»Ich sehe immer den Menschen vor mir«

Editorische Notiz

Zitate aus den Briefen, Aufzeichnungen und Tagebucheintragungen wurden den heute geltenden Rechtschreibregeln angepasst, fehlende Kommata ergänzt und grammatikalische Ungenauigkeiten und Fehler ausgeglichen. Für polnische Namen von Personen und Orten gilt jeweils die polnische Schreibweise, auch wenn diese im Originaltext, etwa im Kassiber von Wilm Hosenfeld aus der Gefangenschaft, anders geschrieben wurden. Es handelt sich um formale Eingriffe. Inhaltliche Veränderungen der ursprünglichen Textfassung sind damit nicht verbunden.

 

Das Zitat in der Einleitung wurde dem folgenden Band entnommen: Etty Hillesum, »Das denkende Herz der Baracke. Die Tagesbücher 1941–1943«, Freiburg i. B., 2014

Einleitung

Ich sehe immer den Menschen vor mir

Es würde aber schon genügen, wenn es nur einen Menschen gäbe, der wert ist, »Mensch« zu heißen, um an den Menschen, an die Menschheit zu glauben.

Julius Spier, jüdischer Emigrant in den Niederlanden, 1941 zu Etty Hillesum, Jüdin, die zwei Jahre später in Auschwitz ermordet wurde.

Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende, als es im November 1944 in Warschau in einem Gebäude, in dem die Wehrmacht gerade ihre Kommandantur einrichtete, zu einer außergewöhnlichen Begegnung kam. Der deutsche Hauptmann Wilm Hosenfeld entdeckte in dem Haus den polnischen Pianisten Władysław Szpilman, der sich unter dem Dach versteckt hatte und kurz vor dem Verhungern war. Hosenfeld, im Zivilberuf Pädagoge, lieferte den jüdischen Musiker nicht aus. Vielmehr versorgte er ihn über mehrere Wochen hin mit Lebensmitteln und sicherte damit sein Überleben.

In kaum einer anderen europäischen Metropole haben die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so gewütet wie in Warschau. Von der einst mondänen, kulturell blühenden Metropole war fast nur noch ein schwelender Trümmerhaufen geblieben. In einem Inferno von Massenmord und Zerstörung hatte Hitler die polnische Hauptstadt im Herbst dem Erdboden gleichmachen lassen. Die deutschen Besatzer, Zehntausende von Soldaten und Sicherheitskräften, hatten in einem gnadenlosen Vernichtungsfeldzug die Führungsschicht des Landes weitgehend liquidiert und Völkermord an den Juden verübt.

Und doch gab es Ausnahmen unter den Deutschen – Menschen wie Wilm Hosenfeld, dessen Lebensgeschichte bislang noch kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist. Allein eine kurze Szene in Roman Polańskis preisgekröntem Film »Der Pianist« über das Leben Szpilmans, der damit weltberühmt wurde, machte erstmals auch auf die mutige Rettungstat des deutschen Offiziers aufmerksam, wenn auch ohne Namensnennung.

Hosenfeld (18951952) bewahrte nicht nur Władysław Szpilman (19112000), sondern zahlreiche andere polnische Bürger, darunter weitere Juden, vor dem sicheren Tod. Vor dem Hintergrund von Mord und Totschlag wirkt der Offizier heute wie eine Lichtgestalt in einer finsteren Zeit. Wahrscheinlich waren es über 60 Menschen, die dank seiner Hilfe überleben konnten. Er war Retter und in gewisser Weise Opfer zugleich, denn er selbst konnte nicht gerettet werden, sondern starb in sowjetischer Gefangenschaft, ohne seine Familie wiedergesehen zu haben.

Die vorliegende Biographie »Wilm Hosenfeld – ›Ich sehe immer den Menschen vor mir‹« rückt die außergewöhnliche Lebensgeschichte dieses Mannes in den Blickpunkt, eine Geschichte von bewundernswertem Mut, von Widersprüchen, grausamen Zufällen und am Ende von tiefer Tragik. Es wird gezeigt, dass und wie es auch unter den barbarischen Verhältnissen möglich war, das christliche und humane Gewissen zu bewahren und dafür einzutreten. Wilm Hosenfeld, der erst spät für sein mutiges Tun Anerkennung fand – die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrt ihn seit 2008 als »Gerechten unter den Völkern« –, gehört zu diesen Ausnahmen. Sein »Rettungswiderstand« leuchtet deshalb umso klarer als ein Vorbild für Gegenwart und Zukunft.

Der in der Rhön geborene Lehrer und Offizier verbrachte die Kriegsjahre ausschließlich in Polen, wo er zunächst ein Lager für polnische Kriegsgefangene aufbaute und anschließend eine Sport- und Berufsschule für Wehrmachtsangehörige leitete. Diese sechs Jahre wurden zum Wendepunkt seines Lebens, in denen er sich von einem begeisterten Anhänger des Feldherrn Hitler schon bald zu einem der schärfsten und klarsichtigsten Kritiker des NS-Regimes entwickelte. Von Anfang an zeigte sich Hosenfeld unter Missachtung aller dienstlichen Vorschriften und persönlichen Risiken den Polen gegenüber als hilfsbereit, großzügig und entschlussfreudig, wenn es galt, Menschen vor dem Terror seiner Landsleute zu bewahren.

Es gibt wohl kaum einen anderen Wehrmachtsoffizier, der die Verbrechen der Nazis im Zweiten Weltkrieg so umfassend dokumentiert hat wie Hosenfeld. Der Pädagoge führte Tagebuch und schrieb über 800 Briefe nach Thalau in der Rhön, wo er selber an der Dorfschule unterrichtet hatte. Er wurde damit zum Chronisten des mörderischen Alltags im besetzten Warschau, des Aufstands im jüdischen Getto 1943 und des Warschauer Aufstands im Jahre 1944. Die meisten Briefe gingen an seine Frau Annemarie, geborene Krummacher (18981971), eine Pazifistin, die in einer Künstlerfamilie in Worpswede bei Bremen aufgewachsen war und während des Krieges auf sich allein gestellt die gemeinsamen fünf Kinder großzog.

Wesentliche Grundlage des vorliegenden Buches ist dieser Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau, ferner das einzigartige Warschauer Tagebuch. Seine Briefe, Notizen und Tagebücher erschienen 2004 als Dokumentation »Wilm Hosenfeld – ›Ich versuche jeden zu retten‹ – Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern«. Das umfangreiche Werk von fast 1200 Seiten – der Anhang allein umfasst über 200 Seiten –, das der Historiker Thomas Vogel im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam herausgegeben hat, schuf die erste wissenschaftlich fundierte Grundlage für eine Beschäftigung mit Wilm Hosenfeld.

Außerdem standen dem Autor neben einem Interview mit der Witwe des geretteten Pianisten, Halina Szpilman, den Informationen seines Sohnes Andrzej Szpilman und Archivmaterial der gesamte Briefwechsel sowie Unterlagen und Dokumente aus dem Archiv der Familie Hosenfeld zur Verfügung. Zahlreiche Gespräche und Interviews, u.a. mit Kindern des Ehepaares Hosenfeld, ergänzen das Material. Die Briefe von Annemarie Hosenfeld werden erstmals ausgewertet und veröffentlicht. Auch sie besaß ein ausgezeichnetes Talent zum Schreiben. Sie sagte während seiner Kriegsgefangenschaft über ihren Mann: Wenn der Vater nach Hause kommt, wird er Schriftsteller.

Im ersten Teil des Buches geht es um die Prägungen, die Wilm Hosenfeld im katholischen Elternhaus, durch die Wandervogel-Bewegung und seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erfahren hat. Er war Patriot und nach dem Krieg Pädagoge mit Leib und Seele, wie seine Aufsätze und Berichte aus der Zeit der Wandervogel-Bewegung, die Wilm und Annemarie Krummacher 1918 zusammengeführt hatte, zeigen.

Teil II des Buches beschreibt Wilm Hosenfelds kritische Gefolgschaft dem Naziregime gegenüber. Der Offizier war ein Kind seiner Zeit. Den Machtantritt Hitlers und auch den Kriegsbeginn 1939 hatte er zunächst begrüßt, weil er sich davon eine Wiedergutmachung für die Niederlage von 1918 und eine neue Ordnung in Europa versprach. Mehr als einmal erlag Hosenfeld den Propaganda-Tiraden von Hitler und Goebbels. Zwei Zitate verdeutlichen, wie sich seine Wandlung vollzog. Nach den Erfolgen der Wehrmacht beim Westfeldzug im Frühsommer 1940 schrieb er noch seiner Frau: Hitler ist ein großes Genie. Er soll die Operationen selbst leiten und die ganzen strategischen Pläne entwerfen, das ist fast nicht zu glauben. Ende Dezember 1943 notierte er in seinem Tagebuch: Als Schande muss jeder Mensch es heute empfinden, dass er auch nur im Geringsten dieses System bejahte.

Obwohl Mitglied der SA, des NS-Lehrerbundes und seit 1935 auch der NSDAP, stellte Hosenfeld sich mehrfach quer zur Parteilinie und geriet beruflich zeitweise ins Abseits. Sein Gewissen und seine Vorstellung vom Zusammenleben der Menschen wollte er sich nicht verbiegen lassen. Das Vorgehen der deutschen Besatzungsmacht gegen Polen öffnete ihm schließlich die Augen und führte zum völligen Bruch mit dem NS-Regime. Sein moralischer und ethischer Kompass blieb während des Krieges intakt.

Die polnische Hauptstadt ist der eigentliche Schauplatz der Lebensgeschichte von Wilm Hosenfeld. Während des Krieges hat Hosenfeld seine Familie in Thalau in der hessischen Rhön mehrfach besucht. »Heimaturlaub« hieß das Zauberwort, das ihn, seine Frau und die Kinder elektrisierte, sobald die Vorgesetzten das Gesuch unterschrieben hatten. Ansonsten blieb das Schreiben von Briefen die einzige Verbindung zwischen ihnen. Die lange Trennung von seiner Frau und den Kindern bestimmte den Briefwechsel, der zwar kein Ersatz für Nähe und Zusammensein war, aber doch ein festes Band zwischen ihnen schuf und dazu beitrug, auch Krisen in ihrer Beziehung zu überwinden.

Der dritte Teil stellt Hosenfelds Gefühl von Mitschuld wie seinen Rettungswiderstand in den Mittelpunkt. Das Schreiben, oftmals täglich, half ihm, die eigenen Maßstäbe zu überprüfen und sich seiner Rolle in der von deutschen Truppen besetzten und von deutschen Bürokraten verwalteten Hauptstadt Warschau bewusst zu werden. Er hielt engen Kontakt zu Polen, deren Patriotismus er bewunderte, und versuchte, die polnische Sprache zu erlernen. Dabei ermöglichte ihm vor allem sein katholischer Glaube eine besondere Nähe zur Bevölkerung, obwohl jedes »Fraternisieren« streng verboten war. Auf bewegende Weise haben die von ihm geretteten und beschützten Menschen sich bei ihm bedankt. Dazu gibt es Fotos und Zeugnisse, die hier erstmals veröffentlicht werden.

Im vierten Teil des Buches wird die sieben Jahre dauernde Kriegsgefangenschaft von Hosenfeld dokumentiert sowie die vergeblichen Versuche, seine Entlassung zu erreichen, um sein von Schlaganfällen bedrohtes Leben zu retten. Die Verurteilung durch die sowjetische Militärjustiz zu 25 Jahren Lagerhaft im Jahre 1950 kam einem Todesurteil gleich.

In die Lebensgeschichte von Wilm Hosenfeld werden in diesem Buch auch Stationen der Leidensgeschichte von Władysław Szpilman während des Krieges – bis zu der schicksalshaften Begegnung der beiden – mit aufgenommen. Grundlage hierfür sind neben Polańskis 2002 gezeigtem Film »Der Pianist« die seit 1998 auf Deutsch vorliegenden Erinnerungen von Władysław Szpilman, »Der Pianist – Mein wunderbares Überleben«. Das Buch war 1946, also gleich nach dem Krieg, erstmals in Polen unter dem Titel »Tod einer Stadt« erschienen. Es war jedoch durch Eingriffe der Zensur verunstaltet worden, wie Andrzej Szpilman, der Sohn des Pianisten, während sein Vater im Ausland auf Tournee war, später schrieb. Wilm Hosenfelds Name tauchte darin nicht auf. Vielmehr wurde der Retter als Österreicher dargestellt. Im kommunistisch regierten Polen sollte das Bild von den Nazi-Verbrechern intakt bleiben. Ein guter Deutscher passte nicht dazu, nicht einmal als Ausnahme.

Da in Polen selbst offenbar auch später kein Interesse an einer Neuausgabe bestand, hatte Andrzej Szpilman, der inzwischen in Deutschland lebte, sich 1997 darangemacht, das Buch in deutscher Sprache herauszubringen. Indem der Sohn des Pianisten darin Wilm Hosenfeld als Deutschen und beim Namen nannte, wollte er nicht nur seinem Vater, sondern auch dessen Retter gerecht werden.

Szpilmans Sohn konnte den Liedermacher Wolf Biermann dafür gewinnen, zur deutschen Ausgabe der Erinnerungen seines Vaters einen umfangreichen Essay beizusteuern. Wegen der Briefe Hosenfelds hatte er sich an die Kinder von Wilm Hosenfeld gewandt, um einige davon zu veröffentlichen. Uta Hosenfeld, die jüngste Tochter, hatte eine Holzkiste mit allen Briefen an sich genommen, als Annemarie Hosenfeld ihre eigene Wohnung aufgab. Sie überließ die Briefe und Aufzeichnungen schließlich ihrem ältesten Bruder, dem Arzt Helmut Hosenfeld.

Auch er, der älteste Sohn Wilm Hosenfelds, stand als Unterstützer Andrzej Szpilman zur Seite. Bereits 1984, als Władysław Szpilman noch lebte, hatte der Arzt die Familie Szpilman in Warschau aufgesucht und sich vom Pianisten das Versteck in dem Gebäude an der Aleja Niepodległości zeigen lassen, wo dieser 1944 seinem Retter begegnet war. Als Helmut Hosenfeld auch den ehemaligen Umschlagplatz sehen wollte, den Szpilman seit der gewaltsamen Trennung von seinen Eltern und Geschwistern im Jahre 1942 nicht mehr aufgesucht hatte, habe dieser gezögert. Helmut Hosenfeld konnte ihn schließlich doch dazu bringen, mitzukommen. Ich war vielleicht etwas unsensibel, aber ich sagte zu Szpilman, wissen Sie, wir kommen nicht als Touristen zu Ihnen, auch nicht als Ihr Besuch. Für mich ist diese Reise eine Wallfahrt zu den Stätten, wo Deutsche den Polen so viel angetan haben, wo Sie meinem Vater begegnet sind und wo so viel Unglück durch die Deutschen geschehen ist.

Teil 1
   Katholizismus und Körperkultur

1. Ein Dorf in Hessen

Wilm Hosenfeld verfasste unter dem Datum 17. Dezember 1943 in Warschau einen Aufsatz, der offensichtlich für seine Kinder bestimmt war: »Als Vater ein kleiner Junge war«. Für ihn war das Schreiben auch eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, auf seinen Lebensweg, der ihn aus einem beschaulichen Bauerndorf in der preußischen Provinz Hessen-Nassau herauskatapultiert hatte ins Zentrum eines verbrecherischen Vernichtungskrieges.

Hosenfeld wurde am 2. Mai 1895 in dem Ort Mackenzell unweit der Stadt Hünfeld am Rande der Rhön als siebtes von neun Kindern geboren und wuchs in einer katholisch-konservativ geprägten Umgebung auf. Sein Vater, Adalbert Hosenfeld, (18571938), entstammte einer Bauern- und Handwerkerfamilie. Der Vater seiner Mutter Friederike Hosenfeld, geborene Krick (18571930), war ein außergewöhnlich begabter Lehrer gewesen.

Adalbert Hosenfeld hatte sich zum Dorfschulmeister von Mackenzell emporgearbeitet. Die Eltern betrieben eine kleine Viehwirtschaft, was damals keineswegs ungewöhnlich war, denn das Gehalt eines Lehrers reichte für den Unterhalt einer Familie meistens nicht aus.

In der Silvesternacht des Jahres 1899, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, stand das neunte Kind des Ehepaares kurz vor der Geburt. Die Mutter hatte, bevor die ersten Wehen einsetzten, noch das Vieh versorgt. Den Rest der Arbeit im Stall und im Haushalt überließ sie den älteren Töchtern. Die Niederkunft zog sich dann bis nach Mitternacht in das neue Jahr 1900 hinein.

Wilm Hosenfeld, damals fünf Jahre alt, schildert in dem Rückblick auf die eigene Kindheit zunächst das Silvestertreiben der Burschen und Mädchen mit Peitschenschwingen und Schüssen aus alten Vorderladern. Das alles mitten im Dorf bei Schnee und Eis. Dann widmete er sich, damals noch Wilhelm genannt, der Geburt des neuen Erdenbürgers, seines jüngsten Bruders. Dieser war noch am frühen Morgen des 1. Januar 1900 in der Ortskirche auf den Namen Rudolf getauft worden. Mit dem Kleinkind konnte Wilhelm zunächst wenig anfangen. Als Rudolf etwas älter war, neckte und ärgerte er ihn gern. Hosenfeld: Und weil er selbst (Wilhelm) genug Wichse (Schläge) bekam, wendete er bei seinem Bruder dieselben Methoden an.

Die Eltern erzogen ihre Kinder streng nach der katholischen Lehre. Durchaus üblich war damals die körperliche Züchtigung. Das erledigte der immer gefürchtete Vater, der zu Hause wie auch in der Schule uneingeschränkt das Sagen hatte und im Unterricht die eigenen Kinder in gleicher Weise behandelte wie alle anderen. Wilm Hosenfeld schreibt in dem Aufsatz über sich in der dritten Person. Danach war er ein zu Streichen aufgelegter Junge. Das Elternhaus mied Wilhelm, wann immer er konnte. Lieber half er gleichaltrigen Bauernjungen im Wald beim Schlagen von Holz oder auf dem Feld bei der Runkelrübenernte.

Wenn Vater Adalbert durchs Dorf ging, versteckte Wilhelm sich mit seinen Freunden hinter einem Scheunentor oder einer Hauswand. In der Schule sei er nie bevorzugt worden, berichtet er. Wilhelm bekam seine Schläge, wurde gefragt und gescholten wie die anderen und fürchtete sich genauso vor dem Lehrer, wenn er auch sein Vater war, wie die andern.

Bei Ausflügen mit der Familie, etwa zu den Verwandten, sei er lieb zu seinen Kindern gewesen und habe sich als ein grundgütiger Mensch gezeigt. In der Rückschau auf die eigene Kindheit versucht Wilm Hosenfeld, seinem Vater gerecht zu werden. Es sei wohl nur die Herbheit in seinem Wesen oder die bäuerliche Erziehung gewesen, die ihn dazu gebracht habe, die Kinder so streng zu behandeln, statt ihnen seine Gefühle zu zeigen.

Als Wilm Hosenfeld nach dem Ersten Weltkrieg um die Hand von Annemarie Krummacher anhielt, schrieb er am 30. Dezember 1919 in einem Brief an seine künftigen Schwiegereltern in Worpswede: Er (sein Vater) fürchtet, Annemarie ist nicht die richtige Frau für einen Landlehrer, natürlich, wie er sie sieht. Er kennt mich zu wenig. Meine Welt ist ihm fremd. Er wird sie kaum verstehen. Nur ganz langsam muss er zu uns herüberfinden; aber doch nie ganz. Er wird in mir immer seinen Jungen sehn, der’s anders macht, mithin mehr oder minder falsch.

Als Pädagoge lehnte Wilm Hosenfeld die Erziehungsmethoden seines Vaters ab, vor allem die Schläge mit dem Rohrstock. Was die Eltern ihm mit auf den Weg gaben, waren der Respekt vor ihnen und das katholische Christentum mit seinen Zehn Geboten. Das prägte ihn, und daran hielt er fest.

Seinen christlichen Überzeugungen blieb er selbst in schwersten Stunden treu, zumal sie ihm Halt und Orientierung bedeuteten. Damit war seine Einstellung gegenüber der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges vorherbestimmt: Wilm Hosenfeld sah in den Polen nicht die Sklaven der deutschen Eroberer, sondern ebenbürtige Menschen. Mit ihrem katholischen Glauben dachten und handelten die meisten von ihnen wie er.

Der unmittelbare Einfluss des Elternhauses ging ohnehin zurück, als Wilhelm mit elf Jahren die Grundschule verließ und nach Hünfeld wechselte, um dort die Lateinschule zu besuchen. Im Unterricht steckte er, wie zuvor noch in Mackenzell, nicht mehr alles weg, was die Lehrer ihm zumuteten. Sein Gerechtigkeitsgefühl rebellierte, als einer der Pädagogen ihm eine Ohrfeige gab. Aus Protest blieb er vorübergehend dem Unterricht fern.

Wilhelms Berufswunsch stand ziemlich früh fest. Er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten, ohne dessen Methoden zu übernehmen. Er wollte es besser machen und beweisen, dass es möglich war, ohne körperliche Züchtigung Kinder zu erziehen. Die Fragen einer modernen Pädagogik beschäftigten ihn in den folgenden Jahren intensiv. In einer sogenannten Präparandenanstalt in Fritzlar bereitete Hosenfeld sich von 1910 bis 1913 gründlich auf das Studium der Pädagogik vor. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verzeichnete das katholische Lehrerseminar in Fulda ihn schließlich als Studenten. Wilhelm Hosenfeld besaß ein eigenes Zimmer und begann, sich neu zu orientieren.

 

Zu den Strömungen, die schon vor der Jahrhundertwende Jugendliche in ihren Bann gezogen hatten, gehörte die Wandervogel-Bewegung. Junge Menschen entdeckten Natur und Umwelt ganz neu. Sie sammelten sich am nächtlichen Lagerfeuer, sangen Lieder und gingen ungezwungen miteinander um. Die lärmenden Fabrikhallen, die beengten Wohnverhältnisse in der Stadt und überhaupt das ganze Spießertum im kaiserlichen Deutschland – das alles wollten sie hinter sich lassen.

Die Wandervögel verstanden sich als eine Bewegung jenseits von Politik und gesellschaftlicher Konvention. Charakteristisch waren Loblieder auf das Deutschsein, gedankliche Höhenflüge in Form von Gedichten und Selbstbehauptung im Alltag. Aber schon das Pochen auf Eigenständigkeit bedeutete für die Welt der Erwachsenen Unruhe und Aufruhr. Sie sahen die alte Ordnung mit ihren preußischen Tugenden wie Gehorsam und Pflichtbewusstsein in Gefahr.

Die Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen bestand, hatte jedoch wenig mit Umsturz und Revolution zu tun, eher schon mit einem Aufbäumen gegen die Altvorderen, die der Jugend alles vorschreiben und sie in ihre eingefahrenen Gleise zwängen wollten. Wilhelm Hosenfeld, schlank, sportlich, kontaktfreudig und unternehmungslustig, fühlte sich auf Anhieb den Wandervögeln verbunden; da war vieles, was ihn anzog: die freie Natur, der offene, ungezwungene Umgang der jungen Erwachsenen untereinander, ihr Schwärmen für Freiheit und Selbstbestimmung. Das enge Korsett abstreifen und neue Wege für das eigene Leben entdecken, das bewog ihn mitzumachen, ihn, der von seiner Mutter das Gefühlsmäßige, das feine Gespür für Nuancen geerbt hatte; ferner die Freude, auf andere Menschen zuzugehen, und zudem die Gabe, Geschehnisse in seiner Umgebung genau zu beobachten und zu beschreiben.

Unter dem Einfluss der Wandervogel-Bewegung änderte Hosenfeld seinen Vornamen in Wilm. Das war kürzer und einprägsamer als Wilhelm. An dem berühmten Treffen der neuen deutschen Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913 anlässlich des hundertsten Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig hat er nicht teilgenommen. Die »Meißner-Formel« dürfte er sich allerdings zu eigen gemacht haben, vor allem den Satz: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.«

Diese Ideale traten gewissermaßen neben seinen katholischen Glauben und wurden zum zweiten Anker seines Lebens; sie blieben es auch dann noch, als die Bewegung selbst längst ihre Bedeutung eingebüßt hatte. Diesem Aufbruch widmete er ebenfalls einen längeren Aufsatz mit dem Titel »Die deutsche Jugendbewegung«, den er allerdings erst nach Ende des Ersten Weltkrieges zu Papier brachte, wahrscheinlich 1921 oder 1922. Wohl in der Hoffnung, der Geist der Jugendbewegung lasse sich trotz des barbarischen Krieges wiederbeleben, zählte er auf, was die Bewegung alles zustande gebracht habe.

Der Wandervogel habe eine neue Art von Gemeinschaft geschaffen und eine eigene Wandertechnik entwickelt, schrieb Hosenfeld. Ferner habe er das Volkslied und den Volkstanz neu belebt. Er trieb zuerst Jugendpflege im idealsten Sinne, errichtete die ersten Jugendherbergen, trieb Körperkultur und wetteiferte in Leibesübungen. Und schließlich: Er gab dem Verhältnis der Geschlechter einen einfachen, natürlichen kameradschaftlichen Charakter. Zur Welt der Erwachsenen zog er eine klare Grenze: Die Jugend will aber nicht das dumpfe Gefäß sein, in das die ältere Generation widerspruchslos ihre Ideale und Lebensanschauungen hineinfüllen darf. Sie glaubt sich jetzt stark und urteilsfähig genug, um sich ihre eigene Jugendkultur zu schaffen.

Der Großstadt mit ihrer geschäftigen Unrast, ihrer Seelenlosigkeit und ihrer Versklavung des Menschen stellte Hosenfeld die inneren Kräfte der Jugendseele gegenüber, das Wandern, die Fahrten in die Weite und das Alleinsein in der Natur.

Der Wandervogel verstand sich also als Gegenbewegung zur Industrialisierung und Kommerzialisierung, die Europa, voran England und Deutschland, eine ungeahnte wirtschaftliche Blüte beschert hatten. Und gleichzeitig war die Jugendbewegung Teil eines antibürgerlichen Zeitgeistes. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 herrschte vier Jahrzehnte lang Friede. In dieser Zeit entwickelte Deutschland sich zu der führenden Industrienation Europas. Die Fortschritte auf den Gebieten der Technik, Wissenschaft und Medizin waren atemberaubend. Alles und jedes schien möglich und machbar. Die Eisenbahn ließ die Entfernungen schrumpfen. Kunst und Kultur testeten die Grenzen des Erlaubten und überschritten sie. Frauen erkämpften sich Rechte, die ihnen jahrhundertelang verwehrt worden waren.

Das Feuer der neuen Zeit loderte auch in den hehren Parolen des Wandervogels. Zugleich schwang darin Opferbereitschaft mit, das Einstehen für ein Ziel, wenn es denn nur groß und edel genug sei. Die Liebe zum Vaterland war ein solches Ideal. Die Säulen der Gesellschaft – Schule, Kirchen, das Militär, die Machthaber bis zum Kaiser hin – hatten die Vaterlandsliebe tief in die Seelen junger Menschen eingepflanzt. Diese Tugend war jederzeit abrufbar. Es genügte, die Gefahr für das Vaterland in grellen Farben zu zeichnen.

2. Der Erste Weltkrieg – Gern und froh gehorcht

Der Wandervogel blieb, zeitlich gesehen, im Leben von Wilm Hosenfeld trotz des nachhaltigen Einflusses, den dieser auf ihn ausübte, zunächst nicht viel mehr als eine Episode. Denn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 beendete alle Aktivitäten, die ein neues Lebensgefühl ermöglichen sollten. Junge Männer wie der 19-jährige Hosenfeld, die noch kurz zuvor von Freiheit und Selbstbestimmung geschwärmt hatten, eilten in Scharen freiwillig in die Kasernen.

Im Fall des angehenden Pädagogen Hosenfeld, der in Fulda gerade mal die Hälfte seines Studiums zurückgelegt hatte, ging alles ganz schnell. Die Ausbildung wurde vorzeitig beendet. In einem Rückblick, den er im November 1917 unter der Überschrift »Erinnerungen aus dem Feld« zu Papier brachte, schrieb er von der großen Begeisterung, die im Sommer 1914 geherrscht habe: Jetzt war der Krieg die Losung. Hei, wer wäre da nicht gefolgt.

Das Vaterland rief eine ganze Generation zu den Waffen. Da gab es auch für Wilm Hosenfeld kein Halten mehr. Die Eltern erwarteten ohnehin, dass er und sein Bruder Martin sich freiwillig meldeten. Bereits am 21. August 1914 trug Wilm Hosenfeld beim preußischen Infanterie-Regiment Nr. 167 in Kassel die graue Uniform des Heeres. Die Grundausbildung durchlief der Rekrut mühelos. Während andere über Schinderei, Demütigungen und Schikanen klagten, erlernte Hosenfeld das Waffenhandwerk ohne Gegenwehr. Unsere Instrukteure hatten ihre helle Freude an diesen Rekruten, und von der Härte militärischer Disziplin habe ich nichts gespürt, da wir immer gern und froh gehorchten.

Mit seiner höheren Schulbildung stand Hosenfeld der Weg zum Offiziersrang von Anfang an offen. Der Aufstieg innerhalb der Militärhierarchie bedeutete ihm einiges. Sein erster Fronteinsatz führte ihn Anfang November 1914 in eine der heftigsten Schlachten des Krieges in Flandern. Dort sollte das Heer den Riegel französischer, britischer und belgischer Einheiten um die Stadt Ypern durchbrechen und bis zur Kanalküste vorstoßen, um den Rücken frei zu bekommen für das eigentliche Ziel: die Eroberung von Paris.

Was Hosenfeld während der Zugfahrt zum Kriegsschauplatz sah, dämpfte seine Begeisterung. Belgische Frauen streckten beim Anblick der deutschen Soldaten die Zunge heraus und machten mit der Hand eine Bewegung des Halsabschneidens. Beim Marsch an die Front kehrte noch einmal das Hochgefühl zurück, am Krieg teilnehmen zu dürfen. Jetzt empfand ich’s zum ersten Male mit ganzer Wucht und Tiefe, welch starke Liebe und Treue mich mit dem Vaterland verband. Dankbarkeit und Stolz zugleich gaben Kraft und hohen Mut und festen Willen.

Gleich beim ersten Angriff in Flandern wurden Kraft, Mut und Durchhaltewille des Soldaten auf die Probe gestellt. Im Verlauf eines nächtlichen Vormarschs ins Niemandsland über glitschige Rübenfelder und schlammige Wassergräben verlor Hosenfeld zeitweise den Kontakt zum Vordermann, irrte orientierungslos im Gelände umher, geriet zwischen Stacheldraht und Telefonleitungen, sah fremde Gestalten auf sich zukommen und dachte bereits an die Schmach der Gefangenschaft und die Nutzlosigkeit seines Soldatenseins. Das Pfeifen der Kugeln versetzte ihn in Angst. Im Morgengrauen sah er zwischen aufspritzenden Dreckfontänen Soldaten hin und her laufen, bis sie plötzlich zu Boden fielen. Waren es die eigenen Kameraden oder Franzosen? Und es dauerte nicht mehr lange, bis er auf den ersten Toten stieß. Der Anblick verstörte ihn. Seine Augen blicken starr in den grauen Himmel, mich blickt die Ewigkeit an.

In Flandern erlitten beide Seiten, Alliierte wie Deutsche, schwere Verluste. Die heftigen, zeitweise auch mit Gasmunition geführten Kämpfe gingen schließlich in einen Stellungskrieg über. Seit dem gescheiterten Angriff Anfang November 1914 auf Langemarck verharrte Hosenfeld mit seiner Einheit in dem nahe gelegenen Dorf Poelkapelle, von wo aus er regelmäßig mit einzelnen Kameraden die Wache an der vordersten Frontlinie ablöste. So auch am Abend vor dem 24. Dezember 1914. In einem Artikel für die »Fuldaer Zeitung« (24.12.1928) schilderte Hosenfeld später, wie er die »Vier Kriegs-Weihnachten« verbracht hatte. Von November 1914 bis April 1915 nahm Wilm Hosenfeld am Grabenkrieg in Westflandern teil. Nach dem zermürbenden Warten, unterbrochen durch Artilleriebeschuss und einzelne Gefechte, sollten die deutschen Verbände im Frühjahr 1915 mit einer neuen Offensive den Durchbruch erzwingen.

Am 24. April 1915 wurde Hosenfeld in der Nähe eines Bauernhofes von Schrapnellkugeln am rechten Bein, an der Brust und der Schulter verletzt. Helfer brachten ihn zum Verbandsplatz. Im Malteser-Lazarett in Aachen, wo er seinen 20. Geburtstag feierte, unterzog sich Wilm Hosenfeld einer mehrwöchigen Behandlung. Die Schusswunden verheilten recht schnell. Denn bereits Ende Juni 1915 erhielt Hosenfeld einen neuen Marschbefehl. Dieses Mal ging es in Richtung Osten, also an die zweite Front, der sich Deutschland mit seinem Verbündeten Österreich-Ungarn von Beginn des Krieges an gegenübersah. Hosenfeld verschlug es zunächst nach Litauen und Kurland, also ins Baltikum, wo es galt, russische Truppen aus einzelnen Ostseestädten zu vertreiben. Kowno (Kaunas) kam im August 1915 unter deutsche Kontrolle. Etwa drei Monate später geriet die Verfolgung der Russen an dem Fluss Düna südlich von Riga ins Stocken, und Hosenfeld verbrachte die folgenden Wochen in einem eher ruhigen Stellungskrieg. Unser Leben ist ganz gemütlich, schrieb er. Wir sind meist junge Kerle. Frieden will’s doch nicht werden.

Bevor Hosenfeld im September 1916 nach siebentägiger Bahnfahrt in der Nähe von Hermannstadt in Siebenbürgen eintraf, war er auf der Leiter der Militärhierarchie wieder ein Stück weitergekommen. Der Ernennung zum Gefreiten folgte der Unteroffiziersrang, womit er befugt war, einen Trupp von etwa einem Dutzend Soldaten anzuführen. Seit April 1916 war er Träger des Eisernen Kreuzes II. Klasse, womit sein tapferes Verhalten vor dem Feind auf dem östlichen Kriegsschauplatz hervorgehoben wurde.

In Rumänien ging der Krieg zwar weiter, zunächst verhalten, dann wieder mit unverminderter Härte. Zum ersten Mal kämpfte Hosenfeld an der Seite von Österreichern und Ungarn, deren Reitertruppen ihn mit ihrem Schneid und den prächtigen Uniformen mächtig beeindruckten. Der Vormarsch in den Transsilvanischen Alpen glich anfangs einer Wanderschaft. Die eigentlichen Kämpfe begannen Ende September 1916. Als die Rumänen zurückwichen, nahm Hosenfelds Einheit die Verfolgung bis in die Nähe von Kronstadt auf.

Die Rückzugsgefechte waren mörderisch. Und der Anblick des Kampfplatzes, der zerfetzten Menschen und der Pferde, die sich im Todeskampf aufbäumten, raubte dem jungen Soldaten fast den Verstand. Den Tieren besorgten wir den Liebesdienst und schossen ihnen eine Kugel ins Auge. Aber bei den Menschen kann ich das doch nicht … Beim Umherirren auf dem Gelände stieß er auf einen Mann, den er zunächst für tot gehalten hatte. Es war ein Rumäne mit einem Durchschuss am Oberschenkel, der ihn um Hilfe anflehte. Hosenfeld gab ihm Streichhölzer und Zigaretten, holte Wasser, ein Stück Brot und einen Mantel. Kaum war er ein paar Schritte gegangen, hörte er, wie der Verwundete anfing, laut zu weinen. Nie werd ich dieses schöne Mannesantlitz mit den dunklen Augen, die deutlicher sprachen als der beredtste Mund, vergessen.

Hosenfelds Vorschlag beim Kompanieführer, mit mehreren Leuten aufzubrechen, um den Verwundeten zu bergen, stieß zuerst auf Ablehnung. Doch am nächsten Tag erfuhr er, dass ein rumänischer Verwundeter mit einem Oberschenkeldurchschuss geborgen worden sei.

In den letzten drei Monaten des Jahres 1916 entschied sich das Schicksal der rumänischen Streitkräfte. Sie mussten Kronstadt räumen und zogen sich über die Pässe der Transsilvanischen Alpen zurück. Die Deutschen setzten nach. Dabei traf Hosenfeld öfter auf Siebenbürger Sachsen, die seit Jahrhunderten in Rumänien lebten und ihre Sprache und Kultur weitgehend bewahrt hatten. Hätte ich je geahnt, dass ich einmal hierherkommen sollte, wo Deutsche wohnen mit unbekanntem, vornehmem Nationalstolz, der hier größer ist als daheim.

Ende November 1916 drangen die deutschen Truppen tief in den Süden des Landes bis in die Walachei vor. Für Hosenfeld endete dieser Vorstoß Anfang Dezember in der Stadt Ploiești am Fuße der Karpaten, etwa 60 Kilometer nördlich von Bukarest, das sich den Deutschen fast ohne Gegenwehr ergeben hatte. Seine dritte Kriegsweihnacht erlebte er in einem Akazienwald in der rumänischen Moldau. Salven von Granaten hatten Bäume zerfetzt, der Boden war durchzogen von Granatlöchern und Schützengräben. Der Gegner lag 1500 Meter entfernt. Am ersten Weihnachtstag nahm Hosenfeld an einem katholischen Feldgottesdienst teil. In seinem Tagebuch hielt er fest: Kein Gotteshaus der Welt hätte so viel Andacht wecken können als hier der sternbesäte Himmel, die dunkle Erde, der schweigende Wald, das lodernde Feuer. Eine wunderbare Ruhe sei in sein Herz gezogen, heißt es weiter, in dieser Umgebung, Schlacht, Tod und Grauen um uns, vor und zwischen uns.

Ende Januar 1917 steigerte sich die Kälte ins Unerträgliche. Aus Nordosten wehte ein steifer, eisigkalter Wind. Er hielt Tage und Nächte an. Es war ein Sturm, ein Orkan, der durch alle Schützenkleider ging, die Glieder erstarrten. Viele erlitten Erfrierungen. Nach der Eroberung von Focşani begann erneut ein Stellungskrieg. Ruhr und Cholera grassierten. Hosenfeld, inzwischen zum Vizefeldwebel aufgestiegen, musste vier Wochen lang, und zwar bis Ende April 1917, ins Lazarett. Sobald er halbwegs genesen war, genehmigten ihm die Vorgesetzten einen Heimaturlaub von drei Wochen. Der Zufall fügte es, dass sein älterer Bruder Martin auch gerade in Mackenzell war. Am Himmelfahrtstag war die ganze Familie wieder mal seit Jahren zusammen, worüber im Hause große Freude herrschte. Der Tag des Abschieds rückte auch wieder heran, und am 1. Juni (1917) fuhr ich.

Über Breslau, Kronstadt und Ploieşti erreichte Hosenfeld Focşani. Als er bei seiner Kompanie in einem Dorf am Südrand der Karpaten eintraf, herrschte warmes Sommerwetter. Der Krieg legte eine Pause ein. Zeit für Hosenfeld, Land und Leute genauer zu beobachten. Die rumänische Bevölkerung tat ihm leid. Er ging auf die Menschen zu und versuchte, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Was er sah, war Verzweiflung, Trauer, aber kein Hass. Er bewunderte den Fleiß der Bauern und ihr handwerkliches Geschick.

Anfang August 1917 wurde Hosenfeld bei einem Vorstoß der deutschen Truppen in der Bukowina im Nordosten Rumäniens gegen russische Einheiten erneut verletzt. Er erlitt einen Durchschuss am linken Bein und verlor die Verbindung zu seinem Zug. Unter Aufbietung aller Kräfte wollte er dem Kugelhagel entkommen, aber vergeblich. Er stürzte zu Boden und kroch auf allen vieren in ein Maisfeld, wo zwei Kameraden ihn fanden.

Ein Lazarettzug brachte ihn in der zweiten Augusthälfte 1917 nach Gera. Vom Krieg hatte er vorerst genug: Ich freue mich wie ein Kind auf die Heimat und kann mein Glück nicht fassen. Sein Vater reagierte ebenfalls erleichtert: Drücke Dich nur solange es geht im Lazarett. Ich freue mich, dass Du mit dem »Heimatschuss« der großen Gefahr entkommen bist. Wilm Hosenfelds große Sorge war allerdings, mit einem steifen Bein weiterleben zu müssen. Nie wieder wandern zu können – das war für ihn eine schreckliche Vorstellung. Gegen Ende September wechselte er zum Ersatz-Truppenteil nach Jena.

Die gründliche Nachsorge in Jena bedeutete zugleich Muße. Hosenfeld nutzte die Zeit, um seine Erinnerungen an den Krieg aufzuschreiben. Ihm ging es darum, die Ereignisse festzuhalten, ohne sie zu verherrlichen oder sich selbst gar als Helden darzustellen. Andererseits lag ihm nicht daran, sich kritisch mit dem Krieg auseinanderzusetzen und nach dem Sinn des Mordens und gegenseitigen Abschlachtens zu fragen. Wilm Hosenfeld blieb Patriot und zugleich ein begeisterter Anhänger der Wandervogel-Bewegung. Bereits vom Lazarett in Jena aus knüpfte er Kontakte zu Gleichgesinnten und nahm an einem Gauführertag des Verbandes Thüringen teil. Dabei lernte er Otger Gräff kennen, einen wortgewaltigen Anführer der Bewegung, der aus seiner völkischen und antisemitischen Einstellung keinen Hehl machte. Nach der Veranstaltung notierte Hosenfeld in seinem Tagebuch: Er will uns ältere Wandervögel zu einem deutschvölkischen, reinblütigen Bund zusammenschließen, in dem von ihm gegründeten Jungdeutschen Bund.

Wilm Hosenfeld, etwa 1918, in Wandervogel-Kluft. Typisch dafür der Schillerkragen und kurze Hosen

Da Hosenfeld als felddienstuntauglich eingestuft war, bestand keine Aussicht mehr, an die Front zurückzukehren. Den Jahreswechsel 1917/18 verbrachte er im Garnisonslazarett in Weimar. Dort gelang es einem Chirurgen, die Nervenbahnen in dem an der Front verletzten Bein so weit wiederherzustellen, dass er wieder normal gehen konnte.

Die letzte Kriegsweihnacht im Kreis ebenfalls verwundeter Kameraden blieb ihm noch lange in Erinnerung. Der Pastor hatte an Heiligabend gemeint, das deutsche Schwert habe von seiner Schärfe noch nichts eingebüßt. Das Jahr 1917 sei ein weiteres Ruhmesblatt an dem Kranze der deutschen Siege. Hosenfeld sah das anders: … diese Weihnachtspredigt gefällt uns nicht. Wir sind alle so müde. Uns kann man keine Stimmung vormachen. So nicht!

Am ersten Weihnachtstag wurde ihm bei einer Begegnung mit einem katholischen Kaplan bewusst, dass ein neuer Lebensabschnitt bevorstand: Und ich merkte, welch untätiges, stumpfes und wildes Leben hinter mir liegt. Das ist nun vorbei. Für mich ist der Krieg aus. Die Glocken heute Morgen, die mir drei Jahre nicht geklungen, sie riefen mir den Frieden zu, den Frieden des bürgerlichen Lebens. Im Mai 1918 verfügten die Vorgesetzten seine Entlassung aus dem aktiven Militärdienst. Für ihn war der Krieg zu Ende, für seine Kameraden dauerte er noch bis zum Waffenstillstand im November 1918.

3. Wandervogel und Künstlertochter – ein glückliches junges Paar

Jetzt konnte Wilm Hosenfeld endlich nach vorn blicken und Pläne für die Zukunft schmieden. Denn er hatte eine Frau kennengelernt, die für ihn mehr als eine flüchtige Begegnung werden sollte: Annemarie Krummacher. Hosenfeld hatte sie am 8. August 1918 bei einem Wandervogel-Treffen in einer ehemaligen Kolonialschule im hessischen Witzenhausen zum ersten Mal gesehen. Wilm habe anfangs eine etwas einfache, treuherzige Art an den Tag gelegt, erzählte sie später ihrem Sohn Detlev leicht ironisch-distanziert. Er sei unternehmungslustig und stets zu Späßen aufgelegt gewesen, wohl auch, um den Mädchen in der Gruppe zu gefallen. Eines Abends habe er dann sehr ernsthaft über den Krieg in Rumänien erzählt, die Kämpfe dort und seine Verwundung, und das habe sie mehr als alles andere beeindruckt.

Der angehende Lehrer mit den dunklen Haaren und der sportlichen Figur gefiel ihr jedenfalls besser als die anderen jungen Männer aus dem Wandervogel, die sich um sie bemüht hätten. Nicht einverstanden war Annemarie Krummacher allerdings mit seiner völkisch-nationalen Einstellung. Sie selber, am 6. April 1898 in Berlin-Wilmersdorf geboren, war im Künstlerdorf Worpswede bei Bremen aufgewachsen und hatte zusammen mit ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester Gertrud den freiheitlichen Teil der Wandervogel-Bewegung erlebt.

Ihr Vater war der Maler und Schriftsteller Karl Krummacher, der einer protestantischen Pastorenfamilie entstammte und zum Kreis der Worpsweder Maler gehörte, die um die Jahrhundertwende die Künstlerkolonie mit ihren Werken deutschlandweit bekannt gemacht hatten: Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler und Hans am Ende. Der Maler Carl Vinnen hatte Krummacher überredet, von Berlin nach Worpswede überzusiedeln, zumal dieser in der Hauptstadt von seiner Tätigkeit als Kunst- und Theaterkritiker kaum leben konnte. Heinrich Vogeler besorgte eine Wohnung, und Karl Krummacher verlegte sich weitgehend auf das Malen. Seine impressionistischen Bilder verkauften sich gut. Mit den meisten Künstlern bestanden enge freundschaftliche Verbindungen. Man half sich gegenseitig und feierte gemeinsam Feste.

Als Otto Modersohn nach dem Tod seiner ersten Frau die Malerin Paula Becker heiratete und beide für Monate nach Paris gingen, nahmen die Krummachers wie selbstverständlich Elsbeth, Modersohns Tochter, bei sich auf. Annemarie ging mit der gleichaltrigen Elsbeth in dieselbe Klasse. Die Familie Krummacher musste in Worpswede dreimal umziehen und kam schließlich auf einem großen Bauernhof unter, den Annemarie als paradiesisch empfand, wie sie später berichtete: Zu dem umfangreichen Besitztum, in dem wir frei schalten und walten konnten, gehörten außer unserem Wohnhaus Diele, Hof und Garten und Wiesen und ein Wäldchen … Manchmal schob ich meinen Puppenwagen durch die schmalen, dunkelerdigen Gartenwege, an den stark duftenden Jasminbüschen vorüber, zu dem Goldregenbaum, dessen schwere goldgelbe Blütentrauben bis zum Boden reichten.

Viele Gäste gingen damals in ihrem Elternhaus ein und aus. … junges, übermütiges Künstlervolk. Sie musizierten, malten und diskutierten und schätzten die Gastlichkeit meiner Eltern. Mal diente die große Diele als Atelier, wenn sich die Worpsweder Maler dort zum Zeichnen versammelten, mal als Platz zum Tennisspielen, wenn es draußen regnete oder zu kalt war.

Kurz nach Paula Modersohn-Beckers Rückkehr aus Paris – es war wenige Wochen vor ihrem Tod – ermunterte sie Annemarie Krummacher und ihre Stieftochter Elsbeth, sie auf dem Weg zu einer alten Frau zu begleiten, die mit ihrem entstellten Gesicht bei den Kindern als böse und hässlich verschrien war. Die Mädchen sträubten sich. Aber die Malerin überredete sie mitzukommen. In der armseligen Behausung schlug uns beißender Torfrauch entgegen. Voll geheimer Angst und kindlicher Neugier lauschte ich dem Gespräch der Frauen am offenen Herdfeuer. Paula Modersohn unterhielt sich mit der Alten im Worpsweder Platt. Ich erlebte staunend, wie das arme Weiblein alle Scheu verlor und ihre Sorgen der mitfühlenden Zuhörerin aufdeckte. … Unvergesslich bleibt mir das schöne, seelenvolle, von Güte verklärte Antlitz der großen Frau und Künstlerin. So sah ich sie zum letzten Mal.

Annemarie kam mit vielen außergewöhnlichen Menschen in Kontakt. Sie lernte Clara Rilke-Westhoff und Heinrich Vogeler kennen und den Barkenhoff, die von Vogeler gegründete sozialistische Kommune. Vom Barkenhoff fühlten sich viele angezogen, die neue Formen der Kunst und des Zusammenlebens ausprobieren wollten. Nach dem Tod von Paula Modersohn zog Otto Modersohn ins benachbarte Fischerhude und heiratete Louise Breling. Die Krummacher-Kinder besuchten ihn dort und hielten die Verbindung aufrecht. Annemarie besaß eine schöne Sopranstimme und bekam Gesangsunterricht. Nach dem Besuch einer Privatschule in Sondershausen, auf der sie u.a. Englisch und Französisch lernte, studierte sie in Bremen Sozialpädagogik. Sie wollte beruflich auf eigenen Beinen stehen, interessierte sich für Kunst und Literatur. Ihre Schwester Gertrud war ebenfalls musikalisch, konnte Klavier spielen, sehr gut zeichnen und eignete sich graphische und kunstgewerbliche Fertigkeiten an.

Karl Krummacher und seine Frau Anna, geborene Brodkorb, achteten auf eine solide Ausbildung der Kinder und ließen ihnen genügend Freiraum für ihre eigene Entwicklung. Wann immer sich die Gelegenheit bot, unternahmen die Schwestern auf eigene Faust oder mit einer Wandervogel-Gruppe Ausflüge und Reisen quer durch Deutschland.

 

Schon bald nach ihrem ersten Zusammentreffen empfanden Annemarie Krummacher und Wilm Hosenfeld eine große Zuneigung zueinander. Ihre gegensätzlichen Auffassungen vom Wandervogel spielten keine besondere Rolle mehr. Gewiss, sie kamen aus ganz unterschiedlichen Welten. Annemarie Krummacher gehörte zum weltoffenen, fortschrittlichen Flügel der neuen Jugendbewegung und lehnte, beeinflusst durch die Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner, den Krieg grundsätzlich ab. Wilm Hosenfeld dagegen bekannte sich zum völkisch-nationalen Teil des Wandervogels, ohne sich jedoch den Antisemitismus dieser Richtung zueigen zu machen.

1920: Annemarie und Wilm Hosenfeld nach ihrer Hochzeit

Dennoch entdeckten sie viele Gemeinsamkeiten – etwa ihr Interesse an Kunst, Literatur und Musik und nicht zuletzt an der freien Natur. Ihre Tochter Uta Hosenfeld, Psychologin, vertrat 2005 in einem Vortrag die Auffassung, der Pazifismus der Mutter habe Wilm Hosenfeld sogar fasziniert. Meine Mutter gehörte eher diesem freideutschen, diesem linken Spektrum des Wandervogels an, und die beiden haben sich immer und immer wieder viele Anregungen geben können, Austausch, geistigen Austausch. Und ich denke, für meinen Vater war meine Mutter das Alter Ego.

Hosenfeld hatte vorher schon andere Mädchen und Frauen kennengelernt, aber vergeblich diejenige gesucht, die ihm fürs Leben gehören soll. Bei keiner sei er restlos glücklich geworden, gestand er einem Freund. In seinen persönlichen Beziehungen folgte Hosenfeld nicht unbedingt den Vorschriften der Kirche: Was unsere katholische Kirche anbelangt, bin ich noch vollkommen von ihrem Wert überzeugt, doch in manchem gewähre ich mir eine eigene Meinung und lebe nach dem Grundsatz: Glaube an Gott, doch nicht ans Dogma. An anderer Stelle wurde er noch deutlicher: Ich halte es nicht für nötig, die Gesetze der Kirche, der Heilsanstalt, unbedingt zu befolgen, wenn ich an deren Stelle etwas Besseres zu setzen habe und mein inneres Gesetz mir recht gibt.

Bei Annemarie Krummacher war er von Anfang an sicher, die Richtige gefunden zu haben. Schon bald legte auch sie ihre Zurückhaltung ab. Ein halbes Jahr nach dem Kennenlernen verlobten sie sich. Sie zögerten, ihre Eltern von der geplanten Heirat in Kenntnis zu setzen, denn ihnen war klar, welche Schwierigkeiten einer Eheschließung im Weg standen. Die Eltern von Wilm Hosenfeld hielten Annemarie Krummacher für eine höhere Bürgerstocher und deswegen für ungeeignet, dem künftigen Dorfschullehrer als Frau zur Seite zu stehen. Vor allem aber lehnten sie die Beziehung ihres Sohnes zu einer Protestantin ab.

Erst im Herbst 1919 erklärten sie sich. Vor einer kirchlichen Trauung, wie Wilm Hosenfeld sie sich wünschte, mussten bestimmte Hürden überwunden werden. Die katholische Kirche erwartete von der Braut, dass sie künftige Kinder katholisch erziehen würde. Es fiel ihr nicht ganz leicht, aber Annemarie Krummacher gab schließlich nach und trat auch dem katholischen Glauben bei. Denn für Wilm Hosenfeld wäre es damals schwierig gewesen, katholischen Religionsunterricht zu erteilen und gleichzeitig mit einer protestantischen Frau verheiratet zu sein.

Vorbehalte gab es allerdings auch bei ihren Eltern. War der künftige Ehemann ihrer Tochter überhaupt in der Lage, eine Familie zu ernähren? Denn in den ersten Nachkriegsjahren herrschte in Deutschland große Not, und das Gehalt eines Junglehrers reichte kaum für eine Person. Am 23. Mai 1920 gaben sich Annemarie Krummacher und Wilm Hosenfeld in der katholischen Kirche St. Johannis in Bremen das Jawort. Abgesehen von dem Zugeständnis der Braut hatten sie alle Bedenken und Einwände gegen ihren Bund beiseitegeschoben und sich durchgesetzt. Beide empfanden große Leidenschaft füreinander. Sie waren ein glückliches junges Paar – trotz der absehbaren materiellen Schwierigkeiten.

1921