Sechzig autoren

 

 

 

 

Vergessene Flügel

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Nationalbibliotheken:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

 

Dieses Buch unterstützt Gewaltopfer, die Autorin ist Mitglied im Verein „Respekt für Dich – AutorInnen gegen Gewalt“

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autor unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Impressum:

1. Auflage

 

www.karinaverlag.at

Text © autorengruppe sechzig Autoren

Lektorat: Renate Zawrel, Bettina Böhm

Layout, Überarbeitung © Karin Pfolz

Covergestaltung © Karin Pfolz

Coverfoto: © Nicole Bleck

Autorenfoto: © März 2015, Karina Verlag, Vienna, Austria,

 

Print: ISBN: 978-3-903056-40-4

E-Book: 978-3-903056-41-1

 

Sechzig autoren

 

Vergessene Flügel

 

 


Inhalt

 

 

Rudi Treiber Vorwort 7

Verena Grüneweg 1. Kapitel 9

Karin Pfolz 2. Kapitel 18

Christine Erdic 3. Kapitel 23

Frank Huhnhäuser 4. Kapitel 28

Markus Kohler 5. Kapitel 33

Alexa Innocenti 6. Kapitel 39

Kishara Haberecht 7. Kapitel 46

Sally Bertram 8. Kapitel 50

Elfride Stehle 9. Kapitel 54

Nicol Lang 10. Kapitel 62

Ellen Rot 11. Kapitel 70

Katharina Kraemer 12. Kapitel 75

Dirk Harms 13. Kapitel 81

Sebastian Görlitzer 14. Kapitel 86

Elke Steffen 15. Kapitel 91

Sara Puland 16. Kapitel 97

Renate Zawrel 17. Kapitel 102

Medusa Mabuse 18. Kapitel 109

Andrea Schneider 19. Kapitel 115

Marie Stutzki 20. Kapitel 120

Marlies Berghold 21. Kapitel 125

Magdalena Almado 22. Kapitel 132

Sascha Schröder 23. Kapitel 139

Claudia Göpel 24. Kapitel 144

Nachwort 149

Autorenprofile 151

Mein Dank 167


 

VORWORT

 

Wir leben in einer Gesellschaft der Schnorrer und Benützer. Songs, Bilder, Software und Videos stiehlt man vom Internet, Musiker spielen für den Hut, Schriftsteller lesen für Applaus und Maler pinseln für die Dekoration des Schlafzimmers.

Wer sich diesem Diktat unterwirft, ist selber schuld.

Kunst soll nix kosten, doch fette Würstel mit Chemiesenf oder künstlich aromatisierte Potatoechips gibt’s nirgends gratis … ohne uns!


 


1

 

Zitternd lehne ich mich zurück. Eiskalt der Morgen, die Sonne kommt überhaupt nicht durch. Nebelschwaden tauchen die Welt um mich herum in unrealistische Bilder. Es erinnert mich an Szenen aus einem Horrorfilm. Der Moment, wenn du denkst, alles ist gut, das flüchtende Mädchen schafft es. Aber dann springt das Monster aus dem Nichts und greift sich das Opfer.

Ich spüre die Mauer des Gebäudes an meinem Rücken. Jeden einzelnen Stein, wie er sich in mein Fleisch drückt. Hart und unbequem fühlt es sich an und noch mehr Kälte breitet sich in meinem Körper aus. Auch der Steinboden, auf dem ich sitze, trägt nicht gerade für mein Wohlbefinden bei. Besser wäre es aufzustehen, mich zu bewegen. Vielleicht einen anderen Ort zu suchen, einen Imbiss, Dönerladen, eine Tankstelle … was auch immer, irgendwo wo ich mich aufwärmen könnte.

Doch meine Beine sind taub, sie gehorchen mir nicht. Sowie mein restlicher Körper.

Es liegt nicht an der Kälte, nicht an diesem Platz. Für mich ist das etwas, das ich zu gut kenne, nichts Ungewöhnliches, es ist ein Teil von mir.

 

Meine Welt ist diese Stadt. Sie ist mein Zuhause, mein Freund und mein Feind. Hier in Berlin ticken die Uhren anders. Freud und Leid reichen sich die Hand. Wenn ich das Leben in dieser Stadt beschreiben müsste, würde ich sagen, es ist wie ein Kuchen. So einer mit dieser süßen Puddingfüllung.

Für die Reichen, Bessergestellten, gibt es tagtäglich den Leckerbissen, eben die Creme. Für uns Außenseiter, Verlierer nur die Kruste. Trocken und hart, kaum zu schlucken. Wir ersticken fast an den Krümeln und versuchen doch immer wieder einen kleinen Happs vom Pudding zu bekommen.

Tiefer kuschle ich mich in meinen schwarzen Ledermantel, umhülle mit ihm meinen Körper so gut es geht. Mein einziger Besitz ist dieser Mantel und das kleine zerknitterte Heft, mein Tagebuch, in seiner Innentasche. Ein Schutz, ich trage ihn wie eine zweite Haut. Aber jetzt wärmt er mich kein Stück. Es ist, als ob mir nie wieder warm wird. Den Kopf gesenkt, starre ich auf den Boden vor mir. Vereinzelte Zigarettenkippen liegen auf dem Pflaster verstreut. Daneben leere Bierdosen und jede Menge anderer Dreck. Auch ein bekannter Anblick für mich.

Ohne darüber nachzudenken, hebe ich eine der Dosen auf, werfe sie weit weg von mir. Das scheppernde Geräusch klingt unangenehm laut, hallt in meinen Ohren nach. Aber zumindest unterbricht es diese laute Stille um mich herum. Die Stadt schläft noch und ihr Schweigen zwingt mich dazu, weiter nachzudenken. Es ist niemand da, der mit mir redet, dem ich alles erzählen kann. Mir Antworten gibt – hilft, alles zu begreifen.

Verzweifelt schüttle ich den Kopf, unfähig zu glauben, dass das, was ich vor einigen Stunden erlebt habe, real ist. Die nassen Haare fliegen mir ins Gesicht und ich beginne, hemmungslos zu weinen.

Ich, Samantha, Sami oder auch Chilly genannt, wünsche mir zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein ganz normales Leben. Eines, in dem du morgens zur Schule gehst, deine Mutter mittags mit dem Essen auf dich wartet und dein größtes Problem der gestörte Empfang des Internets ist. So wie die meisten in meinem Alter zu sein. Nicht in dieser Stadt zu verharren, in der ich ein Straßenkind von vielen bin. Eine Stadt, die mich verschlang, als ich aus dem Zug stieg und meinen Fuß auf ihren Boden setzte.

Lange ist das her. Damals mit vierzehn ließ ich mich gerne auf sie ein. Zu bedrückend; zu einengend war das Leben bei meiner Tante – eines Tages packte ich meine Sachen und lief fort.

Im Kopf Abenteuer, Freiheit, jede Menge Illusionen, so stürzte ich mich in das vermeintliche Abenteuer Berlin. Sehr schnell allerdings erlag ich der grausamen Realität des Lebens einer Ausgestoßenen.

Ich reibe meine, in zerfetzten Handschuhen eingepackten Hände, aneinander. Ein kläglicher Versuch sie zu wärmen. Vielleicht auch eine Zwangsbewegung, verursacht durch mein Gehirn, um von den Bildern in meinem Kopf abzulenken.

Hoffnungslos; sie lassen sich nicht verdrängen. Sie zeigen deutlich, dass meine Situation, verworren sowieso, sich jetzt als blankes Chaos präsentiert.

Doch wie konnte es dazu kommen? Was geschah in der Zeit zwischen gestern Abend und heute Morgen?

Es hilft mir nichts, mich dagegen zu wehren, ich muss die Bilder in meinem Kopf zulassen.

Zurück auf Anfang gehen – befehle ich meinem Verstand. Murmle die Worte leise vor mich hin: „Mist, welcher Scheiß ist da bloß abgelaufen. Denk nach, Sami, denk verdammt noch mal nach. Irgendeinen Hinweis muss es geben!”

Ich greife eine meiner Haarsträhnen und schiebe sie mir in den Mund, nuckle auf ihr herum. Das tue ich immer, wenn ich mich selber beruhigen will. Und ruhig zu bleiben, habe ich jetzt bitter nötig, während ich versuche, mich zu erinnern.

 

Wir hingen am Tiergarten ab, tranken Bier, wie jeden anderen Abend auch. Einer von uns sorgte stets aufs Neue für Nachschub. Geld dafür stellte kein Thema dar. Das Anschnorren von Passanten hatte sich gelohnt und die Stimmung war dementsprechend wirklich gut. Samuel und ich – von Freunden >die Sams< genannt – hingen uns in den Armen, lachten, feierten ausgelassen. Kuckuck, Max, Gun, Zero, Quenni sowie all die anderen Kumpels saßen, lagen oder tobten wie kleine Kinder über den Rasen. Selbst unsere Hunde genossen das Leben in allen Zügen.

Plötzlich begann es zu regnen. Richtige Wolkenbrüche kamen vom Himmel, in Nullkommanichts waren alle völlig durchnässt. Zeit, sich einen neuen Ort zu suchen, trocken und angenehm.

Wir machten das nicht zum ersten Mal – das Einbrechen in Häuser. Nee, wir wussten, wie es ablaufen musste. Wir kannten jedes Anzeichen dafür, wenn der Besitzer nicht anwesend war. Im Urlaub mit seiner heilen, tollen Familie. Quenni hatte seit einigen Tagen ein kleines Einfamilienhaus außerhalb der Stadt ausgekundschaftet. Die Bahn brachte uns schnell dorthin. Es war so einfach. Nicht mal nach Fahrscheinen fragte man uns. Als wir ausstiegen, uns umschauten, überkam mich das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Keine dreckigen Straßen, in denen sich Menschen wie Ameisen bewegten. Hier gab es noch Natur. Blumen, Bäume und Wiesen. Die Luft schmeckte gut und es roch nach frischer nasser Erde. Ausgelassen zogen wir Richtung Haus los. Man sollte meinen, es würde auffallen, eine Meute von Straßenkids, die durch eine saubere Einfamiliensiedlung zogen. Aber hallo, Leute, dies ist Berlin, nicht irgendein Kuhdorf, und so beachtete uns niemand.

Natürlich grölten wir nicht herum und die Dunkelheit war Teil unserer Tarnung. Während in der Stadt noch das Leben tobte, schlief hier draußen bereits jeder.

Quenni hatte ihre Sache gut gemacht. Das Haus lag abseits von den anderen. Die Menschen, die darin lebten, hatten Geld, nicht zu viel und nicht zu wenig. Woran wir das erkannten? Nicht zu viel – sie hatten keine Alarmanlage und das Haus war nicht übermäßig gesichert. Nicht zu wenig? Wisst ihr, was ein Haus mit Garten, weit entfernt von den anderen Häusern, in Berlin kostet? Nein? Ich glaube, einige von euch verdienen so viel noch nicht einmal in ihrem gesamten Leben.

Wie gesagt, alles schien perfekt zu laufen.

Durch das Kellerfenster kamen wir in das Haus. Es war nicht verschlossen – ein leichtes Unterfangen, es aufzuhebeln. Der Blick in die Zimmer bestätigte, dass dieses Haus eine super Wahl gewesen war. Hi-Fi-Anlage, Alkohol, gutes Essen im Kühlschrank – die beste Voraussetzung für eine gute Party. Wir ließen uns nicht zweimal bitten und zögerten nicht lange, uns zu bedienen.

Das Haus bebte und ich feierte ausgelassen mit den anderen. Ich trank Unmengen, nahm irgendwelche Drogen, hatte Sex, daran erinnere ich mich. Zuviel von allem. Irgendwann gab es einen Streit zwischen mir und Samuel. Ich hatte ihn erwischt, wie er mit Gun herumknutschte. Nur noch schemenhaft ist diese Erinnerung. Danach nichts mehr – nichts Neues für mich. Filmrisse gehören zu meinem Alltag. Ich nehme immer zu viel von allem, was mir angeboten wird.

Doch woran ich mich sehr gut erinnere, ist das Aufwachen in dem fremden Bett.

Mir wird hundeübel. Ich muss kotzen, während die Bilder ohne Gnade wie Pfeile in mein Gehirn schießen. Ein Geräusch kommt aus der hinteren Ecke in der Gasse. Irgendein Penner krabbelt unter Unmengen von Pappe hervor und wankt auf mich zu. Mich an den Schultern anfassend und irgendetwas Unverständliches lallend, pustet er mir seinen ekligen Atem ins Gesicht. Hektisch wische ich mir den Mund mit der Hand ab, stoße ihn schreiend weg. Er soll mich in Ruhe lassen, denn während all das passiert, läuft der Film in meinem Kopf immer weiter. Alles sehe ich klar und deutlich vor mir.

 

Das Bett, den Raum – ein Kinderzimmer, ich, die nackt zwischen den Laken liegt, sich umschaut und langsam aufsteht. Wie ich meine Kleidung zusammensuche, die um das Bett herum verstreut liegt, aufhebe und mechanisch anziehe. Mein Entsetzen beim Anblick des getrockneten Blutes auf meinen Händen. Ungläubig starre ich auf sie. Der Blick in den Spiegel, der gegenüber von dem Bett hängt und mir lange tiefe Kratzspuren in meinem Gesicht zeigt.

Dann, wie ich das Zimmer verlasse, staksig, einer Marionette ähnlich, zwischen den Scherben, die den Teppich bedecken, vorsichtig herumlaufe.

Blutige Handabdrücke auf der Tapete im Flur – fortlaufend, bis zum Ende der Treppe, die ich Stufe für Stufe runtergehe. Auch dort unten im Wohnzimmer herrscht Chaos. Zerbrochenes Glas überall, umgestoßene Möbel und niemand, der außer mir noch dort ist. Vollkommen verwirrt stehe ich zwischen allem, regungslos. Schaue um mich in der Hoffnung, wenigstens einen von meinen Freuden zu entdecken. Nichts und niemand, der mir erklären könnte, was hier los ist.

Auf Zehenspitzen durchquere ich den Raum und finde endlich Menschen.

Doch die drei Personen, die ich sehe, kenne ich nicht. Sie liegen mitten im Raum auf dem Laminatboden. Wirken, als ob sie schlafen. Zwei Erwachsene, ich glaube Frau und Mann mit einem Kind, das einen Teddy im Arm hält. Die Hände gefaltet, brennende Kerzen spenden sanften Lichtschein. Mit Kreide hat jemand Engelsflügel auf den Boden um sie herum gemalt.

Ein Bild – so friedlich. Meine Augen bleiben an ihren Gesichtern hängen. Ich hoffe, sie wachen nicht auf, entdecken mich nicht. Doch dann realisiere ich, sie werden niemals wieder aufwachen. Die Blutlache, die starren, weit aufgerissenen Augen erzählen mir die wahre Geschichte. Sie sind tot und bei Gott, bestimmt sind sie nicht einfach so eingeschlafen.

Ermordet, ich sehe dort Leichen vor mir.

Nur eine Sekunde länger verharre ich, dann löst sich ein Schrei aus meiner Kehle.

Es ist nicht zum ersten Mal, dass ich das erlebe.

Damals mit acht Jahren … meine Eltern – genauso hatte ich sie gefunden.

Ich will nur weg hier, raus. Ohne nachzudenken, ob mich einer sieht oder hört, reiße ich die Tür auf und stürze aus dem Haus. Renne immer weiter und weiter bis zu diesem Platz, an dem ich jetzt sitze … und hoffe, dass einer meiner Freunde kommt. Mir hilft, das alles zu verstehen.

Mein Name ist Samantha, auch Sami oder Chilly genannt. Ich bin siebzehn Jahre alt, ein Straßenkind mitten in Berlin.

Ich verstehe nicht, was passiert ist, habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.

Nur, dass ich verdammte Angst habe, das weiß ich mit Sicherheit.

 


 

2

 

Die Angst und die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit des Augenblicks, lassen mich weiter in meiner erstarrten Haltung verweilen. Noch immer bin ich nicht fähig, von hier wegzugehen. Immer weiter kriecht die Kälte des Steines in meinen Körper, immer härter erscheint mir die Mauer, an der ich lehne. Die Zeit bewegt sich nicht weiter. Die Sonne des Morgens bleibt still verharrend am selben Platz, nur schemenhaft zu erkennen. Der Nebel wird dichter, greift in schattenhaften, bedrohenden Fetzen nach mir.

Warum kommt keiner? Wo sind all meine Freunde, sie sind doch mit mir dort gewesen, in diesem Haus! Ich versteh das alles nicht.

Mein Blick wendet sich langsam meinen Händen zu. Voll von getrocknetem Blut sind sie, genauso wie damals …

 

Es sind ernüchternde Gedanken, die da durch meinen Kopf schwirren. Denn eines wird mir klar. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, warum alle anderen verschwunden sind. Und alle sind schlecht. Zum einen könnten meine Freunde ebenfalls tot sein, so wie die Familie in diesem Haus. Das wäre eine Erklärung dafür, dass ich keinen Laut mehr von ihnen gehört habe. Allerdings ist dies auch etwas unwahrscheinlich, denn wo wären die Leichen? Ein Mörder präsentiert nicht einen Teil seiner Opfer so kunstvoll auf den Boden, verziert den Ort seiner Tat und legt die anderen Leichen achtlos irgendwo anders ab. Das passt einfach nicht zusammen. Selbst ein noch so kranker Geist würde nicht so handeln.

Oder meine Freunde sind die Mörder und haben den Jahre zurückliegenden Mord an meinen Eltern nachgespielt. Es wurde ja damals ausführlich in den Medien berichtet und erst vor wenigen Tagen habe ich an einem Zeitungskiosk einen Artikel entdeckt, in dem das Verbrechen an meiner Familie mit einem Fall in Österreich verglichen wurde. Ich habe das vollkommen verdrängt, weil es bei mir sofort ein Flashback verursachte - das Bild meiner toten Eltern, die ich zuerst für schlafend hielt. Die Angst, die darauf folgte. Ich hörte wieder meine Schreie von damals, als ich meine Mutter umarmen und wecken wollte. Dann, als ich meine kleinen Arme um ihren Körper schlang und in ihr Blut griff. Es war noch warm, hatte die Wärme ihres Körpers noch gespeichert und gewartet, auf mich, dass ich sie noch einmal – ein letztes Mal – in meinem Leben fühlen durfte. Damals, da schrie ich so lange, bis endlich jemand kam. Für mich schien das wie eine Ewigkeit. Ich hielt meine Mutter, schrie, und versuchte die Wärme zu halten, wollte, dass sie die Augen öffnete und atmete. Dieses Bild wollte ich nicht mehr sehen, nie wieder. Also ersäufte ich die Erinnerung daran in einer unglaublichen Menge Alkohol. So viel, dass ich mich nicht mehr an den Zeitungsartikel erinnern konnte. Bis heute.

Was weiß ich, was in so benebelten Gehirnen vor sich geht. Immerhin sind so ziemlich alle seit Jahren auf irgendwelchen Drogen.

Aber all das erklärt nicht das Blut an meinen Händen, die Spuren an den Wänden. Es erklärt nicht meinen Zustand beim Erwachen. Warum habe ich nichts gehört? Wie war das möglich, dass eine ganze Familie umgebracht wird und ich im selben Haus nichts davon bemerke? Und wo kamen die Leute her? Das Haus war leer, als wir einstiegen. Es war keine Menschenseele da! Ich bin sicher, dass das so war, denn Quenni und Samuel haben doch in allen Räumen nachgesehen. Wir anderen warteten, bis das Okay von ihnen kam, dass die Luft rein sei.

Gut, wir hatten viel getrunken, waren überdreht und aufgeputscht. Irgendeiner hat mir Tabletten gegeben, die angeblich wach hielten. Ich wollte nicht müde werden und schluckte das Zeug einfach runter. Es war mir vollkommen egal, welche Auswirkungen das bei mir haben würde. Kurz darauf setzte ein Schwindelgefühl bei mir ein, nicht so ein unangenehmes, eher so, als würde ich leicht schweben, schwerelos sein. Ein unglaublicher Drang nach Sex überkam mich und zwei der Burschen hakten sich links und rechts bei mir ein und führten mich in eines der Schlafzimmer.

Ab hier weisen meine Erinnerungen Lücken auf. Nur kleine Stücke des Geschehens erscheinen, so sehr ich mich auch anstrenge. Kurze Flashs, einmal Hände auf meinem nackten Körper, dann jemand, der mich aufstellt und an die Wand lehnt. Ich sacke wieder zusammen und werde wieder aufgestellt, mit Handschellen an einem Rohr befestigt, damit ich stehen bleibe. Ich habe keine Lust mehr, kann nichts mehr fühlen. Will, dass sie mich in Ruhe lassen. Aber sie hören mich nicht. Machen weiter. Ich, ein willenloses Stück Fleisch, das angebunden an der Wand hängt. Dann wieder eine Lücke. Zusammengekauert liege ich am Boden, es ist ein anderer Raum. Ein Teppich. Weich, zart die Faser. Seide. Eine rote Flüssigkeit. Eine warme, rote Flüssigkeit rinnt über meine Hände. Das Lachen vieler Stimmen dringt zu mir durch, aber ich erkenne keine Gesichter. Wieder eine Lücke in der Erinnerung …

Der Boden, auf dem ich sitze ist so kalt, meine Knochen fühlen sich an, als ob sie einfrieren. Die Wand drückt hart in meinen Rücken. Der Nebel greift nach mir, immer mehr hüllt er mich ein. Saugt mir die letzte Kraft aus dem Körper und nimmt mir die letzten Teile meiner Erinnerungen. Nur noch das Zimmer, in dem ich erwachte, taucht auf. Wie eine Wolke schwebt das Bild über mir. Meinen Körper kann ich nicht mehr beherrschen. Ich kippe zur Seite. Liege nun hier, eingekrümmt, kalt, zitternd. Die Sonne versucht den Nebel zu durchdringen, bewegt sich nicht, steht noch immer auf gleicher Höhe. Zugedeckt mit Finsternis. Stillstand der Zeit.

 

Schritte, ich spüre die Vibration des Bodens, die sie auslösen, aber ich höre sie nicht. Ein schwarzer Schatten bewegt sich auf mich zu. Alles verschwimmt zu einer einzigen dunkelgrauen Wand. Und dann spüre ich, wie ich hochgehoben werde, meine Arme und Beine baumeln hin und her, mein Kopf hängt nach unten. Meine Muskeln reagieren nicht mehr. Ich verliere das Bewusstsein.

 


 

3

 

Wo bin ich und wie bin ich hierhergekommen? Benommen schaue ich mich um. Die kahlen Wände starren mich trostlos an und von der Decke baumelt eine Elektrobirne. Ich muss mich abwenden, viel zu grell ist ihr Licht. Mein Kopf tut so weh und noch immer klebt das Blut an meinen Händen. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch, es ist so kalt. Ich liege auf einer alten, fleckigen Matratze und nur mein Mantel deckt mich dürftig zu.