Oskar Panizza

Die kriminelle Psychose (Psichopatia criminalis)



e-artnow, 2015
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-3755-8

Inhaltsverzeichnis


Vorwort
Der Tipus der psichopatia criminalis
Paralisis cerebri, die Gehirnerweichung, als häufigster Simptomenkomplex der psichopatia criminalis
Mania – die Tobsucht, als zweiter Simptomen-Komplex der psichopatia criminalis
Melancholia – Melancholie als dritte Form der psichopatia criminalis
Paranoia – Verrüktheit als lezte Äusserungsform der psichopatia criminalis
Schlusswort

Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten Geisteskrankheiten psichjatrisch zu eruïren und wissenschaftlich festzustellen.

Für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc.

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Magnan bei den Franzosen, Schüle und Krafft-Ebing bei uns Deutschen, haben Zahl und Wesenverschiedenheiten der Geisteskrankheiten jüngst in ein festes Sistem gebracht, und es dürfte wohl keine Psichose, oder die Spielart einer solchen, aufgefunden werden, die dort nicht ihren Plaz gefunden hätte. Der wissenschaftliche Leser wird daher mit einigem Erstaunen und vielleicht Unwillen die Ankündigung aufgenommen haben, dass ihm hier eine neue Geisteskrankheit und ein neuer terminus zugemutet werden soll. Wenn ich es trotzdem unternehme, eine neue Krankheitsform, die psichopatia criminalis, in das Lehrgebäude der Psichjatrie einzuführen, so tue ich es, in der festen Überzeugung des Bedürfnisses einer solchen, auf Grund eines reichen Tatsachenmaterials besonders auf forensischem Gebiet, und in der Erkentnis, dass hier in den wissenschaftlichen Konstrukzjonen und Einteilungen der meisten Lehrbücher eine fühlbare Lüke vorliegt.

Es ist aber noch ein anderer Punkt, der dem neuen psichjatrischen genus bei den verehrten Kollegen – und an diese wende ich mich in der vorliegenden Schrift vornehmlich – eine gewisse freundliche Aufnahme sichern soll: das Prinzip der Humanität, welches bei unseren heutigen, auf allen Gebieten aufgeregten Zeiten, besonders auch im Gerichtssaal immer wieder an die Spize gestellt wird, muss einer Krankheitsform die höchste Beachtung zuwenden, die, wenn richtig erkant und angewant, eine grosse Zahl von dem Gefängnis und Zuchthaus verfallener Individuen in die milderen Räume und freundlichen Badewannen der Irrenhäuser hinüberführt. Und bei dieser Translozirung mitgewirkt zu haben, ist wahrlich auch des Schweisses edler Psichjater wert.

Die psichopatia criminalis ist eine klar umschriebene, scharf gekenzeichnete, von Richter wie Sachverständigen kaum zu übersehende, Psichose, deren Bedeutung in politisch bewegten Zeiten eine geradezu akute wird, und deren Wert wahrlich durch den Umstand nicht vermindert werden kann, dass sie erst heute in ihrem vollen Umfang gewürdigt wird, während sie in historischen Zeiten stets als vorhanden nachgewiesen werden konte.

Man braucht in der Tat in der Geschichte nicht weit zurükzugehen, um die furchtbaren Verwüstungen, welche diese hartnäkige und anstekungsfähigste aller Psichosen im Leben der Völker zu Wege gebracht hat, zu erkennen. Und gerade jezt, wo die 50-jährige Erinnerung an die traurigen Vorkomnisse der Jahre 1848 und 1849 wieder eine Menge von Gedenkschriften und illustirten Büchern auf den Markt wirft, wird es uns, beim Durchblättern dieser Literatur, klar, was damals hätte vermieden werden können, wenn die Kentnis der psichopatia criminalis – um die es sich auch damals handelte – schon im Bereich psichjatrischer Forschung gelegen hätte. Mit einem Stab geschulter Richter, wissenschaftlich gebildeter Sachverständiger, einsichtiger Geschwornen, dialektisch gewanter Staats-Anwälte und geschikter Wärter hätte all’ das unnüze Blutvergiessen, das Tirannengeschrei, Zuchthaus-und Folterqualen, Emigrirung der tüchtigsten Landessöhne vermieden werden können. Ein mässig grosses Irrenhaus zwischen Nekar und Rhein, etwa von der Grösse der Pfalz, und auf eben diesem Boden, wo die turbulentesten Köpfe gediehen, errichtet, hätte über Nacht, in wenigen Wochen, die kriminelle Bewegung, ich wolle sagen: die epidemische Psichose, im Keime erstikt und unserem Valerlande viel Leids erspart. – Die Heilung geht überraschend schnell vor sich. Die milde Behandlung, richtig temperirte Wannenbäder, die Ruhe, die Abgeschlossenheit, Nachtigallenschlag jenseits der Gitter, der gütige Zuspruch des Arztes – ein Bischen Hyoscyamin, und ein Bischen Bromkali – und die politische Einsicht all’ dieser Internirter wäre bedeutend gewachsen.

Wenn man erwägt, zu welcher Wahnsinnshöhe ganze Völker damals aufgestachelt waren, wie bis dahin vernünftige Bürger den verbrecherischen Versuch machten, die geheiligten Rechte der von Gott eingesezten Fürsten zu schmälern, wie einer der frivolsten Dichter damals vom »heiligen Geist« unter Anderem sang:

»Dieser tat die grössten Wunder,
und viel grössre tut er noch;
er zerbrach die Zwingherrnburgen,
er zerbrach des Knechtes Joch.«

»Alte Todeswunden heilt er,
und erneut das alte Recht:
Alle Menschen, gleichgeboren,
sind ein adliges Geschlecht…«(!!)

so schaudert man vor der Eventualität, die bei nicht rechtzeitigem, blutigem Eingreifen der Truppen hätte entstehen, und am Ende Deutschland in eine Republik hätte verwandeln können – einerseits, und andererseits vor der Höhe des Völkerwahns, der, von einem Punkte, von wenigen kranken Köpfen, ausgehend, mit Blizeseile, zum Teil mit Hülfe der Presse, um sich greift und ein ganzes Land an den Rand des Abgrundes bringen kann.

Ich darf daher wol hoffen, dass die gegenwärtige Studie, die auf der sorgfältigen Durchforschung historischen wie klinischen Materjals beruht, die Beachtung von Seite der Kollegen, der Herrn Verwaltungsbeamten, Richter, Professoren, eines hohen Adels und aller jener hohen und höchsten Herrschaften finden wird, denen die Zukunft unseres teuren, unverrükbar an den alten Tradizjonen festhaltenden Vaterlandes von Gott anvertraut ist.

Hochachtungsvoll
Zürich, im Hornung 1898.
Der Verfasser.

Der Tipus der psichopatia criminalis

Inhaltsverzeichnis

Leise und unheimlich ist der Beginn dieser wenig erforschten, schleichend verlaufenden Krankheit, die das Äussere des Menschen ebenso wie dessen Inneres, Leib und Seele, Gemüt wie Charakter, gleicherweise zerstört und untergräbt.

Heredität ist, wie dies nach neueren psichologischen Anschauungen leicht begreiflich, in den meisten Fällen deutlich nachweisbar. Entweder ist der Vater schon wegen politischer Reate gesessen; der Großvater; der Onkel; oder die Mutter stamt aus inveterirt-demokratischer Familie; der letztere Fall ist der schlimmere. Auch Abkömlinge jener »Salzburger Emigranten«, »Zillerthaler«, »Hugenotten«, »Böhmischen-« und »Mährischen Brüder«, aller jener Sekten und Wiedertäufer-Gruppen, Schwarmgeister etc., die die Oposizjon gegen den rechtgläubigen Staat bis zur Selbstvernichtung trieben, sind stark gefährdet. Diese Leute sollen nicht mehr heiraten, da der Keim kaum mehr eliminirbar ist. Man hat beobachtet, dass selbst bei fortgesezter Vermischung mit Lakaien der Keim solch alter, religiöser, oder staatsfeindlicher Oposizjon immer wieder hervorbrach und grosses Unglük anrichtete.

Bei Anderen fehlt dagegen jedes hereditäre Moment. Solche Leute können es einfach oft nicht mit ansehen, wie Hunderttausende vor einem einzigen Menschen auf der Strasse sich niederwerfen und von den Hufen seines Rosses sich bearbeiten lassen. Hier liegt dann meist Rinden-Zwang vor. Diese Menschen sind natürlich gemeingefährlich und müssen unter steter Aufsicht bleiben. Auch verlangt es das Gebot der Selbsterhaltung des Staates, solche Menschen nicht zum Fortpflanzungs-Geschäft zuzulassen.

Weitaus das gefährlichste Moment aber, welches solche Kranke bei Ihrem Sichselbst-Überlassensein in voller Freiheit für die Sicherheit des Staates und für die ewigen Grundsäze der Sitlichkeit bieten, ist ihre grosse Anstekungsfähigkeit, ihre Infekziosität für die Massen. Man hat immer in der Geschichte beobachtet, dass es wenige abnorm veranlagte, von Haus aus auf Abwege geratene Menschen waren, mit explosiblen Gedankenreihen – »Erleuchtete« nennen sie ihre Anhänger – die den Zündstoff für die grossen Volksbewegungen abgaben. Während die grosse Masse, der grosse Plebs – den man durchaus nicht immer misera zu nennen braucht, und dem man durchaus nicht immer das Beiwort contribuensCaesarCaesar