Kurz ist also eines Menschen Leben,

und eng der Erdenwinkel, in dem er verweilt.

Marcus Aurelius, 121  180 n. Chr.

Mark Hodkinson

Believe in the Sign

Eine Fußballjugend in Nordengland

Aus dem Englischen

von Klaus Gröner

Arete Verlag Hildesheim

Der Autor möchte folgenden Personen für ihre Mitwirkung an diesem Buch danken: Paula Ridings, Roy und Jean Hodkinson, Ursula Lumb, Christian Brett, Richard Whitehead, Fred Eyre, Trevor Hoyle, Richard Lysons, Hunter Davies, Robert Kirby, David Luxton, Col Cavanagh, Kevin McCarra, Jack Hammill, Tom Palmer und den Teams bei Troika und Central Books. Einige Fotos wurden dankenswerterweise vom Rochdale Observer zur Verfügung gestellt. Danke, Chris Lloyd und Les Barlow. David James und Mark Wilbraham steuerten ebenfalls einige Bilder bei. Das Foto von Firgrove (mit freundlicher Genehmigung von G. Wilson) und vom Brötchenchristus stammen aus der Local Studies Collection, Touchstones, Rochdale. Dean Morgan stellte das Exemplar der Rap zur Verfügung.

PS: Ich habe die Namen einiger Personen in dem Buch geändert, die von anderen Personen jedoch nicht, wenn ich davon ausging, es würde ihnen nichts ausmachen, erkannt zu werden. Die meisten Geschichten in dem Buch sind wahr, oder zumindest beinahe.

Abschließend sei erwähnt, dass der Rochdale AFC heute völlig anders aufgestellt ist als damals, als ich ihn in den 1970ern kennengelernt habe. Ich möchte niemanden davon abhalten, einen freundlichen und modernen Club zu besuchen, und dies umso mehr, als er 2007 seinen 100. Geburtstag feierte.

www.markhodkinson.com

Titel der 2007 bei Ponoma Books erschienenen Originalausgabe: Believe in the Sign

© Mark Hodkinson

Diese Übersetzung von Believe in the Sign erscheint mit freundlicher Genehmigung von Pomona Books, UK (www.pomonauk.co.uk) und wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

Bibliografische Informationen

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte an der deutschen Ausgabe vorbehalten

© 2012 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

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Layout/​Satz/​Umschlagsgestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Titelfoto: © Grecaud Paul/​fotolia.com

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-942468-60-2

Inhalt

Cover

Zitat

Titel

Impressum

Crede Signo

1. Death by Supermarket

2. Die Stille, die Angst

3. Überall, und doch nirgendwo zu sehen

4. Die Sonne brennt runter

5. Agoopa goopa goopa: Ha! Ha! Ha!

6. Langsam bricht die Nacht herein

7. Die Freude an den kleinen Dingen

8. Wenn Träume zu Fleisch und Blut werden

9. Die Party kreist nicht um ihn

10. Nackte im Gras

11. Der Brötchenchristus

12. In einer so verhängnisvollen Angelegenheit

13. Ein Kichern in seinen Stiefeln

Fußnoten

 

Crede Signo

(Believe in the Sign,

Motto des Rochdale AFC)

1

Death by Supermarket

Damals scherten sich die Eltern noch nicht viel um so etwas Verrücktes wie Quality Time mit ihren Kindern. Sie lebten einfach ihr Leben (was auch immer das hieß) und man war sich selbst überlassen. Man konnte auf der Straße Fußball spielen. Oder flach auf einem Holzbalken liegen, der durch eine Unterführung auf dem Kanal trieb. Oder man konnte auf der anderen Seite des Zauns meilenweit neben der Autobahn hergehen, vorbei an Fabrikanlagen und Bauernhöfen. Oder man konnte ausprobieren, wer die Betonstufen der Treppenhäuser in den Wohnblocks von Ashfield Valley am weitesten hinunterspringen konnte und den wimmernden Sieger später heimtragen. Oder man konnte sein Rad rausholen und zum Hollingworth Lake radeln, wo die tougheren Kids mit schlotternden Knien und klappernden Zähnen in das eisige Blau hineinwateten, voller Angst vor gigantischen Kinder fressenden Hechten.

Jenseits der Straßen und Häuser gab es verschiedenste Plätze zu bestaunen; interessante, grasbewachsene Plätze. Wir kamen nie dorthin, nicht richtig zumindest. Meine Eltern gingen davon aus, dass das ›Land‹ in Privatbesitz war und an jedem Pfosten ein Bauer mit dem Gewehr in der Hand lauerte. Außerdem fror Mum normalerweise. Kaum waren wir ein paar Meter gegangen, war von ihr zu vernehmen:

»Es ist scheißkalt. Was machen wir hier draußen eigentlich?«

Also rannten wir zurück zum Auto und machten uns stattdessen über unsere Sandwiches in den Alufolien her.

Dad war nach der Arbeit immer fix und fertig, völlig verstaubt, alles tat ihm weh. Er malochte in einem ordentlichen Job, was bedeutete, dass er einen ordentlichen Tee und ein ordentliches Bad brauchte, wenn er nach Hause kam. Und dann war es schon fast neun Uhr, Zeit fürs Bett, außer es lief die Sportschau.

Ich bin mir sicher, dass meine Familie abends öfter zusammen ausging, aber ich kann mich nur an zweimal erinnern. Das erste Mal war, als wir im Odeon Planet der Affen sahen. Das andere Mal war, als wir ins Spotland Stadium gingen, die Heimat des Rochdale Association Football Clubs, des ›Dale‹. Wir gingen alle dorthin – Dad, Mum, meine Schwester und ich, an einem Montag im Oktober 1974.

Wir saßen auf einer schäbigen Holztribüne voller mittelalter und richtig alter Männer, die vor sich hinhusteten und -jammerten. Wenn Rochdale traf, sprangen sie von ihren Sitzen auf, klopften sich gegenseitig auf den Rücken und grinsten, als sei die Welt absolut in Ordnung. Der Regen prasselte herunter und das Spielfeld verschwand samt den Spielern im Nebel. Wir tranken süßen milchigen Kaffee, den es bei einer Hütte hinter der Tribüne zu kaufen gab. Vor der Hütte war ein niedriger Metallzaun, damit sich eine anständige Schlange bilden konnte, aber meine Schwester und ich schlüpften einfach unten durch, weil gerade niemand in der Nähe war. Die Verkäuferinnen lehnten am Tresen und spielten mit Plastiklöffeln auf den metallenen Heißwasserbehältern Schlagzeug. Auf dem Tresen standen Kisten mit Twix, Marsriegeln und Stimorol-Kaugummis. Der Kaugummi wurde glitschig, wenn man während des Kauens den Kaffee im Mund herumspülte.

»Wie steht’s? Führen wir noch?«, fragte eine der Verkäuferinnen.

»Nein, es steht unentschieden.«

»Das Übliche«, seufzte sie.

Zurück auf der Tribüne glotzten wir durch die Holzplanken unter unseren Füßen auf das Gelände darunter. Dort stapelten sich ziemlich hoch die weggeworfenen Plastikbecher, Zigarettenpackungen und Süßigkeitenschachteln. Ein paar Minuten vor Spielende schlurften die Damen von der Teebar mit leeren Teekannen in der Hand den Schieferweg neben dem Spielfeld entlang. Sie hielten an und unterhielten sich mit den Leuten in der Menge.

Das Spiel endete unentschieden. Meine Mum und meine Schwester gingen nie wieder ins Spotland. Aber Dad und ich konnten uns einfach nicht mehr fernhalten.

Die Supermärkte hatten die Stadt erreicht, und Tesco verteilte bei dem Spiel, das wir uns ansahen, Autoaufkleber an die Fans. Asda war mittlerweile in die leerstehende Queens-Fabrik in Castleton gezogen und wurde dort als Asda Queens1 bekannt.

Tesco war ein reines Zweckgebäude mit Gängen so lang wie Startbahnen auf dem Flughafen, und die Mädchen, die dort arbeiteten, hatte man zuletzt in Schuluniform gesehen. Jetzt trugen sie Schürzen, blauen Lidschatten und in der Mitte gescheiteltes Haar.

Der Laden veranstaltete am Abend nach dem Spiel zur Eröffnung eine ›Party Night‹ und versprach: ›Preise, Vorführungen und Gratisproben sowie Gastauftritte der Spielerstars‹. Eigentlich durften Kinder nur in Begleitung Erwachsener kommen, aber selbst diejenigen, die mit ihren Eltern gekommen waren, liefen schon bald völlig verloren zwischen den Bohnenkonserven und Päckchen mit gefrorenen Erbsen herum. Kaum einer von uns erkannte die Spieler oder wusste gar deren Namen, also umringten wir jeden Kerl, der zu alt aussah, um noch in die Schule zu gehen, aber jünger wirkte als unsere Väter. Kaum wurde jemand in einer Nylonschlaghose entdeckt, scharte sich sofort eine Gruppe Kids mit Federhaarschnitten und Snorkel-Parkas um ihn:

»Können wir ein Autogramm haben, Mister?«

Hinterher gab der Rochdale Observer bekannt, dass mehr als 2.000 Kinder und Jugendliche durch den Supermarkt gewuselt waren und dass zwischenzeitlich sogar der Einlass gesperrt werden musste, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich habe heute noch das Stadionheft mit den Autogrammen. Auf den Innenseiten verrät eine Anzeige von Hymie Showman aus der Yorkshire Street, Rochdale, dass er für seine Schneiderkunst mit acht Goldmedaillen ausgezeichnet wurde, während die Firma Turner Brothers Asbestos Jobs in den Abteilungen Versiegelungsmaterial und Hartplastik zu vergeben hat. Sie boten eine ›sichere Anstellung‹ und zusätzliche Overalls – bei kostenloser Wäsche durch die Firma. Der Freizeitclub des Rochdale AFC verkauft Mild Bier zu 11 Pence pro Pint, Bitter und Lager zu 15 Pence und Whisky und Cherry B zu 13 Pence pro Glas.

Ich wusste nicht, dass Rochdale eines der schlechtesten Teams der Football League war. Doch schon bald tauchte ich regelrecht in seine Vergangenheit ein. Sie war überall; wie Nieselregen weichte sie dich durch deinen Mantel hindurch ein. Bis auf fünf Jahre hatte Rochdale seine gesamten 63 Jahre in der untersten Liga verbracht. Mein Einstieg fiel genau mit seiner Rückkehr dorthin zusammen. Sie waren auf schmählichste Art und Weise abgestiegen, mit gerade mal zwei Siegen in der gesamten Saison, hatten 94 Gegentreffer kassiert und die Saison 21 Punkte hinter Port Vale, dem ersten Nichtabsteiger, beendet.

Erschwerend kam hinzu, dass der Club von der Stadt, die er angeblich repräsentierte, mehr oder weniger verstoßen worden war. Der ursprüngliche Geist der Zusammenarbeit, der den Club und die Stadt mit den berühmten Rochdale Pioneers zusammengeschweißt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Die Spieler klammerten sich nur noch verzweifelt an einen Strohhalm in ihrem Dasein, das längst von Niederlagen und Scheitern geprägt war. Sie wurden verhöhnt, ihr unaufhaltsamer Niedergang mit Schadenfreude erwartet. In den Augen vieler hatten sie die Stadt jahrelang deprimiert und nichts getan, außer zu verlieren und über Gehaltskürzungen zu jammern.

Einmal kaufte ich nach einem Spiel einen Packen alter Stadionhefte im Clubshop. Sie rochen schon nach Feuchtigkeit. Die Seiten waren vergilbt und der Rost der Klammern, mit denen sie zusammengetackert waren, lief dunkelorange ins Papier hinein. Sie umfassten eine große Zeitspanne seit den späten 1940ern. Die Editorials waren Jahr für Jahr ungefähr die gleichen: Klagen über Niederlagen, die Forderung nach mehr Fans, reine Rhetorik, dass bald der ›Wendepunkt erreicht‹ sei oder sie ›das Licht am Ende des Tunnels‹ fänden. Immerhin gab es ein poetisches Intermezzo. Die Anzeige von Leach‘s Pies aus der 163 Whitworth Road, Rochdale, sang förmlich:

Komm an die Teebar,

ohne viel Suchen,

kram in den Münzen,

und hol dir ’nen Kuchen.

Krazy Kuts, Asda und Kwik Save buhlten wie Tesco um die Gunst der Kunden, und im Rochdale Observer gab es schrille Anzeigen mit Mädchen in Hotpants und Spruchbändern mit Schlagzeilen wie ›Knüller‹, ›Niedrigstpreise‹ und ›Einmalige Gelegenheit‹.

Tesco ersetzte Rochdales ›Stars‹ schon bald durch eine lange, eindrucksvolle Liste von Partnern. Zu den Stargästen der International Fortnight gehörten Stuart Damon von The Champions; die Coronation-Street-Schauspielerinnen Barbara Mullaney2 (Rita Fairclough), Betty Driver (Betty Turner) und William Roach (Ken Barlow); die Comedians Frank Carson und Ken Dodd sowie der Dulux Dog. Die größten Attraktionen waren jedoch ›die Stars von Planet der Affen höchstpersönlich‹, wobei die Eltern allerdings gewarnt wurden: ›Im Interesse der Sicherheit müssen Kinder in Begleitung ihrer Eltern sein, wenn die Affen im Laden losgelassen werden.‹ Dagegen war die Kampagne von Krazy Kuts äußerst mager. Sie hatte nicht mehr zu bieten als ›Sommer-Topangebote für 99 Pence‹.

Das Auftauchen von Tesco und den anderen war Gift für Ronnie, der den Lebensmittelladen an der Hauptstraße in unserer Nähe hatte. Er hatte fettiges, verfilztes Haar und sein Pullover sah so fleckig und schuppig aus, als hätte er den Inhalt einer Schneekugel darauf verschüttet. Ronnies große Liebe galt seinem Kombi, einem osteuropäischen Modell mit der Länge eines Eisenbahnwaggons. Wenn er ihn abstellte, ging er erst ein paar Meter weg, blieb dann stehen, drehte sich um und formte mit seinen Daumen und Mittelfingern ein Rechteck, als ob er ihn einrahmen wollte.

Ich jobbte als Zeitungsjunge im Laden nebenan und Ronnie kam normalerweise, wenn wir gerade die Zeitungen zusammenpackten. Er fuhr seinen Wagen auf den Gehweg und fing mit dem Ausladen an. Das einzige, was er jemals in seinen Laden reinzutragen schien, waren steigenweise Dosen mit Hundefutter, eingeschweißt in Plastikfolie. Aufgefallen war es uns allen, aber Fenny, ein anderer Zeitungsjunge, war der erste, der es ansprach:

»Du scheinst ja ziemlich viel Hundefutter zu verkaufen, Ronnie.«

»Das kommt daher, dass es hier verdammt viele Hunde gibt, du Klugscheißer!«

Von da an bellte Fenny immer, wenn er Ronnie sah.

»Verpiss dich!«

Eines Morgens kämpfte Ronnie gerade mit ein paar schweren Kisten, als ihm Fenny zum Eingang hinterherdackelte und ihm verriet, dass seine Mutter jetzt bei Tesco einkaufe.

»Und warum macht sie das?«, fragte er völlig baff.

»Sie sagt, es ist billiger und man bekommt alles in einem Aufwasch.«

»Pass auf, erinnere deine Mum daran, dass sie hier ein Augenzwinkern, ein Lächeln und einen freundlichen Empfang bekommt, nicht so wie in einem gottverdammten gesichtslosen Supermarkt. Persönlichen Service nennt man das, persönlichen Service. Sag ihr das mal!«

Er sah Fenny an, als erwartete er, dass der augenblicklich seine Papiertüte fallenließ und nach Hause rannte, um diese lebenswichtige Botschaft zu überbringen. Als Ronnie in den hinteren Teil des Ladens ging und das Licht anmachte, sagte Fenny zu mir:

»Worüber regt er sich eigentlich auf, der Kerl? Er lächelt niemals. Er ist einfach ein elender Bastard, genau das ist er.«

Auch meine Mum fing an, zu Tesco zu gehen. Sie machte sich jeden Freitag mit Dad auf den Weg, und der hasste normalerweise Einkaufen. Es war fast so, als ob sie etwas Besonderes unternehmen würden, eine Show ansehen oder abends ausgehen. Als sie das erste Mal zurückkamen, erzählten sie, wie warm und hell es dort war. Mädchen in witzigen Kostümen hatten ihnen auf Holztabletts Käseproben und internationale Speisen angeboten. Ich fragte, ob sie sich davon auch etwas genommen hätten. Dad verzog das Gesicht, als ob ich ihn etwas völlig Absurdes gefragt hätte; zum Beispiel, ob es wahr sei, dass Mum früher eine Trapezartistin gewesen sei.

»Wirklich nicht. Von dem Zeug bekomm’ ich Magenschmerzen. Deine Mum hat ein bisschen was probiert.«

Wenn Dad arbeiten musste, ging ich alleine zu den Spielen. Ich nahm einen Bus ins Stadtzentrum und stieg in einen der Shuttlebusse um, die beim Kriegerdenkmal warteten. Ich suchte mir einen Platz hinter dem Tor in der Sandy-Lane-Kurve, möglichst nah am Zaun. Normalerweise war ich schon eine Stunde vor dem Anpfiff da.

Wir spielten im FA Cup gegen die Tranmere Rovers. Es waren 2.221 Zuschauer da, mehr als doppelt so viele wie beim letzten Ligaspiel. Als sich die Ränge füllten, war die Stimmung anders als sonst. Die Leute standen enger zusammen, die Gespräche waren hastiger und lauter. Die älteren Jungs hinter der Sandy fingen schon um kurz nach 14 Uhr das Singen an:

»Wir alle hassen Scouse und Scouse und Scouse. Wir sind die Scouserhasser.«

Das Licht wich schon kurz nach Anpfiff aus dem Himmel, und die Hausdächer und die Hügel im Hinterland versanken in der Dunkelheit. Die Welt bestand nur noch aus diesem Fleckchen Grün, auf dem der Ball hin- und hergedroschen wurde. Die Lautstärke schwoll augenblicklich an, als wir eine Ecke bekamen, und wich schlagartig erwartungsvoller Stille, als der Ball in den Torraum geschlagen wurde. Die Rufe und Flüche und Gesänge fesselten einen förmlich. Ich dachte: So muss es sich wohl anfühlen, betrunken zu sein.

Sprechchöre wurden angestimmt und immer lauter, je mehr darin einstimmten. Wer mochte diesen Lärm wohl dirigieren? Ein Gesicht wurde beim Entzünden eines Streichholzes kurz erhellt, Pudelmützen und Schals rahmten dieses Bild ein. Manches Lied versickerte im Nichts und der, der es angefangen hatte, wurde ausgebuht.

»Arrrrggh …«

Während sie ihn verhöhnten, wurde schon ein neuer Sprechchor angestimmt, laut und klar. Sie waren wieder vereint:

»Wir sind der Dale, wir sind der Dale, wir sind, wir sind, wir sind der Dale.«

Hinterher ergoss sich die Menge auf die Straßen, berauscht, aber nicht mehr als Gemeinschaft. Jeder war wieder für sich alleine, um den Bus zu nehmen oder heimzugehen. Das Spiel hatte unentschieden geendet. Tranmere gewann das Wiederholungsspiel. Dad erklärte mir später, dass ein Scouser ein Liverpooler war.

Ronnie war verloren: Death by Supermarket. Normalerweise ersetzte er seinen Wagen jeden August, wenn die neuen Nummernschilder kamen, durch einen neuen, aber in diesem Jahr behielt er ihn. Er hing hinten schon durch wegen der ganzen Dosen, die er transportiert hatte; der Auspuff schliff knapp über der Fahrbahn.

Nach und nach verkaufte er mehr Bier als Hundefutter und sein Laden wurde zu einer Art Apotheke, die Dosen an die Bedürftigen verteilte. Fenny bezeichnete das als ›Schlummertrunk‹. Er erzählte mir, dass sein Vater das, was ihn durch den Tag rettete, so nannte. Wie so viele Leute in der Stadt hatte er seinen alten Job verloren und wartete darauf, dass die ehemaligen Fabriken plattgemacht und durch neue Industriegebiete ersetzt wurden. In ein paar Jahren könnte er dann für Marks und Spencer oder eine der anderen Modeketten Mäntel und Pullover auf die Lastwagen aufladen, anstatt Baumwollballen zu schleppen.

Mitten in einem Team aus Malochern und Schlägertypen, von denen einer blasser und gespenstischer aussah als der andere, hatte Rochdale auch einen richtigen Spieler aus Fleisch und Blut, Haut und Knochen. Bob Mountford traf in seinem Debüt im Januar 1975 gleich zweimal und wurde im darauffolgenden Spiel nach einer Rangelei mit Chesters Torwart vom Platz gestellt. Er war groß und breitschultrig und hatte dichtes, lockiges Haar, ein Weißer mit einem Afro: Die Augen blau, fast einsneunzig und schwer, der große Bob Mountford ist hinter dir her.

Seine Spezialität waren Tore im Anschluss an Ecken. Der Ball wurde in den Strafraum gelupft und Mountford raste rücksichtslos durch die Verteidiger hindurch, um ihn mit seiner Stirn in die Maschen zu wuchten. Während er unter einem Berg jubelnder Mitspieler versank, mussten sie ihren Rückweg an die Mittellinie durch die Trümmer von Mountfords fast schon kriminellen Angriff antreten – zerbrochene Schienbeinschoner, zerrissene Trikots, jammernde Verteidiger und Sänitäter, die Riechsalz herumreichten. Ein wahrlich mutiger Mann mit einem großen Herzen. Und üppigem Haar.

Es sprach sich rum. Die Torhüter hielten nach ihm Ausschau, wenn wir eine Ecke oder einen Freistoß in Strafraumnähe bekamen. Sie wussten genau, was sie erwartete, und konnten doch so wenig tun, um es zu verhindern.

»Schaut, wie er sich in die Hosen scheißt«, rief ein Fan, als man den gegnerischen Torwart nervös in Mountfords Richtung blicken sah.

Wir genossen seine Furcht und verspotteten ihn wegen seiner Ängstlichkeit. Es war Sport in seiner rohesten Form: Körper gegen Körper, ein Wettbewerb der Stärke und des Mutes, nur der eine gegen den anderen. Der Ball war nebensächlich, wie etwas, das nur hineingeworfen wurde, um den Kampf zu legitimieren. Wer zeigte die größte Leidenschaft? Wer war der Kühnste? Wir alle wussten um Mountfords unglaublichen Willen; schließlich sahen wir ihn Woche für Woche. Der Torwart kannte seinen Ruf und war sich bewusst, dass sein Kontrahent auch vor einer Faust oder einem Ellbogen zwischen sich und dem Ball nicht zurückschrecken würde. Selbst wenn der Ball weggefaustet wurde oder am Außennetz landete: Das Duell – das Match innerhalb des Matches – dauerte bis zum Schlusspfiff, außer einer der Hauptdarsteller musste vorzeitig verletzt vom Platz.

 Bob Mountford: üppiges Haar, großes Herz.

Auf meiner morgendlichen Zeitungstour hielt ich mich meistens ein wenig bei der Brücke über dem Kanal auf und blickte übers Wasser. So früh am Morgen sah es irgendwie anders aus: so sumpfig mit den ganzen Holzstückchen, Reifen, Plastikflaschen, Einkaufswagen und Verkehrshütchen, die darauf trieben. In diesem trüben Zwielicht waren ein paar Spatzen oder Stare das einzige Lebenszeichen. Sie pickten in der irrigen Annahme, es handle sich um Brot, an ein paar Krümeln herum, die von den weggeworfenen Styroporplatten abgebrochen waren. Einmal hatten Vandalen sogar eine halbe Baustellenabsperrung hineingeworfen. Unter der Wasseroberfläche schaltete die Ampel in einem gespenstischen Farbspiel von Rot auf Gelb auf Grün um.

Meine Runde begann am Ashfield Valley, einer Siedlung aus dreistöckigen Wohngebäuden, die den Kanal säumten. Sie wirkten wie umgestülpt, und zwar mit deutlich sichtbaren Eingeweiden – abgebröckelte Ecken und Kanten, verbogenes Metall, grobsteiniger Beton. Es war wie ein Sammelbecken für Verlierer aus allen Ecken der Stadt, die sich hier auf die Wohnungen und die Treppenabsätze verteilten: Arbeitslose, Kranke, Alleinerziehende, Durchreisende, Junkies, Stadtstreicher, Säufer, Diebe, hoffnungslose Pechvögel. Die Mieter mussten lügen und vorgeben, woanders zu wohnen, um das Stigma von Ashfield Valley zu vermeiden; sie bekamen sonst in den Läden keinen Kredit.

Hier schien es immer gefährlich zu sein, sogar schon am frühen Morgen. In den Aufzügen stank es so stark nach Pisse, dass ich lieber die Treppen benutzte. Die Mauern waren mit Graffiti übersät, in manchen ging es um Lehrer aus meiner Schule. Im Treppenhaus fanden sich zwischen den Stockwerken Peniszeichnungen und Sprüche: Julie ist eine Schlampe, Paul ist ein Vollidiot.

Aus jedem einzelnen Block schallte laute Musik aus offenen Fenstern mit abgerissenen Vorhängen. Fast wöchentlich rastete jemand aus. Meistens war es der stille Typ, den man immer mit grimmigem Blick unter seiner Kapuze vom Einkaufen heimlatschen sah. In seinem Gang lag eine verräterische Entschlossenheit. Die offenen Treppenhäuser glichen einer Art Metallkäfig, sodass man sehen konnte, wie er die Treppen hochlief oder im Aufzug verschwand, oben wieder auftauchte und gebeugten Hauptes zu seiner Wohnungstür ging. Oftmals brannten Wohnungen aus; über dem Fenster blieb dann ein Brandfleck zurück, dessen Farbe von Schwarz in wässriges Orange überging. Irgendwann hatte ihn dann die Polizei mitgenommen. In ein paar Stunden würde die Tür aufgebrochen und seine Stereoanlage geklaut werden.

Die fröhliche Mrs. Vera Hill, erste Mieterin von Ashfield Valley.

2

Die Stille, die Angst

Spotland verfiel um uns herum. Es sah alt aus; aber nicht nach dem schönen sepiafarbenen Alt nostalgischer Fotografien, sondern nach einem feuchten, trüben, gottverlassenen Alt. Die Tribünen, Hütten, Trainerbänke und Nebengebäude kamen einem wie verfaulte Zähne vor, die sich nur noch mühsam aufrecht halten konnten und schon dem Verfall geweiht waren. Die weiße Farbe war längst einem fleckigen Grau gewichen oder abgeblättert wie schuppige Haut. Die Feuchtigkeit hatte das Holz ausgebleicht und es zerbröselte förmlich unter deinen Händen. Der Regen tröpfelte durchs Dach.

Zu deinen Füßen quetschten sich verbeulte Plastikbecher an die Zäune und Stützmauern, eingekeilt zwischen Chipstüten und Pommesschalen. Die Betonplatten der Tribünen waren krumm und zerbrochen. Die kleinen schiefen Zuschauerblöcke und ihre Einrichtung erinnerten an die letzten Überbleibsel eines Räumungsverkaufs. Jedes Angebot willkommen, Hauptsache weg damit.

In einer Ecke war ein erhöhter Teil des Platzes unbebaut geblieben; Absperrgitter steckten dort in der Erde und in den ungemähten Grasbüscheln. Zu Beginn der Saison, kurz nach den Sommerferien, fanden sich auf ›dem Hügel‹ Fans zum Zuschauen ein, manchmal war es sogar trocken genug, um darauf zu sitzen. Aber meistens war es eher ein windgepeitschtes, matschiges Sperrgebiet, sodass wir lieber Slalom um die Pfützen liefen und uns auf der Tribüne zusamenkauerten.

Gelegentlich gab es einen Hauch von Ruhm – den einmaligen Aufstieg und das Erreichen des Ligapokalfinales 1962 etwa –, aber grundsätzlich führte man einen zähen Überlebenskampf, fristete eine zermürbende Existenz von Tag zu Tag, von Spiel zu Spiel. Auf dem Platz boten die Spieler nur wenig, außer einem soliden Bemühen und dem flüchtigen Aufblitzen von Können. Die Stammzuschauer nörgelten oft, dass sie selbst im Park bessere Spieler sehen könnten. Das tun sie auch heute noch.

Ich wollte gerade in einem der Wohnblocks die Treppen hochlaufen, als ich ein Geräusch im Müllhäuschen hörte. Ich drückte die Metalltür auf und vernahm ein leises Seufzen. Ich hielt es für einen Hund oder eine Katze, also klapperte ich mit der Klinke, um das Tier zu verscheuchen.

Dann hörte ich eine Stimme.

»Hallo«, sagte ich.

Ein Lichtstrahl erschien an der Mauer. Ich verfolgte ihn zurück bis zu einer Taschenlampe. Ein Junge ungefähr meines Alters saß auf einer Holzpalette, einen Mantel über den Großteil seines Körpers gebreitet, eine gefüllte Plastiktüte als Kissen hinter sich. Er blinzelte, rieb sich die Augen und leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Ich hielt meine Hand vor die Augen, um sie vor dem Lichtstrahl zu schützen, und fragte ihn, was er hier tat.

»Ich hab’ mich hier nur für die Nacht aufs Ohr gehauen. Wie spät ist es?«

»Kurz nach sieben.«

Er hatte dürre weiße Arme und lange verfilzte Haare. Der Raum stank nach vergammeltem Gemüse. Ich fragte ihn, wie er den Gestank ertrug.

»Man gewöhnt sich dran.«

Er gähnte und zog an seinen Fingern. Die Knöchel knackten.

»Was machst du hier?«, fragte ich.

»Mums Freund hat mich gestern Abend rausgeschmissen. Ich hab’ mir nur ein bisschen Zeug geschnappt und bin abgehauen.«

»Hast du die ganze Nacht hier geschlafen?«

»Ich habs versucht, aber es ist saukalt.«

Ich ging in die Hocke, sodass die Zeitungstasche den Boden berührte. Er sagte, er sei hungrig. Ich kramte in meiner Tasche und gab ihm die Überreste eines Schokoriegels. Ich erzählte ihm, dass ich jeden Morgen an dem Wohnblock vorbeikam und ihm mehr zu essen mitbringen könnte, wenn er wollte.

»Super«, sagte er. »Ich bleibe ein bisschen hier, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.«

Am nächsten Tag schob ich ein Schinkenbrötchen und eine kleine Milchtüte in meine Manteltasche. Das Brötchen war noch von Dads Abendessen übrig geblieben. Ich klopfte leise an die Tür des Müllhäuschens, aber keiner antwortete. Die Palette war noch da, aber der Junge war weg.

Zu den normalen Ligaspielen versammelten sich immer die gleichen paar hundert Leute an ihren üblichen Treffpunkten – die einen ein paar Meter links vom Kuchenstand in der Ecke der Sandy-Lane-Kurve, die anderen hinter dem Tor oder auch unter der Willbutts-Lane-Tribüne, am ›Kritzelstand‹.

Es war nicht dasselbe, wie bei einem ›großen‹ Spiel dabeizusein, wo es laut war, wo es Leidenschaft gab, wo es dieses magische Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, des Aufgehens in der Menge gab. Wenn die Fans auf dem Kippax in der Maine Road oder im Stretford End im Old Trafford3 brüllten, konntest du deine Winzigkeit fühlen. Die Vielzahl der Stimmen wurde zu einer einzigen und erzeugte einen beständig anschwellenden Klang, der für ein paar Sekunden ein prachtvolles Eigenleben führte.

In Rochdale war die Atmosphäre eher versprengt. Wenn sich fünf oder sechs zusammenrotteten, Arbeitskollegen aus der gleichen Fabrik oder Kumpels aus dem Pub etwa, dann kam so etwas wie Kameradschaft auf: ein bisschen lachen, ein bisschen quatschen, gemeinsam pinkeln gehen, ein paar Rufe in Richtung der Spieler. Wir versuchten, in der Sandy-Lane-Kurve eine Atmosphäre wie bei einem großen Match zu erzeugen, indem wir uns rempelnd und singend aneinanderpressten. Normalerweise waren die Lieder und Gesänge leise und halbherzig, wenn aber ein Tor fiel, unterstützten uns die anderen Fans und brachten immerhin ein dezentes Brüllen zustande. Sogar die älteren Fans sangen, und die Spieler reagierten darauf. Sie schauten herüber, fast als ob sie überrascht wären, uns hier zu sehen. Dann ballten sie ihre Fäuste oder reckten einen Finger zum Gruß in die Höhe.

Manchmal, beispielsweise nach ein paar Überraschungssiegen oder einem Pokalmatch, kamen sogar die Gelegenheitsfans zurück. Wenn das Stadion voller war, versprühte es einen rauhen Charme und so etwas wie Wärme. Die zusätzlichen Gesichter und Körper wirkten wie Mörtel zwischen losen Ziegelsteinen.

An den meisten Abenden trank Dad etwas in einem Pub auf der Hauptstraße. Als Familie gingen wir dort nur einmal hinein, als eines Sonntagnachmittags ein Benefizkonzert zugunsten eines Jungen stattfand, der sich im Bad verbrüht hatte. Ihm und seiner Familie sollte ein Aufenthalt in Blackpool ermöglicht werden. Er hieß Bobby, aber er war nur als der ›junge Bobby‹ bekannt, da er – wie so viele in Rochdale – den gleichen Vornamen wie sein Vater trug.

Fast jeder im Pub schien zu rauchen, geascht wurde in kirschfarbene Metallaschenbecher. Mum rauchte Players No.6 – ich holte ihr immer welche, wenn ich nach draußen ging. Sie wedelte die Rauchschwaden von ihrem Gesicht weg und schob sie mit dem Handrücken vom resopalbeschichteten Pubtisch.

In einer gegenüberliegenden Ecke befand sich unter einer schwarzen Plastikhülle eine elektrische Orgel. Dad erzählte uns, dass wahrscheinlich der alte Harold darauf spielen würde, bevor die eigentliche Show begann. Pflichtbewusst erhob sich Harold von seinem Platz und begab sich auf den Weg zur Orgel. Er war wacklig auf den Beinen und es sah aus, als könne er jeden Moment umkippen, bevor er den Hocker erreichte. Aber kaum hatte er seine Hände auf den Tasten, lebte er auf. Er tippte die Tasten an und drückte stolz seine Schultern zurück, als er flüssig summende Melodien von sich gab. Ein paar Minuten später begleitete ihn Tom, sein Kumpel. »One, two«, testete Tom das Mikrofon und schmachtete dann zuerst hinein, dass er sein ›Heart in San Francisco‹ verloren hatte und dann, dass er ›a part of it, New York, New York‹ sein wolle.

»Die richtigen Künstler müssen nun jede Minute kommen, Ladies and Gentlemen.«