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Mami -1775-


Melanie geht ihren Weg


Rosa Lindberg


  Durch das Küchenfenster sah Hanna Bibi kommen. Unwillkürlich mußte sie lächeln: Bibis rechter Fuß lief geradeaus, ihr linker schlenderte wild nach innen.
  »Kombifüße«, hatte Fabian sie genannt, »einen zum Klettern und einen zum Schwimmen.«
  Fabian, ach, Fabian!
  Wie hatten sie damals darüber gelacht. Damals – da wurde überhaupt viel gelacht in diesem Hause. Es war ein Haus des Glücks gewesen, bis Fabian Naumann, ihr Sohn, durch einen Autounfall ums Leben kam. Er hinterließ sie, Hanna, und er hinterließ Melanie, seine Frau, mit den drei Kindern Fabian junior, Mark und Bibiane.
  Auch dieses Haus hinterließ er, beladen mit Schulden, die Melanie nun keine andere Wahl ließen, als es zu verkaufen. Es fiel ihr schwer, Hanna wußte das. Wer trennt sich schon gern von dem Platz, an dem er die schönsten Augenblicke seines Lebens verbracht hatte?
  Bibi stand atemlos vor dem geöffneten Fenster.
  »Da sind schon wieder welche«, flüsterte sie so laut, daß Herr Berking aus dem Nachbarhaus, wenn er gewollt hätte, es mühelos verstanden hätte.
  »Welche?« fragte Hanna.
  »Na, Intrissierten oder so.«
  »Für Bibi und ihre Brüder war die Welt in Ordnung geblieben. Gott sei Dank! Zu klein, um die Tragweite des Verlustes zu verstehen, vermißten sie ihren ohnehin sporadisch anwesenden Vater nicht allzusehr. Fabian war in seinem Eifer, für seine Familie ein Paradies zu schaffen, mehr unterwegs als daheim gewesen.
  Daß man aus diesem Haus ausziehen, in ein anderes oder in eine Wohnung ziehen würde, war für die Kinder lediglich spannend und nicht problematisch.
  Hanna nahm die Schürze ab und ging hinaus.
  Ein Paar, etwa Anfang dreißig, kam den Weg hinauf. Sie passen nicht in dieses Haus, dachte Hanna niedergeschlagen, hätte aber nicht zu sagen vermocht, warum das so war. Vielleicht waren sie zu elegant, vielleicht auch zu jung. Denn das Haus war alt. Es hatte den umwerfenden Charme der zwanziger Jahre, aber auch dessen kleine Räume, vielen Treppchen, Erker und Fensterchen. Ein eigenwilliges Haus, das man lieben mußte, um es zu bewohnen.
  Die Besichtigung verlief wie viele vorher. Der junge Mann sprach zwar von Umbaumöglichkeiten, weil doch der Garten so schön und eigentlich unverhältnismäßig groß sei, doch die junge Frau sagte lediglich:
  »Um Gottes willen!«
  »Das tut mir leid«, Hanna hätte gern hinzugefügt: für sie, doch sie tat es natürlich nicht, »aber alte Häuser sind ja auch wirklich nicht jedermanns Sache. Sie machen viel Arbeit.«
  Die junge Frau schenkte der Zwanziger-Jahre-Schönheit einen mitleidigen Abschiedsblick, sagte: »Das außerdem!« und verabschiedete sich.
  Hanna streichelte im Vorübergehen die hölzernen Treppengeländer. Sie hatten Patina und Grazie. Die Hände, die sie gestreichelt hatten, waren nicht zu zählen. Vielleicht hatte sich auch jemand manchmal daran geklammert, krank oder verzweifelt. Es war ein geschwungenes Geländer, mit Sicherheit waren schon vor Fabian, Mark und Bibiane andere Kinder auf dem Hosenboden darauf heruntergerutscht, kreischend, lachend, fröhlich. Oder heimlich! Wie der große Fabian einmal, kurz nachdem sie das Haus bezogen hatten. Hanna hatte ihn erwischt, und er war verlegen gewesen wie ein Schuljunge. Dabei hatte sie ihn so gut verstanden!
  Ja, es war richtig, daß das junge Paar, das eben in einen weißen Sportwagen stieg, sich gegen das Haus entschieden hatte. Sie hätten einander nicht verstanden. Und das muß man! Man muß mit dem Haus eine Ehe eingehen, die mit einer Liebesheirat begonnen hat. Alles andere, Hanna schüttelte über ihre Gedankengänge selbst den Kopf, sind nur Verhältnisse.
  Bibiane hockte vor dem Kühlschrank und verzehrte in aller Seelenruhe ein Stück Käse. Sie lächelte ihr schmelzendstes Lächeln, als Omi so überraschend schnell zurückkam, und stöhnte dabei dramatisch:
  »Ich war ja beinahe verhungert!«
  Hanna nahm ihr den Käse aus der Hand.
  »Genauso siehst du auch aus!«
  »Ja, ja, das meinen alle. Dabei war mir schon ganz schlecht vor Hunger.«
  »Tatsächlich?« Hanna tat sehr interessiert. »Wo denn?«
  Bibi war zwar erst vier, aber was ihre Essens-Leidenschaft betraf, war sie gewitzt.
  Sie ließ ihre Hände blitzschnell über ihren drallen Leib gleiten und behauptete: »Überall!«
  Hanna nahm das Wonnepaket hoch. Sofort legten sich warme, weiche Kinderarme um ihren Hals. Sekundenlang schloß Hanna die Augen in diesem immer wieder überwältigenden Augenblick.
  »Das gibt es nicht, daß einem überall schlecht ist, Bibi! Also? Hier?« Sie legte die Hand gegen Bibis Magen. »Oder vielleicht«, die Hand wanderte auf den kleinen Bauch, »hier?«
  Bibiane Naumann haßte es, Entscheidungen zu treffen. Und da der Zufall die Glücklichen nicht im Stich läßt, fiel ihr genau in diesem Augenblick ein, was Mark, ihr immerhin siebenjähriger Bruder, der auch schon in die Schule ging, neulich gesagt hatte:
  »Wenn ich sage, überall, dann  meine ich auch überall!«
  Und so sagte sie das jetzt ebenfalls. Omi war beeindruckt, denn sie blieb ernst.
  »Wenn das so ist«, meinte sie bekümmert, »dann muß ich dich ins Bett packen. Vielleicht sollte ich auch den Doktor rufen…?«
  Es gab eine Menge Dinge, die Bibi nicht mochte, und es gab einige, die sie haßte. Zu denen gehörte Bettliegen am hellichten Tag. Schon abends ging sie äußerst ungern schlafen! Was man da nicht alles verpaßte! Urplötzlich kam ihr der richtige Gedankenblitz: »Jetzt…«, sie schubbelte ihre Nase gegen Omis Wange, »wo ich ja den Käse gegessen habe, isses ja gut.«
  »Nun«, beinahe widerstrebend ließ Hanna Bibi auf den Boden gleiten, man kann schließlich nicht ständig im Arm halten, was man so sehr liebt, »wenn es gut ist, dann darfst du jetzt die Löffel abtrocknen.«
  An diesem Tage lernte Bibiane Naumann, daß man doch jede Antwort sehr gut überlegen mußte.
  »Wann kommt Mami endlich zurück?« erkundigte sie sich, entdeckte – nein, soo was! – in der Besteckschublade ein Stück Schokolade und schob es blitzschnell in den Mund. Hanna unterdrückte ihr Lächeln, tat, als habe sie nichts gesehen. Als ob sie Bibi Arbeit tun ließe, ohne sie zu belohnen!
  »Ich weiß es nicht, mein Schatz. Aber wie wäre es, wenn wir zwei in der Zwischenzeit einen Kuchen backen würden?«
  Bibi griff bereits nach ihrer kleinen rotgepunkteten Schürze, während Hanna überlegte, ob es denn wohl wirklich richtig gewesen war, darauf zu bestehen, daß Melanie die Hilfe einer Psychotherapeutin suchte. Aber irgend etwas mußte doch schließlich getan werden, um sie aus dieser Starre zu befreien, in die sie seit dem Unglück gefallen war. Es muß doch weitergehen, das Leben. Wie auch immer. So oder so.

*


  Melanie hatte sich geweigert, sich auf die Ledercouch zu legen. Sie saß ruhig, die Hände flach auf ihre Tasche im Schoß gelegt, der Frau gegenüber, die sie über ihr Leben ausfragte. Den folgenden Ausführungen lauschte sie höflich und interessiert. Und während sie lauschte, wurde ihr klar, daß niemand ihr helfen konnte, wenn sie sich nicht selbst half. Auch diese Frau nicht, die auf Melanie den Eindruck machte, als habe sie genug damit zu tun, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
  Die Rückschlüsse, die Frau – sie sah auf das kleine Schild mit dem Namen auf dem Schreibtisch – Leiendecker zog, näherten sich gefährlich rasch dem Absurden, und sie entfernten sich fast noch schneller vom gesunden Menschenverstand.
  »Hören Sie bitte«, hörte Melanie sich zu ihrer eigenen Verwunderung plötzlich fest sagen, »ich bin nicht zu Ihnen gekommen, damit Sie mein Leben auseinandernehmen; ich hatte eigentlich mehr an Ihre Hilfe im Wiederzusammensetzen gedacht.«
  Frau Leiendecker starrte Melanie an. Melanie erwiderte den Blick mit der Gelassenheit einer Frau, die begriffen hat, daß fremde Hilfe gleich welcher Art immer fremd bleiben wird.
  »Aber…«, sie hatte nervöse Hände und eine exaltierte Stimme, »dazu brauche ich doch Angaben aus Ihrem Leben.«
  »Die habe ich Ihnen ja gegeben. Aber finden Sie nicht selbst, daß Sie sie wie – wie Trümmer behandeln statt wie Bausteine?«
  Frau Leiendecker erhob sich. Melanie stand ebenfalls auf.
  »Es tut mir leid, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«
  »Ach…«, in einem warmen Strom fühlte Melanie, daß sie die Wahrheit aussprach, »Sie haben mir ja geholfen, Frau Leiendecker!«
  »Ich habe…?«
  »Ja. Ich bin wieder aufgewacht. Endlich. Wer weiß, wie lange das noch gedauert hätte, wenn ich nicht zu Ihnen gekommen wäre.« Sie streckte ihre Hand aus, die Frau Leiendecker nahm, wobei sie erstaunlich herzlich lächelte.
  »Vielleicht ist das mehr wert als eine Therapie, oder?«
  »Bestimmt sogar! Ich danke Ihnen.«
  Inge Leiendecker sah der Frau nach, die all das besaß, was eine Frau sich erträumte. Außerdem war sie schön. Und jung. Gut, sie hatte nun einen Verlust hinnehmen müssen. Guter Gott! Was hatte sie, Inge Leiendecker, nicht schon alles verloren im Leben! Und meist, sie rückte ihre Brille zurecht, bevor sie es wirklich besessen hatte.
  Sie öffnete die Tür zum Wartezimmer.
  »Der Nächste, bitte!«
  Der Gedanke, wenigstens ein bißchen Schuld an ihrem Leben bei sich selbst zu suchen, kam ihr nicht.

*


  Schon fast zu Hause, änderte Melanie ihre Meinung. Nein, sie würde noch nicht mit Hanna reden. Erst später. Erst einmal mußte sie weinen. Sie hatte das Gefühl, als drängten nun alle Tränen, die sie in ihrer Versteinerung nicht hatte weinen können, hinaus. Sie wendete, beschleunigte dann das Tempo und fuhr in das kleine Waldstück, in dem sie früher so gerne spazierengegangen waren. Als sie aus dem Wagen stieg, überlegte sie, daß es vielleicht keine so gute Idee war, gerade hierher zu fahren. Doch dann schloß sie die Wagentür und lief zu dem sumpfigen Weiher, wo erfahrungsgemäß kaum ein Mensch anzutreffen war. Wenn sie immer und immer wieder die Stellen mied, an denen sie mit Fabian gewesen war, müßte sie sich irgendwo einschließen. Auf eine vermaledeite, eigentlich unverantwortliche Art und Weise hatte sie das im übertragenen Sinne lange genug getan!
  Nun aber, sie setzte sich trotz des hellen Rockes in das hier stets feuchte Gras, nicht mehr! Nie mehr! Fabian hätte das nie gewollt. Sonderbar, daß ihr dieser Gedanke nicht vorher schon gekommen war.
  Mit einer geradezu sinnlichen Wärme fühlte Melanie die Woge der Tränen. Und ließ ihr freien Lauf. Es war eine riesige Woge, die kein Ende zu nehmen schien.
  Über dem Weiher tanzten Mükkenschwärme. Sie waren der Grund dafür, daß die Menschen ihn mieden. Mückenstiche konnten schrecklich sein. Melanie wußte das nicht aus Erfahrung, nur vom Hörensagen. Sie hatte wohl kein süßes Blut, das Mücken angeblich bevorzugten. Jedenfalls war sie noch nie im Leben von ihnen gestochen worden. Schon als Kind nicht.
  Das Summen verstärkte das Wärmegefühl, füllte es, und Melanie bemerkte, wie der Strom der Tränen ganz, ganz langsam versiegte.
  Sie warf sich mit gestreckten Armen nach hinten, blickte durch die wiegenden Baumäste in einen so makellos blauen Himmel, daß die Augen beim Hineinblicken brannten. Sie schloß sie.
  Es gab das ja alles noch. Es gab den Himmel, es gab die Erde, es gab die Sonne, es gab den Mond. Es gab die Wärme, es gab die Kälte…
  Und es gab ihre Familie. Die Kinder; die vor allem. So sehr gewünscht, so heiß geliebt. So zärtlich umsorgt.
  Und es gab die Freunde.
  Melanie richtete sich langsam wieder auf und öffnete die Augen. Die Mücken tanzten immer noch. Unermüdlich. Ihr Summen klang plötzlich nicht nur nach Sommer, sondern auch nach guter Laune.
  Lieber Gott! Wie hat dieses Weinen mir gutgetan!
  Hinter den Büschen, von dem breiten Weg her, klangen Stimmen. Dann Radiomusik. Laut natürlich. Schöne Maid – hast du heut’ für mich Zeit…  Die Unterhaltung, man mußte ja die Musik  übertönen, wurde lauter. Dann waren Leute und Musik vorüber. Warum nur mußten die Menschen immer und immer wieder die Stille zerstören?
  Als Melanie aufgestanden war, betastete sie ihr Gesicht, ihren Hals, ihren  Blusenkragen. Keine Spur mehr von den Tränen. In dem kleinen Taschenspiegel betrachtete sie sich. Sie lächelte sich zu. Wir leben wieder…!
  Einem Impuls folgend fuhr sie zu einem Blumengeschäft und kaufte blaue Iris. Einen ganzen Arm voll. Dazu eine breite Plastikvase. Iris waren Fabians Lieblingsblumen gewesen. Der Garten zeugte noch heute davon. Sie gab am Friedhofseingang Wasser in die Vase und trug sie behutsam und lächelnd, sie fühlte das ganz genau! – zu Fabians Grab. Dann stand sie lange davor und hielt stumme Zwiesprache mit dem Mann, der einmal ihr Leben war, ihr ganzes; ihre Liebe und ihre Erfüllung.
  Es gab ihn nicht mehr.
  Aber das Leben, das gab es. Man muß es leben und leben wollen, was immer auch geschah. Man muß es lieben, damit man von ihm zurückgeliebt wird. Es ist ein  Geschenk.
  Auch Liebe ist ist Geschenk. Jede Liebe.

*


  »Wie war’s?« fragte Jutta und zog Melanie mit sich in das kleine Büro hinter der Apotheke. Es war Jutta Kellers Apotheke, ihr ganzer Stolz, und Jutta war Melanies Freundin. Seit I-Männchen beziehungsweise I-Frauchen-Zeiten. Ihre Freundschaft war eine von jenen mit dem Gütesiegel: Lebenslang. Jutta war Junggesellin, sie vermied das Modewort Single, weil es ihrer Meinung nach voll danebentraf in ihrem Fall. Sie hatte eine große Liebe hinter sich, die sie mit dem Satz abgehakt hatte: »Den, den ich will, kann ich nicht kriegen, die, die ich kriegen kann, will ich nicht.«
  Nur Melanie wußte, daß sie Herzblut gelassen hatte. Der Mann hatte ihr lange verschwiegen, daß er verheiratet war. Eine reine Liebe war einem Abenteurer zum Opfer gefallen.
  »Kann ich vielleicht erst ein Glas Wasser haben?« fragte Melanie.
  Jutta reichte es ihr und sah sie an.
  »Hier. Scheint gut gelaufen zu sein.«
  »Es ist…«, Melanie nahm einen langen Schluck, »überhaupt nicht gelaufen, aber es war trotzdem gut.«
  Schweigend lauschte Jutta Melanies Bericht, der auch all ihre Empfindungen während des Gesprächs mit Frau Leiendecker, während ihres Weinens am Weiher und während ihrer Zwiesprache mit Fabian an seinem Grab enthielt.
  Danach füllte sie noch einmal Melanies inzwischen geleertes Glas.
  »Ich bin so froh«, sie küßte eine Fingerspitze und legte sie kurz gegen Melanies Gesicht, »weißt du das?«