein Mensch mehr vorstellen konnte, dass es darin jemals einen Mangel geben könnte: in Energie!

Und doch war es so und die Anzeige erklärte schließlich alles, was im Moment an Bord der Sirius-McCoy geschah: Sie hatte beinahe Null erreicht und fiel langsam aber stetig weiter. Man konnte erwarten, dass in spätestens einer Minute nicht nur die Verbindung mit dem Tower-Satelliten endgültig abriss, sondern dass sämtliche Systeme an Bord zusammenbrachen.

Einmal ganz abgesehen davon, dass niemand sich vorstellen konnte, was mit dem Bio-Gehirn geschah, wenn es völlig ohne Energieversorgung war. Wahrscheinlich würden sämtliche Daten verloren gehen, die von dem Bio-Gehirn jemals gespeichert worden waren und auch die Kurier-Mission, von der die Sirius-McCoy gerade zurückgekommen war, wäre absolut sinnlos geworden. 

 

*

 

Seit rund vierhundert Jahren „nie mehr“ Energieprobleme! schoss es John Millory durch den Kopf.

NIE MEHR?

Seit nämlich Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein Mann namens Gaarson (zunächst von der Fachwelt total verlacht) mit seinem Team eine Art „Stein der Weisen“ fand. Er hatte sein riesiges Vermögen komplett in eine zunächst „fixe Idee“ gesteckt - und es war die größte wissenschaftliche Revolution seit der Erfindung des Rades daraus entstanden. Sie stellte wirklich alles in den Schatten, was Menschen jemals auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet erreicht hatten.

Ein neues Zeitalter brach an, das man ohne Übertreibung einteilen konnte in: Zeitalter VOR Gaarson und Zeitalter NACH Gaarson. Die theoretische Ordnung des Universums musste jedenfalls neu formuliert werden, denn Gaarson zapfte sozusagen die „Grundenergie“ an - den „Motor“ oder auch die Summe der sogenannten Wechselkräfte.

Die Tatsache, dass der physikalische Raum aufgrund seiner „Faltung“ eine Art „Gefälle“ aufweist, was letztlich die Wechselkräfte bewirkt... Also die Tatsache, dass die Wechselkräfte überhaupt kein echter Ausdruck von Energie sind, man mithin auch nicht die Einsteinformel E = m  c2 darauf anwenden kann... Das erzeugte in der Fachwelt tatsächlich die reinste Verwirrung, obwohl die Wurzeln solcher Erkenntnisse bereits bis tief in das zwanzigste Jahrhundert reichten.

Und Gaarson gelang nicht nur der theoretische Beweis, den so lange niemand anerkennen wollte, bis er endlich auch den praktischen Beweis lieferte: Er brachte mit seinem Forscherteam das Kunststück fertig, das „Gefälle“ zu nutzen, sich diese Energie zunutze zu machen, die im Grunde genommen überhaupt keine Energieform ist - wie es Einstein zunächst allein der Gravitation zugebilligt hatte. Und ähnlich, wie erst durch indirekte Nutzung der Gravitation (die wohlgemerkt selber gar keine Energieform ist) Energie erzeugt werden kann (man denke nur daran, wie man im Gefälle fließendes Wasser zur Energieerzeugung heranzog), tat es Gaarson erstmalig auch mit dem von ihm so benannten „Allgemeinen Raum-Zeit-Gefälle“. Nur geschah das auf genial direkte Weise!

Seitdem schien Energie praktisch unbegrenzt zur Verfügung zu stehen.

Nur eines war dabei bis heute theoretisch geblieben, nämlich das Gaarsonsche Grundmodell von der Beschaffenheit des Universums. Er nannte es „Das schwingende Universum“, erstmals der breiten Öffentlichkeit vorgestellt in einem populärwissenschaftlichen Magazin unter dem Titel „DIE SCHÖPFUNG“.

John Millory kannte diese Schrift fast auswendig. Schließlich hatte genau diese Schrift die Grundlage dafür gelegt, dass es so etwas wie interstellare Raumfahrt überhaupt gab und aus ihm ein Schiffsmann geworden war - wie man die Raumfahrer heutzutage nannte.

Die praktische Auswirkung von Gaarsons Entdeckung nannte man seither nur noch „Gaarson-Effekt“.

Damit konnte man praktisch überall im Universum Energie wie mit einer Antenne empfangen. Nötig war dafür eine komplizierte Gerätekonfiguration, in die man zuerst mehr Energie stecken musste, als man daraus eigentlich gewinnen konnte. Doch nach diesem „Anzapf-Prozess“, wie man ihn wörtlich nannte, floss die Energie in fast beliebiger Stärke - nach oben nur von der Größe der Konfiguration begrenzt. Die Konfiguration nannte man im übrigen künftig „Gaarson-Meiler“.

Dabei gab es allerdings ganz grundlegende Dinge zu berücksichtigen. Zum Beispiel: Brauchte man Schubenergie, um einen Gegenstand etwa zum Fliegen zu bringen, war die Konfiguration stets schwerer als die nötige Energieausbeute. Alle technischen Neuerungen der letzten vierhundert Jahre konnten an diesem Grundprinzip nichts ändern. Eher hätte es jemand geschafft, sich selber am Kragen hochzuziehen. Ergo musste die Flugenergie im Einflussbereich von Schwerkraft von außen wirken und konnte nicht vom Flugzeug selber stammen.

Anfangs hatte man sich noch bemüht, erzeugte Energie umzuwandeln, etwa in Wasserstoff und diesen dann als Treibstoff zu benutzen. Aber später hatte dann der Traktorstrahl seinen Siegeszug um die Welt angetreten. Auch wenn grundsätzlich „herkömmliche Triebwerke“ immer noch möglich waren und auch in Bereichen genutzt wurden, wo es keine Traktorstrahlen gab: Etwa bei der Erkundung eines fremden Planeten.

Jedenfalls: Ohne den Gaarson-Effekt hätte man gar nicht genügend Energie für eine komplette Traktorstrahlsteuerung des gesamten irdischen Flugverkehrs gehabt!

Ein rein theoretischer Gedanke, denn schließlich gab es ihn ja - den Gaarson-Effekt. Und seitdem war der Reiseverkehr fast komplett in die Luft verlagert worden - vom Auto in den Gleiter, der auch das Flugzeug vollkommen ersetzte.

Um in den Weltraum zu gelangen, wurden antriebslose, von Traktorstrahlen getragene Kapseln benutzt, die man verniedlichend „Fahrstühle“ nannte. Der Ausdruck Fahrstuhl war nicht verwirrend, denn innerhalb von Gebäuden bediente man sich Schwebeplattformen in der Art der alten Paternoster.

Interstellare Raumschiffe „starteten“ außerhalb der Atmosphäre und damit außerhalb des direkten Einflussbereiches der Schwerkraft. Hier reichte die von ihnen selbst erzeugte Energie aus, um sie ausreichend zu beschleunigen - auch ohne herkömmliche Triebwerkstechnik in der Form von Hilfstriebwerken, einfach nur mittels direkter Energieumwandlung.

Nach einem teilweise tagelangen Flug erreichten sie den Bereich außerhalb des Sonnensystems, wo der Einfluss der im Sonnensystem herrschenden Massekräfte in ausreichendem Maße zurückging. Ab hier erst funktionierte der Sternenantrieb. Er war nichts anderes als ein Neutralisationsfeld, das unvorstellbare Energien verschlang, sich getragen von der gitternetzartigen Außenverkleidung des pyramidenförmigen Raumschiffs nach Erreichen seiner Maximalstärke blitzartig ausbreitete, dadurch das Schiff vollkommen einhüllte - und somit als Masse vollkommen neutralisierte. Als hätte es das Universum verlassen. Deshalb hatten für das Raumschiff quasi die Naturgesetze keine Gültigkeit mehr. In Nullzeit erreichte es sein Ziel: die anvisierte Massenansammlung eines anderen Sonnensystems. Und hier funktionierte das Neutralisationsfeld nicht mehr und brach zusammen!

Sternenschiffe landeten üblicherweise kaum jemals auf einem Planeten. Einzige Ausnahmen: Forschungsschiffe, Privatyachten, Polizei- und Militärschiffe bis zu einer gewissen Größe. Reine Kurier-, Passagier- und Frachtraumer blieben üblicherweise außerhalb der Atmosphäre. Sie „ankerten“ an geostationären Tower-Satelliten. Die Insassen stiegen hier um in „Fahrstühle“, die sie auf die Planetenoberfläche brachten. Die „Fahrstühle“ waren auch der Grund, warum die Tower-Satelliten geostationär stehen mussten.

Der irdische Luftraum schließlich war zu einem dichtgewobenen, wenn auch unsichtbaren Luftstraßennetz geworden, perfekt geregelt von Biocards und Bio-Gehirnen und getragen von unsichtbaren Traktorstrahlen, die wiederum aus schier unversiegbaren Energiequellen gespeist wurden.

Unversiegbar?

Der Energiepotentiometer vor John Millory weckte ihn aus seinen Gedankengängen, weil er erlosch: Das äußerste Zeichen, dass es keine Arbeits-Energie mehr an Bord gab.

Überhaupt keine!

Damit war der Gaarson-Effekt praktisch außer Kraft gesetzt!

Niemand an Bord konnte daran glauben, obwohl es offensichtlich war. Selbst John Millory nahm viel lieber an, dass die Konfiguration in irgendeiner noch unbekannten Art und Weise „durcheinandergekommen“ war, obwohl auch dies unmöglich schien, denn eigentlich bestand das gesamte Raumschiff in erster Linie aus dieser Konfiguration, mit genügend zusätzlichem Platz für die Besatzung, den Projektor für das Neutralisationsfeld an der Spitze der äußeren Gitterpyramide, die Ladung, jede Menge Pflanzen (für die Sauerstoffversorgung) und einer wahren Kolonie von Ghreekhoj (für Sauberkeit und hygienische Ordnung), gesteuert von Biocards und abgestimmt auf die Gedanken der Stammbesatzung.

Die Sirius-McCoy bildete darin keineswegs eine Ausnahme.

Wie also sollte die Konfiguration durcheinanderkommen, wenn sich das Raumschiff nicht drastisch verändert hatte - etwa durch einen Meteoriteneinschlag trotz Schutzschirme und dergleichen?

Die Konfiguration des Schiffes schuf für gewöhnlich eine Energieausbeute von mindestens zehn Prozent des Gesamtgewichtes. Deshalb hätte das Schiff ohne traditionelle Hilfstriebwerke niemals von der Oberfläche der Erde aus starten können: Neunzig Prozent der Energie fehlten dazu, allein das Schiff schwerelos zu machen. Aber im Weltraum hatte es kein Gewicht. Außerdem waren die Tower-Satelliten im geostationären Orbit dazu da, entsprechende Traktorstrahlen zu erzeugen, die vorübergehend eine zusätzliche Beschleunigungs- und Bremswirkung auf die anfliegenden und wegfliegenden Raumschiffe ausübten.

Die Wirkung des Traktorstrahls auf die Sirius-McCoy setzte prompt wieder ein, nachdem die Energieversorgung des Schiffes gänzlich zusammengebrochen war: Mit leichtem Ruck setzte sich das Schiff in Bewegung. Wahrscheinlich in Richtung Tower-Satellit.

Das war auch der Ruck gewesen, den man an Bord zweimal gespürt hatte: Plötzliches Ungleichgewicht zwischen der eigenen Antriebsenergie des Schiffes und dem führenden Traktorstrahl hatte ihn bewirkt!

John Millory ballte die Hände zu Fäusten.

Ja, was war geschehen mit der Sirius-McCoy?

In diesem Augenblick hörten sie in der Zentrale die Stimme von Dan Holder. Er projizierte sie von außen herein: „Verdammt, jetzt beginnt das Schiff, den Traktorstrahl zu schlucken! Es - es saugt die Energie ab - wie ein Vampir das Blut! Wir müssen das Schiff wegstoßen, sonst wird die ganze Arbeits-Energie vom Tower-Satelliten weggesaugt...“

 

2

 

Selbst wenn Tipor Gaarson von den Vorgängen dreißigtausend Kilometer über seinem Kopf gewusst hätte, wäre er wohl kaum auf den Gedanken gekommen, sie mit dem Sterben seines Ghreekho in Bezug zu bringen. Er hatte sich inzwischen zu einem Entschluss durchgerungen: „Ich muss etwas unternehmen!“

Was genau, war ihm nicht klar. In wenig mehr als einer Stunde sollte er seinen Dienst antreten. Möglicherweise fiel ihm auf dem Weg dorthin noch etwas ein?

Er stellte sich auf die Schwebeplattform im Zentrum seines Hauses und wollte schon befehlen, ihn auf das Dach bringen zu lassen, wo sein Gleiter wartete, aber Tipor Gaarson zögerte. Wann war er zum letzten Mal zu Fuß gegangen?

Es erschien unsinnig, einerseits regelmäßig zum Bioaktivieren zu gehen, um Muskulatur und Kreislauf in Form zu halten und andererseits im Alltag zu jedem Schritt zu Fuß zu bequem zu sein. Daher wollte Tipor Gaarson ausnahmsweise einmal auf den Gleiter verzichten und verließ die Plattform wieder. Die Decke blieb geschlossen, der Gleiter oben stehen.

Tipor Gaarson verließ sein Haus durch den Vordereingang. Die Tür öffnete sich automatisch, als er sich ihr näherte.

Ein kühler Wind wehte Tipor Gaarson entgegen. Beinahe trieb ihn der Wind wieder ins Haus zurück. Wer selten zu Fuß ging, hatte kaum noch Erfahrung mit den Unbilden des Wetters, denen man dabei ausgesetzt war.

Tipor Gaarson schüttelte den Kopf und ging trotzig weiter.

Kaum hatte er sich fünf Schritte vom Haus entfernt, schloss sich hinter ihm die Haustür.

Ein Gegenstand flog herbei.

Tipor Gaarson sah es mehr aus den Augenwinkeln.

Der Gegenstand verfehlte ihn knapp und prallte mit einem dumpfen Geräusch gegen die Hauswand.

Tipor Gaarson blieb unwillkürlich stehen und wandte den Kopf.

Der Gegenstand kam am Boden zu liegen: Es war ein dicker, kantiger Stein. Wenn er ihn getroffen hätte...

Tipor Gaarson schaute in die Richtung, aus der dieser Stein gekommen sein musste.

Dort stand ein Mann. Nicht allein. Er drohte mit der Faust herüber und bückte sich nach einem weiteren Stein.

„He?“ entfuhr es Tipor Gaarson. Er wollte nicht begreifen, was hier geschah.

Eine weibliche Person löste sich von der Gruppe und trat näher, bis ganz dicht an die äußere Begrenzung von Tipor Gaarsons Grundstück heran. Näher war ohne Erlaubnis des Hausherrn nicht möglich. Sie deutete herüber und rief: „Los, wirf schon! Dieses Beamtenschwein soll dafür büßen!“

Tipor Gaarson dachte flüchtig daran, dass er vor lauter Stolz am Eingangstor ein Schild mit seinem Beamtentitel angebracht hatte, sobald er die Regierungsstelle bekommen hatte. Das war anscheinend doch keine so gute Idee gewesen.

Der zweite Stein flog herbei.

Der Werfer stand zu weit und brauchte alle Kraft. Es wäre mehr Zufall gewesen, hätte er Tipor Gaarson getroffen. Aber Tipor Gaarson duckte sich dennoch. Eine reine Reflexhandlung.

Und dann wurde er wütend: „Was soll das? Verschwinden Sie, ehe ich die Polizei rufe!“

Die Frau keifte: „Triff ihn am Kopf! Am Kopf!“

„Das Beamtenschwein ist an allem schuld!“ schimpfte ein anderer Mann aus der Gruppe.

Tipor Gaarson überlegte, ob er in die Sicherheit des Hauses zurücklaufen sollte - und entschied sich dagegen. Er näherte sich mutig der Gruppe.

„Jetzt musst du ihn aber treffen!“ keifte die Frau.

Der Werfer bückte sich nach einem weiteren Stein. Er hatte sich einige zurechtgelegt, wie Tipor Gaarson jetzt sah.

Auch der dritte Stein verfehlte ihn.

Mutig schritt Tipor Gaarson weiter.

„Was soll denn das?“ fragte er erneut. „Was habe ich euch denn getan?“

Im Hintergrund tauchten weitere Personen auf, die neugierig näher kamen.

Die Frau schrie ihnen zu: „Dieses Beamtenschwein arbeitet bei der Regierung und die hält uns absichtlich dumm. Alles Negative wird verschwiegen, um von den eigenen Fehlern abzulenken, aber jetzt haben wir die Nase voll. Wir lassen uns nicht länger belügen.“

Der eine oder andere ließ sich anstecken und schüttelte drohend die Faust. Der Rest blieb zurückhaltend.

Die Gruppe der Demonstranten wuchs dennoch rasch und sie wurde aggressiver, je näher Tipor Gaarson kam.

„Aber, ich weiß doch gar nicht, was ihr wollt!“ beschwor er. „Was habe ich denn getan?“

Die Frau lachte schrill: „Ach nee? Glaubst du im Ernst, wir fallen auf dich noch herein? Du weißt ganz genau, warum so viele Ghreekhoj krank sind - und nicht erst seit heute. Du weißt bestimmt auch besser als wir, dass sich die Energieausfälle in den letzten Stunden sprunghaft mehren. Und es hat schon länger welche gegeben, wenn auch nicht so viele. Dabei hat man es immer wieder vertuscht. Aber das klappt jetzt nicht mehr!“

In der Tat hatte Tipor Gaarson noch nie zuvor gehört, dass es jemals einen Energieausfall gegeben hätte. Jedes Kind lernte schon, dass dies völlig unmöglich war, so lange die nötige Konfiguration nicht verändert wurde. Und kranke Ghreekhoj? Was war das denn für ein Unsinn?

Er schüttelte den Kopf und hob beschwichtigend beide Arme.

Schon wollte er widersprechen, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken.

Kranke Ghreekhoj? Etwa welche, die sogar starben - und zwar vor ihrem Besitzer?

Nein, von Energieausfällen hatte er noch nie zuvor etwas gehört, aber das mit den Ghreekhoj...?

„Nein!“ stöhnte er.

Der nächste Stein flog genau auf ihn zu. Er war ihnen zu nahe gekommen.

Geistesgegenwärtig hielt er den Arm vor das Gesicht. Der Stein traf den Arm. Ein greller Schmerz.

Höchste Zeit zum Rückzug.

Tipor Gaarson wandte sich ab und begann zu rennen - unter dem Gejohle der rasch anwachsenden Menge.

Erst als sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, durfte Tipor Gaarson wieder aufatmen.

Blut sickerte aus der schmerzenden Armwunde und tropfte zu Boden. Er ignorierte es, lehnte sich keuchend mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen.

Alles drehte sich um ihn. Sein gültiges Weltbild war auf einmal nachhaltig erschüttert. Konnte man die Demonstranten da draußen einfach als Chaoten abtun?

Er öffnete die Augen und starrte an die gegenüberliegende Wand, ohne sie wirklich zu sehen.

„Was geht hier vor? Was ist passiert?“

Die Biocard antwortete ihm nicht.

Tipor Gaarson ging zur Plattform.

„Nach oben!“ befahl er.

Die Stimme seines Ghreekho hatte einen Einwand: „Du bist verletzt. Solltest du nicht vorher die Wunde versorgen lassen?“

Tipor Gaarson zögerte. Ein anderer Gedanke drängte sich ihm auf: War er nicht an das internationale Network angeschlossen?

„Forsche für mich nach, ob es jemals Energieausfälle gegeben hat und ob sich die Energieausfälle in letzter Zeit sogar häufen. Außerdem stelle fest, welche Daten es über kranke oder sogar sterbende Ghreekhoj gibt!“

Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen, nachfragen zu lassen? fragte er sich im stillen.

 

*  

 

Im Tower-Satelliten herrschte hektische Betriebsamkeit. Sämtliche anderen Tätigkeiten waren unterbrochen worden. Jedes Besatzungsmitglied konzentrierte sich nur noch auf die eine Aufgabe: Rettung des Satelliten!

Denn die Sirius-McCoy hatte sich als Energie-Vampir erwiesen (wie man sie hier nur noch nannte).

Sie schickten einen starken Traktorstrahl hinüber, um das Schiff negativ zu beschleunigen. Doch der Strahl wurde fast zu hundert Prozent absorbiert.

So etwas hatte noch niemand erlebt. Es widersprach scheinbar allem physikalischem Verständnis.

Die Restenergie des Traktorstrahls reichte gerade aus, den Flug der Sirius-McCoy etwas zu bremsen. Viel zu wenig. Die Geschwindigkeit würde durchaus noch reichen, um beim Aufprall am Satelliten schwerste Beschädigungen zu verursachen.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sämtliche vorhandenen Traktorstrahl-Projektoren auf das eine Ziel auszurichten: Bremsung und letztlich Abstoßung der Sirius-McCoy. Alle verfügbare Energie musste darauf verwendet werden. Alle anderen Schiffe, die sich auf dem Anflug auf den Satelliten befanden, mussten abdrehen und die bereits angelegt hatten schleunigst aus eigener Kraft verschwinden.

Dies war aus Sicherheitsgründen sowieso geboten. Und die Energie, die man im Satelliten dadurch sparte, wurde jetzt zusätzlich eingesetzt.

Das Team an Bord des Satelliten war gut aufeinander eingespielt. Man arbeitete routiniert und meisterte die Ausnahmesituation ohne Probleme.

Zunächst jedenfalls.

Dan Holder dachte flüchtig an seinen guten Freund John Millory. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt an Freundschaft zu denken, wenn es ums nackte Überleben ging. Denn den Zusammenprall hätte hier wahrscheinlich niemand überlebt - und an Bord der Sirius-McCoy sowieso keiner...

Ja, zunächst meisterten sie die Ausnahmesituation, wenigstens was ihren Teil der Sache betraf. Der andere Teil war die Physik und diese schien mehr und mehr auf den Kopf gestellt zu sein, denn jetzt wurde sämtliche Energie, die auf die Sirius-McCoy wirken sollte, von dieser einfach absorbiert. Das hieß, sie verschwand sozusagen im Nichts. Sämtliche Traktorstrahlen blieben dadurch völlig wirkungslos und dann gellten die Alarmsirenen an Bord des Satelliten: Die Konfiguration erzeugte nach wie vor höchstes Energiepotential, aber auf unsichtbarem Weg verschwand die Energie - bereits im Ansatz und nicht mehr auf dem „Umweg“ über die Traktorstrahlen.

Sie vermuteten, dass auch sie von der Sirius-McCoy abgesaugt wurde.

„Verdammt, John!“ fluchte Dan Holder. „Was hast du uns denn hier für ein Kuckucksei ins Nest gelegt?“

Ein Blick auf die Anzeigen. Wo war die Sirius-McCoy eigentlich hergekommen? Forschungsfahrt?

Nein, eine ganz normale Kurieraufgabe. Reine Routine, nötig, weil es keinen überlichtschnellen Funkverkehr geben konnte. Ohne Kurierflüge hätte es keine Verbindungen zwischen den besiedelten Welten und der Erde gegeben.

Aber Dan Holder wollte nicht mehr an einen Routineflug glauben. Er nahm lieber an, dass es sich um einen Geheimauftrag handelte und die offiziellen Angaben lediglich der Tarnung dienten.

„Wo seid ihr hergekommen? Was ist passiert?“

Diese Frage konnte niemand beantworten.

„Wir müssen die Sirius-McCoy abschießen!“ brüllte jemand.

Ja, das war das einzige, was ihnen noch blieb.

Dan Holder konnte es nicht verhindern. Der Tower- Satellit war in Alarmbereitschaft. Der Ernstfall trat ein und dieser Ernstfall war der Verteidigungsfall.

Nur noch wenige Sekunden bis zur Kollision. Die Raketen wurden gezündet. Sie rasten auf die Sirius-McCoy zu, trafen sie an den Flanken.

Die Treffer waren so berechnet, dass die Detonationskraft keinen Schaden am Satelliten selbst anrichten konnte. Eine schwierige Sache, denn schließlich war das Ziel der Raketen bereits gefährlich nahe.

Die Raketen detonierten - aber ihre Zerstörungskraft verpuffte einfach! Als hätte das Gitternetz alles abgesaugt. Der Schaden an der Außenhülle der Sirius-McCoy betrug Null!

Aber nicht sämtliche Energie wurde diesmal absorbiert. Der Rest reichte wenigstens aus, um dem Schiff eine andere Richtung zu geben. Der Zusammenprall war zwar nicht ganz zu vermeiden, aber die Sirius-McCoy traf stark abgebremst und vor allem von schräg gegen den Satelliten.

Eine blendende Leuchterscheinung, dort, wo sie den Metallriesen berührte.

An Bord des Tower-Satelliten spürten sie überhaupt nichts. Wurde sogar die Aufprallenergie absorbiert?

Dan Holder knirschte mit den Zähnen und dachte voller Galgenhumor: Na, logisch, Energie ist Energie und die Sirius-McCoy macht keine Unterschiede.

Das Schiff löste sich wieder vom Satelliten, der es an Größe um ein Vielfaches übertraf. Die neue Richtung war klar: Erde!

Die Sirius-McCoy nahm Kurs auf die Planetenoberfläche!

Gravitation ist keine Energieform! überlegte Dan Holder. Also kann sie auch nicht absorbiert werden. Das Schiff wird stetig beschleunigen - und mit ungeheurer Geschwindigkeit in die Atmosphäre der Erde eintauchen. Gott, John Millory, wo wart ihr gewesen? Ihr habt die Hölle mitgebracht!

„Seht!“ schrie jemand.

Dan Holder erwachte aus seinen Gedanken. Es gab zwischen dem Tower-Satelliten und der Sirius-McCoy eine sichtbare Energiebrücke. Das Licht begann im Satelliten zu flackern. Der Hauptschirm erlosch. Die Erscheinung war nicht mehr zu sehen, aber ihre Auswirkungen waren spürbar.

Und die Energiebrücke hatte noch eine andere Wirkung: Die Energieversorgung auf der Sirius-McCoy funktionierte wieder und die Verbindung mit dem Tower-Satelliten kam wieder zustande.

„Dan!“ rief John Millory unwillkürlich aus, als sie sich beide sozusagen Auge in Auge gegenübersaßen, wenn auch per Bildschirm.

„Verdammt, was ist los mit euch?“ fragte Dan Holder. „Was habt ihr an Bord?“

„Nichts!“ beteuerte John Millory. „Wir haben lediglich einen Kurierauftrag, genauso wie avisiert. Ein Langflug.“ Da erst schien er zu bemerken, dass sie auf die Erdoberfläche zu beschleunigten. „He, haltet uns auf!“

Bevor ihm Dan Holder klarmachen konnte, dass dies nicht möglich war, bemühte sich die Besatzung der Sirius-McCoy selber. Vielleicht war der Abstand zur Erde noch groß genug? Vielleicht reichte die Energie der Konfiguration aus?

Sie ahnten gar nicht, dass ihre Energie überhaupt nicht von der Konfiguration kam, sondern direkt vom Satelliten herübergesaugt wurde.

Sie hätte vielleicht ausreichen können, die Beschleunigung zu kompensieren, aber jetzt war ein Abstand zum Satelliten erreicht, der die Energiebrücke unterbrach.

Ein Rest von Energie reichte gerade aus, die Kommunikation zwischen Tower-Satelliten und der Sirius-McCoy noch für Sekunden aufrechtzuerhalten.

„John, sag' mir die Wahrheit!“ beschwor Dan Holder.

John Millory schüttelte verzweifelt den Kopf. „Mann, ich weiß doch selber nicht, was hier geschieht! Es ist, als hätte die Physik keine Gültigkeit mehr!“

Die Verbindung riss. John Millory starrte auf den toten Bildschirm vor sich.

Das Licht fiel wieder aus.

Da hörten sie einen furchtbaren Schrei. Er war nicht laut, schien sowieso gar nicht akustischen Ursprung zu haben...

Die Ghreekhoj! Sie „schrieen“ auf mentalem Weg.

Es war das erste Mal, dass diese Einbahnstraße der Gedanken umgekehrt wurde - das erste Mal, dass nicht nur die Gedanken der Menschen zu den Ghreekhoj flossen, sondern dass auch etwas zurückkam.

Der Schrei war nur kurz, aber er hatte etwas Endgültiges.

Und jeder an Bord wusste, dass die Ghreekhoj-Kolonie soeben gestorben war.

Es gab kein Leben mehr an Bord des Schiffes, außer dem menschlichen.

Ihnen wurde eiskalt.

Auch Wärme ist Energie! dachte John Millory unwillkürlich. Alles basiert auf Energie, ja, auch das Leben. Mehr noch: Ist nicht sogar die Materie an sich nichts anderes als „gefrorene Energie“? Und was geschieht, wenn alle Energie im Nichts verschwindet? Verschwinden wir dann nicht auch - mitsamt dem Schiff? Und wenn wir auf die Erde zurasen, vielleicht sogar in die obersten Schichten der Atmosphäre eintauchen: Gibt es dann nicht eine Kettenreaktion auf der Erde? Ist sie als Materie nicht ebenfalls - „gefrorene Energie“?

John Millory stöhnte verzweifelt und es gelang ihm nicht mehr, den Gedanken zurückzuhalten, der beinahe zwangsläufig angesichts der Situation entstanden war und sich in einem einzigen Satz verbal äußerte: „Nimmt sich das Universum jetzt alles zurück, was wir in vierhundert Jahren von ihm an Energie abgezapft haben?“

Ein absurder Gedanke, zugegeben, aber war denn nicht die ganze gegenwärtige Situation im Grunde genommen - absurd?

Und doch war sie eine Tatsache - in aller Konsequenz.

„Nein!“ brüllte jemand in der Zentrale.

John Millory hörte es, aber er reagierte nicht darauf. Das Frieren wurde schlimmer und wurde nur noch von der lähmenden Ohnmacht übertroffen, die er empfand.

Derweil raste ihr Schiff stetig beschleunigend auf die Erde zu. Allen wurde es bewusst, auch John Millory.

Die Sirius-McCoy würde wie ein großer Meteor in die Atmosphäre rasen. Und falls sie es schaffte, dort nicht zu verglühen, würde sie einen Krater schlagen, der sicherlich Hunderte von Metern tief war.

Angesichts dessen noch über das Unmögliche einer scheinbar veränderten Physik zu philosophieren, war nachgerade wahnwitzig.

Sie spürten alle Todesangst und jeder musste die Sekunden, die sich scheinbar zu schleichenden Ewigkeiten dehnten, auf seine Weise verbringen.

Ja, die Angst deckte alle anderen Empfindungen und Gedanken zu...