image

ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW
(1860–1904) wurde in Taganrog geboren und wuchs dort in ärmlichen Verhältnissen auf. Aufgrund eines Stipendiums konnte er 1879 ein Medizinstudium in Moskau aufnehmen, das er 1884 abschloss. Mit Beginn seines Medizinstudiums widmete er sich auch intensiv seiner schriftstellerischen Tätigkeit und veröffentlichte Humoresken, Kurzgeschichten und Miniaturen in diversen Zeitschriften – zunächst meist unter dem Pseudonym »Antoscha Tschechonté«. Trotz seines Studiums war er als Arzt fast ausschließlich ehrenamtlich tätig – seine Haupteinnahmequelle war die Schriftstellerei. Weltweites Ansehen erlangte er neben seinen zahlreichen Kurzgeschichten vor allem durch seine Bühnenstücke wie Der Kirschgarten, Onkel Wanja, Die Möwe und Die Drei Schwestern. Er starb 1904 im Schwarzwald-Kurort Badenweiler an den Folgen seiner langjährigen Tuberkuloseerkrankung.

Zum Buch

In seinen Kurzgeschichten vermag Tschechow Momentaufnahmen aus dem Leben zu skizzieren und so eindrücklich und lebhaft zu vermitteln, dass der Leser sich in die verschiedensten Lebenssituationen und Menschen im Russland des späten 19. Jahrhunderts versetzt sieht. Bei Tschechow kommen Charaktere jeder sozialen Schicht und Berufsgruppe, jeden Alters und jeder Lebenslage zu Wort – der studierte Arzt schöpft dabei aus seinem Umgang mit Patienten und seinen zahlreichen Reisen. Neben einer Auswahl an Humoresken der frühen 1880er Jahre, in denen man den typisch scherzhaften Ton Tschechows antrifft, sind auch tragische und dramatische Erzählungen seiner späteren Schaffensphase vertreten und geben einen Einblick in die Facetten seines literarischen Werkes.


Anton Tschechow schrieb nicht einen großen russischen Roman à la Tolstoi oder Dostojewski – er schrieb über 250 kleine Erzählungen und beherrschte die Kunst der Kurzgeschichte wie kaum ein anderer. Er gilt damit zu Recht als Meister der russischen Short Story. Dem scherzhaft-ironischen, elegant-klaren Stil seiner Miniaturen, Anekdoten und Alltagsbeobachtungen, dem typischen »Tschechow-Ton«, liegt die unterhaltsame und doch bedeutungsreiche Leichtigkeit besonders seines frühen Erzählwerks zugrunde. Hauptberuflich tätig als Arzt, nutzte er die Erfahrungen im Umgang mit seinen Patienten für seinen zweiten Beruf, den er nicht minder leidenschaftlich ausübte: »Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur – meine Geliebte. Wenn mir die eine auf die Nerven fällt, nächtige ich bei der anderen. Das ist meinetwegen unanständig, aber dafür nicht langweilig.«


»Einer der wenigen Schriftsteller, die man, ähnlich wie Dickens oder Puschkin, immer wieder von neuem Leben kann.« Lew Tolstoi

Anton Tschechow

In der Sommerfrische

Anton Tschechow

In der Sommerfrische

Meistererzählungen

Aus dem Russischen übersetzt
von Alexander Eliasberg und Wladimir Czumikow

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Der Text wurde behutsam revidiert nach den Ausgaben München 1920, Leipzig 1901 und 1910
Redaktion: Anna Schloss, marixverlag
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH Hamburg Berlin
Bildnachweis: © Heidrun Gellrich/fotolia
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0466-0

www.verlagshaus-roemerweg.de/Marix/

»Keine Literatur kann in puncto Zynismus das wirkliche Leben übertreffen.«

Anton Pawlowitsch Tschechow

INHALT

IN SEINEM KLEINEN KOPF IST
EINE EIGENE
WELT

Eine Bagatelle

Grischa

Zu Hause

Die Jungens

EIN SCHÖNES LEBEN HABEN WIR!

In der Sommerfrische

Der Redner

Ein Glücklicher

Eine schreckliche Nacht

Der Gast

Der Dicke und der Dünne

Aus dem Regen in die Traufe

Das Drama

Mnemotechnik

GEDANKEN AN GLÜCK,
GESPRÄCHE ÜBER LIEBE

Die Dame mit dem Hündchen

Agafja

Ohne Auslagen

Was Fräulein N.N. erzählt

DAS INDIVIDUUM NIMMT PLATZ

Plappertasche

Ein bekannter Herr

Der Dramatiker

Die letzte Mohikanerin

Eine Schutzlose

GESCHICHTEN IN GRAU

Wolodja

Der Typhus

Gram

DER MENSCH DENKT UND GOTT LENKT

Die Verleumdung

In den Chambregarnies

Der böse Knabe

Ein Chamäleon

Der Orden

Die Rache

Misslungen

IN SEINEM KLEINEN KOPF IST
EINE EIGENE WELT

Eine Bagatelle

Nikolai Iljitsch Beljajew, ein Petersburger Hausbesitzer und Turfbesucher*, ein wohlgenährter, rosiger junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, kam eines Spätnachmittags zu Frau Olga Iwanowna Irnina, mit der er ein Verhältnis, oder, wie er es zu nennen pflegte, einen langen und langweiligen Roman hatte. Und in der Tat: die ersten interessanten und begeisterten Kapitel dieses Romans waren durchgelesen; und die Seiten, die nun folgten, zogen sich in die Länge, ohne etwas Neues oder Interessantes zu bieten.

Olga Iwanowna war nicht zu Hause, und unser Held legte sich in Erwartung aufs Sofa im Salon.

»Guten Abend, Nikolai Iljitsch!«, erklang eine Kinderstimme. »Die Mama kommt gleich. Sie ist mit der Sonja zur Schneiderin gegangen.«

Im gleichen Salon lag auf einem anderen Sofa der Sohn Olga Iwanownas, Aljoscha, ein etwa achtjähriger, schlanker, wohlgepflegter Junge, wie nach einem Modebilde mit einer Samtbluse und langen schwarzen Strümpfen bekleidet. Er lag auf einem Atlaskissen und reckte, offenbar einen Akrobaten, den er neulich im Zirkus gesehen hatte, nachahmend, bald den einen und bald den anderen Fuß in die Höhe. Wenn seine schönen Beine ermüdeten, machte er dasselbe mit den Armen, oder sprang hastig auf, stellte sich auf alle Viere und versuchte, sich auf den Kopf zu stellen. Das alles machte er mit dem ernstesten Gesicht, keuchend vor Qual, als wäre er selbst nicht froh, dass der liebe Gott ihm einen so unruhigen Körper gegeben hatte.

»Ach, guten Abend, mein Freund!«, sagte Beljajew. »Bist du da? Ich hatte dich gar nicht bemerkt. Geht es der Mama gut?«

Aljoscha, der mit der rechten Hand die linke Fußspitze ergriffen und die unnatürlichste Pose angenommen hatte, drehte sich um, sprang auf und blickte hinter dem großen, üppigen Lampenschirm Beljajew an.

»Was soll ich Ihnen sagen?«, begann er achselzuckend. »Der Mama geht es eigentlich niemals gut. Sie ist eine Frau, und den Frauen tut doch immer etwas weh.«

Beljajew begann, um sich die Zeit zu vertreiben, Aljoschas Gesicht zu betrachten. Solange er bei Olga Iwanowna verkehrte, hatte er dem Jungen niemals Beachtung geschenkt und seine Existenz förmlich übersehen: da steht so ein Junge herum, doch wozu er da ist und welche Rolle er hier spielt, – daran wollte er nicht einmal denken.

Das in der Abenddämmerung ungewöhnlich bleiche Gesicht Aljoschas mit den schwarzen Augen, die niemals zu zwinkern schienen, erinnerte Beljajew an Olga Iwanowna, wie sie auf den ersten Seiten des Romans gewesen war. Und er fühlte das Verlangen, lieb zu dem Jungen zu sein.

»Komm mal her, Kleiner!«, sagte er ihm. »Ich will dich mal näher anschauen.«

Der Junge sprang vom Sofa und lief zu Beljajew heran.

»Nun?«, begann Nikolai Iljitsch, die Hand auf seine schmächtige Schulter legend. »Wie geht’s?«

»Was soll ich Ihnen sagen? Früher ging es viel besser.«

»Wieso?«

»Sehr einfach! Früher bekamen wir, ich und Sonja, nur Lesen und Klavierübungen auf, und jetzt müssen wir auch noch französische Gedichte auswendig lernen. Sie waren aber neulich beim Friseur!«

»Ja, dieser Tage.«

»Das sehe ich eben. Ihr Bärtchen ist etwas kürzer geworden. Darf ich es anrühren … Es tut doch nicht weh?«

»Nein, es tut nicht weh.«

»Warum tut es weh, wenn man an einem einzigen Härchen zupft, und wenn man an vielen Haaren zugleich zupft, – nicht? Ha – ha! Schade, dass Sie keinen Backenbart tragen. Hier müsste man ausrasieren, und an den Seiten … hier die Haare stehen lassen …«

Der Junge schmiegte sich an Beljajew und begann mit seiner Uhrkette zu spielen.

»Wenn ich aufs Gymnasium komme«, sagte er, »wird mir Mama eine Uhr kaufen. Ich werde sie bitten, dass sie mir auch so eine Uhrkette schenkt … Was für ein Me-dail-lon! Papa hat auch so ein Medaillon, doch auf dem Ihrigen sind hier Streifen, und auf seinem – Buchstaben … Und innen hat er Mamas Bild. Papa hat jetzt eine andere Uhrkette, nicht aus Ringen, sondern wie ein Band …«

»Woher weißt du das? Kommst du denn mit dem Papa zusammen?«

»Ich? N-nein … Ich …«

Aljoscha errötete und begann, auf einer Lüge ertappt, vor lauter Verlegenheit das Medaillon mit dem Fingernagel zu kratzen. Beljajew sah ihn unverwandt an und fragte:

»Siehst du manchmal den Papa?«

»N-ein! …«

»Sprich die Wahrheit, sei aufrichtig … Ich sehe es doch deinem Gesicht an, dass du lügst. Wenn du dich schon einmal verschnappt hast, so mach keine Finten. Sag: siehst du ihn manchmal? Ich frage dich wie ein Freund!«

Aljoscha wurde nachdenklich.

»Sie werden es doch nicht der Mama sagen?«, fragte er.

»Was dir nicht einfällt!«

»Ihr Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort.«

»Schwören Sie!«

»Du bist unerträglich! Für wen hältst du mich denn?«

»Um Gottes willen, sagen Sie es nur nicht der Mama … Erzählen Sie es überhaupt keinem Menschen, denn es ist ein Geheimnis. Wenn es, Gott behüte, die Mama erfährt, so werden wir alle – ich und Sonja und Pelageja was erleben … Hören Sie also. Den Papa sehen wir, ich und Sonja, jeden Dienstag und Freitag. Wenn wir am Vormittag mit der Pelageja spazieren gehen, führt sie uns in die Apfelsche Konditorei, und der Papa erwartet uns schon da … Er sitzt immer in dem kleinen Extrazimmer, Sie wissen, mit dem Marmortisch und der Aschenschale in Form einer Gans ohne Rücken …«

»Was macht ihr denn da?«

»Gar nichts! Zuerst begrüßen wir uns, dann setzen wir uns alle an den Tisch, und Papa lässt uns Kaffee und Pastetchen bringen. Wissen Sie, die Sonja isst Pastetchen mit Fleisch, und ich kann die mit Fleisch nicht ausstehen! Ich liebe die mit Kohl und Eiern. Wir essen uns so voll, dass wir uns später beim Mittagessen bemühen, damit es die Mama nicht merkt, möglichst viel zu essen.«

»Worüber sprecht ihr denn da?«

»Mit dem Papa? Über alles. Er küsst und umarmt uns und erzählt uns verschiedene komische Witze. Wissen Sie, er sagt, dass, wenn wir groß werden, er uns ganz zu sich nehmen wird. Sonja will nicht, aber ich bin einverstanden. Ohne die Mama wird es natürlich langweilig sein, aber ich werde ihr Briefe schreiben! Ich versteh’ es nicht: wir werden sie doch an Feiertagen besuchen können, nicht wahr? Dann hat Papa gesagt, dass er mir ein Pferd kaufen wird. Ein furchtbar guter Mensch! Ich weiß gar nicht, warum ihn die Mama nicht kommen lässt, damit er bei ihr wohnt, und warum sie es nicht haben will, dass wir mit ihm zusammenkommen. Er liebt doch die Mama sehr. Er fragt uns immer aus, wie es der Mama geht und was sie treibt. Als sie krank war, da griff er sich an den Kopf … so! … und lief immer auf und ab. Er bittet uns immer, dass wir ihr folgen und sie ehren. Hören Sie, ist es wahr, dass wir unglücklich sind?«

»Hm … Warum?«

»Der Papa sagt es. Ihr seid, sagt er, unglückliche Kinder. Es ist doch wirklich merkwürdig! Betet, sagt er, zu Gott für euch und für sie.«

Aljoscha heftete seinen Blick auf einen ausgestopften Vogel und wurde nachdenklich.

»So, so«, brummte Beljajew. »So treibt ihr es. Haltet in Konditoreien Versammlungen ab. Und die Mama weiß nichts davon?«

»N–nein … Woher soll sie es wissen. Die Pelageja wird es ihr doch niemals sagen. Vorgestern brachte uns Papa Birnen mit. So süß wie Marmelade! Ich habe zwei Stück gegessen.«

»Hm … Hör einmal … Hat der Papa nichts über mich gesagt?«

»Über Sie? Was soll ich Ihnen sagen …« Aljoscha blickte Beljajew prüfend an und zuckte die Achseln.

»Nein, er hat nichts Besonderes gesagt.«

»Was hat er zum Beispiel gesagt?«

»Werden Sie auch nicht böse sein?«

»Was dir nicht einfällt! Hat er denn auf mich geschimpft?«

»Geschimpft hat er nicht, aber … wissen Sie, er ist Ihnen böse. Er sagt, dass die Mama durch Sie unglücklich geworden ist und dass Sie Mama zugrunde gerichtet haben. Er ist doch so merkwürdig! Ich erkläre ihm, dass Sie gut sind und die Mama niemals anschreien, und er schüttelt nur den Kopf.«

»Hat er das gesagt: dass ich sie zugrunde gerichtet habe?«

»Ja. Seien Sie nur nicht böse, Nikolai Iljitsch!«

Beljajew erhob sich vom Sofa, stand eine Weile da und fing dann an, auf- und abzugehen.

»Es ist sonderbar und … lächerlich!«, brummte er, die Achseln zuckend und höhnisch lächelnd. »Er ist an allem schuld, und ich habe sie zugrunde gerichtet. Wie? Dieses Unschuldslamm! Hat er das wörtlich so gesagt, dass ich die Mama zugrunde gerichtet habe?«

»Ja, aber … Sie haben eben gesagt, dass Sie nicht böse sein werden.«

»Ich bin gar nicht böse und … es ist auch nicht deine Sache! Ich bin der Hereingefallene, und da soll ich auch noch der Schuldige sein!«

Draußen ging die Klingel. Der Junge rannte hinaus. Nach einer Weile trat ins Zimmer eine Dame mit einem kleinen Mädchen: es war Olga Iwanowna, Aljoschas Mutter. Ihr folgte hüpfend, mit den Armen schlenkernd und laut trällernd Aljoscha. Beljajew nickte ihr zu und fuhr fort, auf- und abzugehen.

»Natürlich, wen soll man auch anklagen, wenn nicht mich?«, murmelte er schnaubend. »Er hat recht! Er ist der gekränkte Gatte!«

»Was meinst du eigentlich?«, fragte Olga Iwanowna.

»Was ich meine? Hör’ einmal, was für Dinge dein Herr Gemahl predigt! Ich bin nämlich der Schuft und der Verbrecher. Ich habe dich und die Kinder zugrunde gerichtet. Ihr seid alle unglücklich, und nur ich allein bin so furchtbar glücklich! Furchtbar, furchtbar glücklich!«

»Nikolai, ich verstehe nichts! Was ist los?«

»Hör’ nur, was dieser junge Herr erzählt!«, sagte Beljajew, auf Aljoscha weisend.

Aljoscha wurde erst rot, dann blass, und sein Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen.

»Nikolai Iljitsch!«, flüsterte er laut. »Psst!«

Olga Iwanowna blickte erstaunt auf Aljoscha, dann auf Beljajew und dann wieder auf Aljoscha.

»Frag’ ihn nur!«, fuhr Beljajew fort. »Deine Pelageja, diese dumme Gans, geht mit den Kindern in Konditoreien und richtet ihnen Zusammenkünfte mit dem Herrn Papa ein. Es handelt sich aber nicht darum, sondern darum, dass der Herr Papa leidet und ich ein Verbrecher und Schurke bin, der euer Leben zerstört hat!«

»Nikolai Iljitsch!«, stöhnte Aljoscha. »Sie haben doch Ihr Ehrenwort gegeben!«

»Ach, lass mich in Ruh!«, sagte Beljajew, mit der Hand abwehrend. »Hier handelt es sich um etwas Wichtigeres als alle Ehrenworte. Mich empört hier die Heuchelei, die Lüge!«

»Ich verstehe gar nichts!«, versetzte Olga Iwanowna, und in ihren Augen erglänzten Tränen. »Hör’ einmal, Aljoscha«, wandte sie sich an den Sohn: »Kommst du mal mit deinem Vater zusammen?«

Aljoscha hörte nicht auf sie und blickte entsetzt Beljajew an.

»Es kann nicht sein!«, sagte die Mutter. »Ich will mal die Pelageja ins Gebet nehmen.«

Olga Iwanowna ging hinaus.

»Hören Sie, Sie haben doch Ihr Ehrenwort gegeben!«, sagte Aljoscha, am ganzen Leibe zitternd.

Beljajew winkte nur mit der Hand und fuhr fort, auf- und abzugehen. Er dachte nur an die ihm zugefügte Kränkung und merkte nicht mehr die Anwesenheit des Jungen. Er, der erwachsene und ernste Mann hatte ganz andere Sorgen. Aljoscha setzte sich aber in eine Ecke und erzählte mit Entsetzen Sonja, wie man ihn betrogen hatte. Er zitterte, stotterte und weinte; zum ersten Mal in seinem Leben war er so roh mit der Lüge zusammengestoßen; bisher hatte er aber nicht gewusst, dass es in dieser Welt, außer den süßen Birnen, Pasteten und teuren Uhren auch noch vieles andere gibt, wofür seine kindliche Sprache keinen Namen hat.

Grischa

Grischa, ein kleiner dicker, zwei Jahre und acht Monate alter Junge, spaziert mit seiner Wärterin auf der Promenade. Er hat einen langen wattierten Mantel und warme Galoschen an, um seinen Hals ist ein großes Cachenez gebunden und auf dem Kopf sitzt eine große Mütze mit einer zottigen Troddel. Ihm ist sowieso schon heiß, und nun scheint ihm noch die freundliche Aprilsonne gerade in die Augen und kitzelt ihm die Lider.

Seine ganze, unsicher und schüchtern einherschreitende, plumpe Figur drückt äußerste Ratlosigkeit aus.

Bis jetzt hat Grischa nur eine einzige, viereckige Welt gekannt, in deren einer Ecke sein Bett, in der anderen die Lade der Wärterin, in der dritten ein Stuhl steht und in der vierten das Lämpchen vor dem Heiligenbilde glüht. Wirft man einen Blick unter das Bett, so findet man dort eine Puppe mit abgebrochenem Arm und eine Trommel, während hinter der Lade der Wärterin eine ganze Menge verschiedenartiger Dinge liegen: Zwirnrollen, Papierschnitzel, eine Schachtel ohne Deckel und ein invalider Hampelmann. In dieser Welt kann man, außer der Wärterin und Grischa, auch sehr häufig Mama und die Katze sehen. Mama sieht wie eine Puppe aus, und die Katze wie Papas Pelz, nur dass der Pelz keine Augen und keinen Schwanz hat. Aus der Welt, die die Kinderstube genannt wird, führt eine Tür in einen Raum, wo zu Mittag gegessen und Tee getrunken wird. Dort steht der hochbeinige Stuhl Grischas und hängt eine Uhr, die nur dazu da ist, um mit dem Pendel zu schlenkern und zu klingeln. Aus dem Speisezimmer kann man in ein anderes Zimmer treten, in welchem rote Sessel stehen. Dort auf dem Teppich sieht man einen dunklen Fleck, der noch immer die Veranlassung dazu gibt, dass man Grischa mit dem Finger droht. Hinter diesem Zimmer liegt noch ein anderes, in welches Grischa nicht hineingelassen wird und wo ab und zu Papa sich zu schaffen macht. Dieser Papa ist eine außerordentlich rätselhafte Persönlichkeit! Die Wärterin und Mama sind verständlich: sie kleiden Grischa an, füttern ihn und legen ihn zu Bett, aber wozu Papa existiert – das ist unklar. Es gibt noch eine andere rätselhafte Persönlichkeit – die Tante, die Grischa die Trommel geschenkt hat. Bald taucht sie auf, bald verschwindet sie wieder. Wohin verschwindet sie? Grischa hat mehr als einmal unter sein Bett geguckt, hinter die Lade und unter den Diwan, aber dort war sie nicht …

In dieser neuen Welt dagegen, wo die Sonne in die Augen sticht, gibt es so viel Papas, Mamas und Tanten, dass man gar nicht weiß, zu wem man heranlaufen soll. Das Komischste aber und Albernste, das sind – die Pferde. Grischa sieht zu, wie sie ihre Beine bewegen, und kann nichts begreifen. Er sieht die Wärterin an, damit diese ihm das Rätsel löse, aber die Wärterin schweigt.

Plötzlich hört er ein furchtbares Getrampel … Auf der Promenade bewegt sich gerade auf ihn zu in gleichmäßigem Schritt eine Truppe aus dem Schwitzbade zurückkehrender Soldaten mit roten Gesichtern und Birkenquasten unterm Arm. Grischa läuft es vor Schreck kalt über den Rücken und er sieht die Wärterin fragend an: ist das schrecklich? Aber die Wärterin läuft nicht weg und weint nicht, es ist also nicht schrecklich. Grischa begleitet die Soldaten mit den Augen und beginnt selbst im Takt zu schreiten.

Über die Promenade laufen zwei große Katzen mit langen Schnauzen, ausgestreckten Zungen und aufrecht stehenden Schwänzen. Grischa glaubt, dass auch er laufen müsse und läuft den Katzen nach.

»Halt!«, schreit ihm die Wärterin zu, ihn rüde an der Schulter fassend. »Wohin? Wirst Du wohl artig sein!«

Dort sitzt eine Wärterin und hält einen kleinen Trog mit Apfelsinen. Grischa geht an ihr vorbei und nimmt sich, ohne ein Wort zu sagen, eine Apfelsine.

»Was machst Du denn da?«, schreit seine Begleiterin, ihm einen Klaps auf die Hand gebend und die Apfelsine wieder entreißend. »Dummer Jung!«

Jetzt würde Grischa mit Vergnügen ein Glasstückchen aufheben, das ihm unter den Füßen liegt und in der Sonne wie das Lämpchen vor dem Heiligenbilde strahlt. Aber er fürchtet, dass man ihm wieder eins auf die Hand gibt.

»Ich habe die Ehre!«, vernimmt Grischa plötzlich über seinem Ohr eine laute, tiefe Stimme und erblickt einen großen Mann mit glänzenden Knöpfen.

Zu seinem größten Vergnügen reicht dieser Mann der Wärterin die Hand, bleibt mit ihr stehen und beginnt ein Gespräch. Das Leuchten der Sonne, der Lärm der Wagen, die Pferde, die glänzenden Knöpfe, alles das ist so außerordentlich neu und so gar nicht schrecklich, dass Grischas Herz sich mit Wonne erfüllt und er zu lachen beginnt.

»Wollme gehn! Wollme gehn!«, ruft er dem Mann mit den glänzenden Knöpfen zu und zupft ihn am Rock.

»Wohin denn?«, fragt der Mann.

»Wollme gehn!«, beharrt Grischa.

Er möchte sagen, dass es nicht schlecht wäre, auch Papa, Mama und die Katze mitzunehmen, aber seine Zunge sagt etwas ganz anderes, als was sie soll.

Nach einiger Zeit biegt die Wärterin von der Promenade ab und führt Grischa in einen großen Hof, wo noch Schnee liegt. Auch der Mann mit den glänzenden Knöpfen folgt ihnen. Sie gehen den Schneehaufen und Pfützen vorsichtig aus dem Wege, steigen dann eine schmutzige, dunkle Treppe hinauf und treten in ein Zimmer. Dort gibt es viel Rauch, es riecht nach Braten und eine Frau steht am Herd und brät Koteletts. Die Köchin und die Wärterin küssen sich, setzen sich zusammen mit dem Mann auf die Bank und beginnen leise zu sprechen.

Grischa, der warm eingepackt ist, wird es unerträglich heiß und schwül.

»Woher kommt das?«, denkt er, sich umsehend.

Er sieht eine dunkle Lage, Küchengeräte und den Ofen, der wie eine große schwarze Höhle starrt …

»Ma–ma!«, beginnt Grischa zu greinen.

»Nu, nu, nu!«, schreit die Wärterin. »Kannst schon warten!«

Die Köchin stellt eine Flasche auf den Tisch, drei Gläser und einen Kuchen.

Die beiden Frauen und der Mann mit den glänzenden Knöpfen stoßen an, trinken mehrere Mal, und der Mann umarmt bald die Köchin, bald die Wärterin. Dann beginnen sie alle drei leise zu singen.

Grischa streckt die Hände nach dem Kuchen und man gibt ihm ein Stückchen. Er isst und sieht zu, wie die Wärterin trinkt … Er möchte auch trinken.

»Gib! Gib!«, bittet er die Wärterin.

Die Köchin gibt ihm aus ihrem Glase zu nippen. Die Augen treten ihm heraus, er verzieht das Gesicht, hustet und wehrt sich noch lange mit den Armen, während die Köchin ihn betrachtet und lacht.

Nach Hause zurückgekehrt, beginnt Grischa der Mutter, den Wänden und dem Bett zu erzählen, wo er gewesen sei und was er gesehen habe. Er erzählt nicht so sehr mit der Zunge, als mit dem Gesicht und den Händen. Er zeigt, wie die Sonne leuchtet, wie die Pferde laufen, wie der schreckliche Ofen aussieht und wie die Köchin trinkt …

Am Abend kann er nicht einschlafen. Die Soldaten mit den Birkenquasten, die großen Katzen, die Pferde, das Glasstückchen, der Trog mit den Apfelsinen, die glänzenden Knöpfe – alles das drängt sich zusammen und lastet ihm auf dem Gehirn. Er wälzt sich von einer Seite auf die andere, schwatzt und kann seiner Erregung nicht Herr werden, bis er endlich zu weinen anfängt.

»Du fieberst ja!«, sagt die Mama, ihm die flache Hand auf die Stirn legend. »Woher kann denn das kommen?«

»Der Ofen!«, weint Grischa. »Geh weg von hier, Ofen!«

»Er hat wohl zu viel gegessen …«, meint die Mama.

Und Grischa, bewältigt von den Eindrücken des neuen Lebens, das er eben kennen gelernt, erhält von der Mama einen Löffel Rizinusöl.

Zu Hause

»Man ist von den Grigorjews dagewesen, um irgendein Buch zu holen, und ich sagte, Sie seien nicht zu Hause. Der Briefträger brachte die Zeitungen und zwei Briefe. Übrigens möchte ich Sie, Jewgenij Petrowitsch, auf Serjoscha aufmerksam machen. Heute und vorgestern sah ich ihn rauchen. Als ich ihm Vorwürfe machte, hielt er sich, wie immer, die Ohren zu und begann laut zu singen, um meine Stimme zu übertönen.«

Jewgenij Petrowitsch Bykowskij, Staatsanwalt am Kreisgericht, der soeben aus einer Verhandlung heimgekommen war und sich in seinem Kabinett die Handschuhe auszog, blickte die Gouvernante, die ihm dieses meldete, an und lachte.

»Serjoscha raucht …«, sagte er achselzuckend. »Wie mag wohl dieser Knirps mit einer Zigarette im Munde aussehen. Wie alt ist er denn jetzt?«

»Sieben Jahre. Ihnen erscheint es unwichtig, doch in seinem Alter ist das Rauchen eine schlechte und schädliche Angewohnheit, schlechte Angewohnheiten soll man aber gleich am Anfang bekämpfen.«

»Sehr richtig. Und wo nimmt er den Tabak her?«

»Aus Ihrem Schreibtisch.«

»So? In diesem Falle schicken Sie ihn mir einmal her.«

Als die Gouvernante gegangen war, setzte sich Bykowskij in den Sessel vor dem Schreibtisch, schloss die Augen und versank in seine Gedanken. Er stellte sich seinen Serjoscha mit einer riesengroßen, ellenlangen Zigarette im Munde, in ganze Wolken von Tabakrauch gehüllt vor, und diese Karikatur ließ ihn lächeln; zugleich hatte aber das ernste, besorgte Gesicht der Gouvernante in ihm Erinnerungen an die längst vergangene, halb vergessene Zeit wachgerufen, wo das Rauchen in der Schule und im Kinderzimmer den Pädagogen und den Eltern ein eigentümliches, nicht ganz verständliches Grauen einflößte. Es war ein richtiges Grauen. Man züchtigte die Kinder erbarmungslos mit Ruten, relegierte sie von den Schulen und verdarb ihnen das ganze Leben, obwohl keiner der Pädagogen und Väter zu sagen wusste, warum eigentlich das Rauchen so verbrecherisch und schädlich sei. Selbst sehr kluge Menschen unterließen es nicht, gegen ein Laster anzukämpfen, das sie im Grunde gar nicht verstanden. Jewgenij Petrowitsch erinnerte sich seines Gymnasiumdirektors, eines sehr gebildeten und gutmütigen alten Herrn, der beim Anblick eines rauchenden Gymnasiasten immer so furchtbar erschrak, dass er erbleichte, sofort eine außerordentliche Sitzung des Lehrerkollegiums einberief und den Schuldigen zur Dimission verurteilte. Das ist wohl ein Gesetz der menschlichen Gemeinschaft: je unverständlicher ein Übel ist, umso hartnäckiger und roher kämpft man dagegen.

Der Staatsanwalt erinnerte sich auch einiger relegierten Schüler und ihres ferneren Lebenslaufs und musste sich sagen, dass die Strafe oft viel mehr Böses bewirkt, als das Verbrechen selbst. Der lebendige Organismus hat die Fähigkeit, sich schnell an jede Atmosphäre anzupassen und zu gewöhnen, sonst müsste ja der Mensch jeden Augenblick fühlen, welch unvernünftige Grundlage oft die vernünftigste Tätigkeit hat und wie wenig bewusste Wahrheit und Sicherheit in so verantwortungsvollen und in ihren Resultaten schrecklichen Tätigkeiten noch steckt, wie denen eines Pädagogen, eines Richters, eines Literaten …

Derartige verschwommene und leichte Gedanken, wie sie nur in einem ermüdeten, ausruhenden Hirne entstehen können, zogen Jewgenij Petrowitsch durch den Sinn; man weiß nicht, woher und wozu sie kommen, sie verweilen nur kurze Zeit und scheinen sich nur an der Oberfläche des Gehirns zu regen, ohne in seine Tiefe einzudringen. Für Menschen, die verpflichtet sind, ganze Stunden und sogar Tage amtlich und nur in einer bestimmten Richtung zu denken, sind solche freie häusliche Gedanken ein Komfort, eine angenehme Bequemlichkeit.

Es war gegen neun Uhr abends. Oben im ersten Stock ging jemand unaufhörlich auf und ab, und noch höher, im zweiten Stock spielte man vierhändig Tonleitern. Das Auf- und Abgehen des Menschen, der, nach der nervösen Gangart zu schließen, qualvoll an etwas dachte oder Zahnschmerzen hatte, und die eintönigen Tonleitern verliehen der Stille des Abends etwas Einschläferndes und stimmten zu trägen Gedanken. Zwei Zimmer weiter, im Kinderzimmer sprachen die Gouvernante und Serjoscha.

»Der Pa–pa ist gekommen!«, sang der Junge. »Der Papa ist ge–kom–men! Pa! Pa! Pa!«

»Votre père vous appelle, allez vite!«, kreischte die Gouvernante wie ein erschrockener Vogel. »Hören Sie es nicht?«

– Was soll ich ihm aber sagen? – fragte sich Jewgenij Petrowitsch.

Doch ehe er sich etwas zurechtlegen konnte, trat ins Kabinett sein Sohn, der siebenjährige Serjoscha. Es war ein schmächtiges, blasses, gebrechliches Kind, dessen Geschlecht man nur an der Kleidung erkennen konnte. Er war körperlich zart wie eine im Treibhaus gezogene Gemüsepflanze, und alles an ihm schien ungewöhnlich zart und weich: die Bewegungen, das lockige Haar, der Blick, die Samtbluse.

»Guten Abend, Papa!«, sagte er mit weicher Stimme, dem Vater auf den Schoß kletternd und seinen Hals küssend. »Hast du mich gerufen?«

»Bitte, bitte, Sergej Jewgenjewitsch«, erwiderte der Staatsanwalt, ihn leicht zurückstoßend. »Bevor wir uns küssen, müssen wir einmal ernst sprechen … Ich bin dir böse und liebe dich nicht mehr. Merk es dir: ich liebe dich nicht, und du bist mir kein Sohn mehr … Jawohl.«

Serjoscha sah den Vater aufmerksam an, lenkte dann den Blick auf den Tisch und zuckte die Achseln.

»Was hab’ ich dir denn getan?«, fragte er verständnislos, mit den Augen zwinkernd. »Ich war heute kein einziges Mal in deinem Zimmer und habe nichts angerührt.«

»Natalja Semjonowna hat sich soeben beschwert, dass du rauchst … Ist es wahr? Rauchst du wirklich?«

»Ja, ich habe einmal geraucht … Das ist wahr! …«

»Nun siehst du, jetzt lügst du noch obendrein«, sagte der Staatsanwalt, die Stirn runzelnd, um sein Lächeln zu maskieren. »Natalja Semjonowna sah dich zweimal rauchen. Du hast dir also drei Vergehen zuschulden kommen lassen: du rauchst, du nimmst aus der Schublade fremden Tabak und du lügst. Drei Vergehen!«

»Ach, ja–a!«, erinnerte sich Serjoscha und lächelte mit den Augen. »Es ist wahr, es ist wahr! Ich habe zweimal geraucht: heute und früher.«

»Nun siehst du: also nicht einmal, sondern zweimal … Ich bin mit dir sehr, sehr unzufrieden! Früher warst du ein guter Junge, jetzt bist du aber, wie ich sehe, schlecht geworden.«

Jewgenij Petrowitsch zupfte Serjoscha den Kragen zurecht und dachte sich:

– Was soll ich ihm noch sagen? –

»Ja, es ist nicht schön«, fuhr er fort. »Ich hatte es von dir nicht erwartet. Erstens hast du nicht das Recht, fremden Tabak zu nehmen, der dir nicht gehört. Jeder Mensch darf nur über sein eigenes Gut verfügen; wenn er aber fremdes nimmt, so ist er … kein guter Mensch! (– Es ist nicht das Richtige, was ich ihm da sage! – dachte sich Jewgenij Petrowitsch.) Natalja Semjonowna hat zum Beispiel einen Koffer mit Kleidern. Dieser Koffer gehört ihr, und wir, d. h. ich und du, haben nicht das Recht, diesen Koffer anzurühren, denn er gehört nicht uns. Das stimmt doch? Du hast deine Pferdchen und Bildchen … Ich nehme sie doch nicht? Vielleicht möchte ich sie auch nehmen, aber sie gehören nicht mir, sondern dir!«

»Nimm sie, wenn du willst!«, sagte Serjoscha, die Brauen hebend. »Bitte, Papa, genier’ dich nicht, nimm! Das gelbe Hündchen auf deinem Tisch gehört ja auch mir, und doch sage ich nichts … soll es nur hier stehen!«

»Du verstehst mich nicht«, versetzte Bykowskij. »Das Hündchen hast du mir geschenkt, es gehört jetzt mir, und ich darf damit alles tun, was ich will; den Tabak habe ich dir aber nicht geschenkt! Der Tabak gehört mir! (– Ich erkläre es ihm ganz falsch! – dachte sich der Staatsanwalt. – Es ist nicht das Richtige! –) Wenn ich fremden Tabak rauchen will, so muss ich vor allen Dingen um Erlaubnis bitten …« Bykowskij begann, träge einen Satz an den andern hängend und sich der Kindersprache anpassend, seinem Sohne zu erklären, was Eigentum bedeutet. Serjoscha starrte ihm auf die Brust und hörte aufmerksam zu (er liebte es, sich in den Abendstunden mit dem Vater zu unterhalten); dann lehnte er sich gegen den Tisch und fing an, seine kurzsichtigen Augen zusammenkneifend, die Papiere und das Tintenfass zu betrachten. Sein Blick schweifte über den Tisch und blieb am Fläschchen Gummiarabikum hängen.

»Papa, woraus macht man Leim?«, fragte er plötzlich, das Fläschchen zu seinen Augen hebend.

Bykowskij nahm ihm das Fläschchen aus der Hand, stellte es auf seinen Platz und fuhr fort:

»Zweitens rauchst du … Das ist sehr schlimm! Wenn ich rauche, so folgt daraus noch nicht, dass man rauchen darf. Ich rauche und weiß dabei, dass es nicht gut ist, ich mache mir deswegen Vorwürfe und liebe mich nicht … (– Ein guter Pädagog bin ich! – dachte sich der Staatsanwalt.) Der Tabak ist für die Gesundheit sehr schädlich, und jeder, der raucht, stirbt früher, als er sonst hätte sterben sollen. Besonders schädlich ist es aber für so kleine Kinder wie du. Du hast eine schwache Brust und bist noch nicht kräftig genug; bei schwachen Menschen ruft aber der Tabakrauch Schwindsucht und andere Krankheiten hervor. So ist auch Onkel Ignatij an der Schwindsucht gestorben. Hätte er nicht geraucht, so wäre er vielleicht auch heute noch am Leben.«

Serjoscha sah nachdenklich auf die Lampe, berührte mit den Fingern den Lampenschirm und seufzte.

»Onkel Ignatij spielte gut Geige!«, sagte er. »Seine Geige ist jetzt bei den Grigorjews!«

Serjoscha lehnte sich wieder gegen den Tischrand und wurde nachdenklich. Auf seinem blassen Gesicht war ein Ausdruck erstarrt, als lausche er oder verfolge die Entwicklung seiner eigenen Gedanken; Trauer und etwas wie Schreck zeigten sich in seinen großen, unbeweglichen Augen. Wahrscheinlich dachte er jetzt an den Tod, der vor so kurzer Zeit seine Mutter und den Onkel Ignatij geholt hatte. Der Tod bringt die Mutter und die Onkels ins Jenseits, ihre Kinder und Geigen bleiben aber auf der Erde zurück. Die Toten wohnen im Himmel, irgendwo bei den Sternen und blicken von dort auf die Erde herab. Ob sie die Trennung ertragen können?

– Was soll ich ihm sagen? – dachte sich Jewgenij Petrowitsch. – Er hört mir gar nicht zu. Offenbar hält er weder seine Vergehen, noch meine Gründe für wichtig. Wie soll ich es ihm klar machen? –

Der Staatsanwalt erhob sich und fing an, auf- und abzugehen.

– Früher, zu meiner Zeit, wurden solche Fragen höchst einfach gelöst, – dachte er sich. – Jeder Junge, den man beim Rauchen erwischte, bekam seine Tracht Prügel. Die Kleinmütigen und Feigen gaben dann das Rauchen wirklich auf, die Klügeren und Tapferen fingen aber nach der Strafe an, den Tabak im Stiefelschaft zu verwahren und in der Scheune zu rauchen. Und wenn man so einen in der Scheune erwischte und wieder bestrafte, so rauchte er von nun an am Fluss … und so ging es, bis der Junge heranwuchs. Meine Mutter beschenkte mich, um mich vom Rauchen abzuhalten, mit Geld und Süßigkeiten. Heute erscheinen aber alle diese Mittel als nichtig und unmoralisch. Der moderne Pädagoge stellt sich auf den Boden der Logik und bemüht sich, dass das Kind sich die guten Prinzipien nicht aus Angst, nicht aus dem Bestreben, sich auszuzeichnen oder belohnt zu werden, sondern bewusst zu eigen mache. –

Während er auf- und abging und dachte, war Serjoscha mit den Beinen auf den Stuhl gestiegen und hatte zu zeichnen angefangen. Damit er die Geschäftspapiere nicht beschmiere und das Tintenfass nicht anrühre, lagen für ihn ein Stoß eigens für ihn zurechtgeschnittenes Papier und ein Blaustift bereit.

»Die Köchin hackte heute Kraut und schnitt sich dabei in den Finger«, sagte er, ein Häuschen zeichnend und die Brauen bewegend. »Sie schrie dabei so, dass wir alle erschraken und in die Küche liefen. Wie dumm sie ist! Natalja Semjonowna sagt ihr, dass sie den Finger in kaltes Wasser stecken soll, aber sie nimmt ihn in den Mund und saugt … Wie kann man nur den schmutzigen Finger in den Mund nehmen! Papa, das ist doch unanständig!«

Dann erzählte er, dass während des Mittagessens ein Leierkastenmann mit einem kleinen Mädchen in den Hof gekommen war und das Mädchen zu seiner Musik gesungen und getanzt hatte.

– Er hat seine eigenen Gedankengänge! – sagte sich der Staatsanwalt. – In seinem kleinen Kopf ist eine eigene Welt, und er hat seine eigene Anschauung darüber, was wichtig und was unwichtig ist. Um seine Aufmerksamkeit und sein Bewusstsein zu fesseln, genügt es noch nicht, seine kindliche Sprache nachzuahmen; man muss auch auf seine Weise zu denken verstehen. Er verstünde mich sehr gut, wenn der Tabak mir wirklich leid täte, wenn ich mich gekränkt fühlte und weinte. Darum sind auch die Mütter als Erzieherinnen so unersetzlich, weil sie es verstehen, mit den Kindern zu fühlen, zu weinen, zu lachen … Mit der Logik und der Moral kann man aber nichts ausrichten. Was soll ich ihm noch sagen? Was? –