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Mami
– Staffel 2 –

E-Book 1739-1748

Gisela Reutling
Eva-Maria Horn
Annette Mansdorf
Susanne Svanberg
Gloria Rosen
Myra Myrenburg
Isabell Rohde

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-95979-023-9

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Dich verlassen? Niemals!

Roman von Myrenburg, Myra

»Normalerweise nehmen wir nur Lehrkräfte mit Berufserfahrung«, sagte Erich Knobel, Leiter der deutschen Schule im südamerikanischen Montelindo. Er umfing die jugendliche Erscheinung im bunten Batik-Look mit einem skeptischen Blick.

»Ach wissen Sie, es wird jetzt überall gespart«, entgegnete Kati Busch unbeschwert, »je länger man im Dienst ist, um so höher sind die Bezüge. Ich dagegen als Berufsanfänger bin heilfroh, überhaupt unterzukommen und daher ausgesprochen preiswert.«

Sie ordnete die Falten ihres locker fallenden Baumwollgewandes, das sie offensichtlich an einem der staubigen Straßenstände in ihrer neuen Heimat erworben hatte, und schenkte ihrem zukünftigen Chef ein gewinnendes Lächeln.

Er seufzte, blätterte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch und gab zu bedenken, daß zwischen Studium und Praxis ein gewaltiger Unterschied liege, nicht nur bei Medizinern, sondern auch bei Lehrern. Am täglichen Umgang mit Kindern seien schon viele nach bestandenem Examen gescheitert.

»Also in diesem Punkt kann ich Sie beruhigen«, erklärte Kati Busch vergnügt, »wir sind zu Hause fünf Geschwister, und ich bin die Zweitälteste. An alles, was da anfällt, bin ich gewöhnt. Krach und Zoff, wenn Sie das meinen, machen mir nichts aus.«

Erich Knobel gab sich geschlagen.

Zwar hatte Katharina Busch aus dem niederrheinischen Battenberg seine Bedenken keineswegs zerstreut, aber da sie nun einmal da war, mußte man ihr eine Chance geben, mindestens ein Jahr lang.

»Sprechen Sie Spanisch?« fragte er der Ordnung halber.

»Als ich die Zusage bekam, habe ich gleich einen Crash-Kursus gemacht«, war die offene Antwort.

»Aha. Nun, dies ist eine deutsche Schule, und die erste Sprache ist natürlich Deutsch. Trotzdem sind Kenntnisse in der Landessprache unerläßlich. Warum, wenn ich so neugierig sein darf, haben Sie sich um eine Stelle in Montelindo beworben?«

»Oh, ich war nicht auf diese Gegend fixiert. Ich wäre auch nach Alaska gegangen oder nach Südafrika. Aber man muß nehmen, was man kriegt, nicht wahr? Ich wollte unbedingt weg, weit weg. Das war mir die Hauptsache.«

»Aha«, murmelte Erich Knobel, räusperte sich und fügte hinzu: »So so.« Weiter zu fragen verbot ihm seine Zurückhaltung, aber das brauchte er auch gar nicht, denn Kati Busch schlug die klarblauen Augen vertrauensvoll zu ihm auf und bekannte freimütig, ihre Gründe seien persönlicher Art gewesen.

»Beziehungsstreß, wissen Sie.«

Der im Auslandsdienst ergraute Schulmann Erich Knobel wußte keineswegs, was damit gemeint war. Die neue Generation, die da in der alten Heimat heranwuchs, brachte nicht nur andere Gewohnheiten und Gedankengänge mit. Sie hatte offenbar auch andere Sprachregeln entwickelt.

»Beziehungsstreß«, wiederholte er stirnrunzelnd, »was genau ist darunter zu verstehen?«

»Na ja, ich war drei Jahre lang mit Achim zusammen, so ähnlich wie verlobt, wissen Sie. Aber eines Tages kamen wir nicht mehr klar miteinander. Wenn ich keinen Schlußstrich gezogen hätte, dann wäre das noch ewig so gegangen. Für mich ist es bestimmt das Beste, die Tapeten zu wechseln und mit ganz anderen Problemen konfrontiert zu werden.«

»Hoffentlich haben Sie sich nicht zuviel vorgenommen«, murmelte Erich Knobel und fuhr sich mit der Hand durchs dichte weiße Haar, »ein Tapetenwechsel von Battenberg nach Montelindo ist ziemlich kraß, und die Probleme, mit denen Sie es hier zu tun kriegen, sind nicht zu unterschätzen. Wir arbeiten seit dreißig Jahren in diesen Ländern, meine Frau und ich, und bis heute haben wir uns an manche Härten nicht gewöhnen können. Aber vielleicht bleibt Ihnen der Einblick in die hiesige Welt erspart, denn innerhalb unserer Schule spielt sich alles im gewohnten europäischen Rahmen ab. Wir singen sogar deutsche Volkslieder«, fügte er lächelnd hinzu. In die kleine Pause, die er seinen Worten folgen ließ, wehte zweistimmig aus dem Innenhof eine fast vergessene Weise herein: »Wenn alle Brünnlein fließen…«

Kati traute ihren Ohren nicht.

Kaum zu glauben, dachte sie, bei uns zu Hause wird ja sogar in der Kirche eher Gospelmusik gespielt als schlichtes deutsches Liedgut! Na, macht nichts. Da lerne ich eben noch was dazu.

Die anschließende Besichtigung der Schule versetzte sie in erneutes Erstaunen. Alle Klassenräume lagen in Einzel-Bungalows, die durch lauschige, blumengeschmückte Innenhöfe miteinander verbunden waren. Vom Kindergarten bis zum Abitur reichte das Angebot. Für alles war gesorgt, von morgens um halb neun bis nachmittags um vier Uhr. Es gab eine umfangreiche Bibliothek, einen Musiksaal mit Instrumenten, gut bestückte Räumlichkeiten für naturwissenschaftliche Fächer, viel Luft und Licht und Spielgerät für die Kleinen.

Eine großzügigere Anlage war nicht vorstellbar.

»Ja, ja«, lächelte Angelika Knobel, die Frau des Schulleiters, eine zeitlose Erscheinung mit jungem Gesicht unter sonnengebleichtem Haar, »hier bei uns ist die Welt noch in Ordnung. Wir wollen Sie bei den Erstkläßlern einsetzen. Ist Ihnen das recht?«

»Aber ja, aber sicher«, beeilte sich Kati atemlos zuzustimmen, »ich fülle jeden Platz aus, den Sie mir zuweisen.«

»Fein, dann können Sie am Montagmorgen anfangen. Das Wochenende werden Sie brauchen, um Ihre Sachen auszupacken und sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Wissen Sie schon, wo Sie wohnen?«

»Nein, ich bin gestern mit einem Gutschein für das Hotel Imperial angekommen, aber der gilt nur für zwei Nächte.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Alle ausländischen Kräfte werden für die Dauer ihres Aufenthalts ganz in der Nähe untergebracht. Warten wir noch bis zur großen Pause, dann gehe ich mit Ihnen hinüber.«

Die Wohnsiedlung war in der gleichen offenen Bauweise angelegt wie die Schule, und zu Katis sprachloser Verwunderung erhielt sie einen eigenen kleinen Bungalow mit Innenhof und Vordergärtchen, sowie einer mütterlichen, einheimischen Zugehfrau namens Serafina.

»Ich kann’s nicht fassen«, sagte sie zu Frau Knobel, die ihr das Schlafzimmer mit den eingebauten Schränken, den luftigen großen Wohnraum und die perfekt eingerichtete Küche zeigte, »in meinem ganzen Leben habe ich nicht so komfortabel gewohnt.«

»Dafür müssen Sie auf einiges andere verzichten«, erwiderte die Frau des Schulleiters mit ihrem verhaltenen Lächeln, »zum Beispiel auf ein Auto, das importiert werden müßte und daher in der Anschaffung viel zu teuer wäre.«

»Ach, daran bin ich sowieso nicht gewöhnt«, bekannte Kati offenherzig, »bei uns zu Hause im Flachland haben wir Fahrräder, und in den Städten benutzen wir öffentliche Verkehrsmittel.«

»Damit sieht es hier nicht so gut aus«, erwiderte Angelika Knobel mit warnendem Unterton in der sanften Stimme, »wenn Sie die altersschwachen Busse gesehen haben, an denen Trauben von Menschen hängen – das sind die einzigen Fortbewegungsmittel außer den Taxis. Aber alles, was Sie fürs tägliche Leben brauchen, finden Sie in nächster Nähe. Serafina wird Sie überall hinführen und auch für Sie einkaufen, wenn Sie das wollen. Sie ist absolut zuverlässig. Eine bessere Hilfe könnte ich Ihnen nicht empfehlen. Durch die lange Zusammenarbeit mit ausländischen Mietern hat sie etwas Deutsch gelernt, und im Spanischen kann sie Ihnen viel beibringen.«

»Großartig«, sagte Kati dankbar und erleichtert, »das ist nämlich der einzige Punkt, der mir Kopfzerbrechen macht. Alles andere dürfte kein Problem sein, ganz im Gegenteil! Bis jetzt kann ich nur sagen, daß Montelindo meine Erwartungen bei weitem übertrifft!«

»Wollen wir hoffen, daß es so bleibt«, lächelte Angelika Knobel, setzte ihre Sonnenbrille auf und trat in den gleißenden Sonnenschein vor der blau gestrichenen Haustür, »wenn Ihnen etwas fehlt, rufen Sie uns an. Die Telefonnummer steht auf der kleinen Liste neben dem Apparat. Ansonsten sehen wir uns am Montagmorgen.«

*

Den Rest des Tages verbrachte Kati glücklich in ihrem neuen Heim, wo sie barfuß über die Steinfußböden lief, den Inhalt ihres großen Koffers und der beiden Reisetaschen in die eingebauten Schränke räumte, die Dusche ausprobierte und Serafina beim Kochen zusah.

Es gab Fleischbällchen mit Reis in einer würzigen Soße, die einen verführerischen Duft verbreitete. Hübsches, buntes Geschirr wurde durch das weit geöffnete Küchenfenster auf eine breite, steinerne Fensterbank geschoben. Draußen, unter einem Ziegeldach öffnete sich der Innenhof, mit Hibiskus und wilden Orchideen und einem kleinen Springbrunnen. Der Eßplatz mit rundem Tisch und vier Stühlen befand sich praktischerweise gleich vor dem Küchenfenster.

Kati nahm Teller und Besteck, Schüsseln und Gläser entgegen und stellte benommen fest, daß nicht einmal ein Serviettenständer fehlte.

Sie kam sich vor wie Alice im Wunderland bis zu dem Moment, da Serafina freundlich und bestimmt ablehnte, sich zu ihr zu setzen.

Aber das Essen war so köstlich, die selbstgebraute Zitronenlimonade mit Minzeblättchen so erfrischend und Serafinas Miene so zufrieden, daß sich der kleine Schatten rasch wieder verzog.

Die Mittagsstunde verbrachte Kati auf ihrem Bett liegend und vor sich hin träumend, nachdem sich Serafina bis zum nächsten Morgen verabschiedet hatte.

Am späten Nachmittag besichtigte Kati ihren kleinen Vorgarten, goß ein paar üppige Fettpflanzen neben dem Eingang und ein paar Küchenkräuter in einem Blumenkasten.

Sie sah zu, wie die Sonne hinter einer weiß leuchtenden Kirche im Kolonialstil unterging und zuckte erschrocken zusammen, als ein Motorroller heranbrauste, eine Staubfahne hinter sich her zog und mit Getöse vor dem Nebengärtchen zum Stehen kam.

»Hallo«, sagte der Fahrer und wandte ihr sein staubbedecktes Gesicht zu, »sind wir vielleicht Landsleute?«

»Könnte gut sein«, erwiderte Kati, die Gestalt in Jeans und T-Shirt neugierig betrachtend, »ich komme aus Deutschland.«

»Ich auch«, erklärte der Rollerfahrer mit bemerkenswertem Gleichmut und blies sich ein Büschel glatter heller Haare aus der Stirn, die ebenso verstaubt waren wie seine Unterarme, »die meisten in dieser Wohnanlage sind Deutsche. Ein paar Amerikaner gibt es auch, und ab und zu kommen zwei Italiener von einer Baufirma. Bist du neu im Land?«

»Kann man sagen, ja. Seit gestern. Ich habe eine Stelle in der deutschen Schule. Und du?«

»In der Botschaft. Übrigens, ich bin Christof.«

Er streckte ihr eine ölverschmierte Hand entgegen, die sie herzhaft schüttelte.

»Trägst du keinen Helm?« fragte sie erstaunt.

Er fuhr sich unwillkürlich durchs Haar.

»Ach so – wegen dem Roller! Nein, das tut hier kein Mensch!«

»Solltest du aber«, meinte Kati, nickte ihm zu und griff wieder nach ihrer Gießkanne.

»Man merkt’s doch immer gleich«, seufzte Christof.

»Was?«

»Wenn man eine Lehrerin vor sich hat!«

»Paß auf, daß ich dich nicht begieße!«

»Mit dem bißchen Wasser in dem Kännchen kannst du mich nicht schrecken! Außerdem muß ich sowieso jetzt duschen. Also, mach’s gut. Wenn du mich erreichen willst, brauchst du nur gegen deine Wohnzimmerwand zu hämmern. Oder in deinem Patio nach mir zu rufen. Wie heißt du überhaupt?«

»Kati.«

»Aus Bayern?«

»Nein, vom Niederrhein.«

»Na dann, Kati, adios und guten Start in Montelindo! Samstags um fünf ist bei mir Happy Hour. Würde mich freuen, dich zu sehen.«

»Was genau ist das?«

»Eine gute tropische Sitte. Drinks, Musik, nette Gesellschaft. Wird dir bestimmt gefallen. Ist ein guter Ausgleich zur strengen Schulordnung.«

Er warf seine staubigen blonden Haare zurück, grinste sie an und schob seinen Roller ins Haus.

Kopfschüttelnd kehrte Kati zu ihren Pflanzen zurück. Der war ja richtig verwildert, der Typ!

Und so was arbeitete in der Botschaft! Diplomaten, dachte Kati, habe ich mir immer ganz anders vorgestellt.

Den Abend verbrachte sie mit Eintragungen in ihr Tagebuch und einem langen Brief an ihre Eltern und Geschwister mit begeisterten Schilderungen ihrer neuen Umgebung.

Die Versuchung, auch an Achim zu schreiben, ging vorüber. Gott sei Dank. Schließlich war sie hier, um ihn zu vergessen. Zu tief hatte er sie enttäuscht.

Daran ließ sich im Nachhinein nichts mehr ändern, so sehr er es auch darauf anlegte.

Nein, sie wollte unerreichbar sein und bleiben, ihm keine Zeile schicken und vor allem keine Adresse.

»Vorbei ist vorbei!« sagte Kati laut in die Stille ihres Schlafzimmers, wo man die Musik aus dem Nachbarpatio nicht hören konnte.

Auf ihrem Bett liegend legte sie ein Vokabelheft an und notierte sich alle spanischen Wörter, die sie heute gehört hatte.

Am nächsten Morgen kam Serafina schon früh, zeigte Kati den eingebauten Safe hinter der Küche, gab ihr den Schlüssel und legte ihr nahe, alle Wertsachen einzuschließen.

Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu den kleinen Geschäften und dem großen Einkaufszentrum, wo es von Menschen wimmelte, dann überquerten sie die breite Straße, besuchten die schöne, kühle alte Kolonialkirche, in der gerade eine Taufe stattfand, und kehrten zurück in die vergleichsweise ruhige Umgebung der Wohnanlage mit den schmalen, von Araukarien gesäumten Wegen und den gepflegten Vordergärtchen.

Auf Anraten Serafinas hatten sie eine Tageszeitung gekauft, fast so dick wie ein Buch, mit vielen, leicht verschwommenen, bunten Bildern und unzähligen Anzeigen. Nichts, so erklärte Serafina, bringt einem Menschen die neue Heimat und die Umgangssprache so nahe wie die Tageszeitung. Noch effizienter erschien ihr das Fernsehprogramm, aber in Katis Behausung in der Caille Santa Trinidad Nummer 12 gab es aus unerfindlichen Gründen keinen Fernseher.

Nebenan, bei Don Christof, teilte Serafina ihrer neuen Schutzbefohlenen mit, könne sie, wenn sie wolle, sicher ab und zu wenigstens die Nachrichten sehen. Er nämlich habe sich einen Apparat gekauft, noch dazu einen tragbaren, der leicht überallhin mitzunehmen sei. Sogar an den Strand. Allerdings nicht auf einem Motorroller.

Aber manchmal verfüge Don Christof über ein Auto von der Botschaft. Sollte Kati etwas zu transportieren haben, würde er das sicher gern für sie erledigen.

Kati bedankte sich für die Information, hoffte jedoch zuversichtlich, ohne Don Christofs Hilfe auszukommen, jedenfalls vorläufig, und sah Serafina zu, die ein halbes Dutzend kleine grüne Bananen in einer großen Pfanne briet.

Sie schmeckten zuckersüß und waren so sättigend, daß Kati den Gemüseeintopf, der gleichzeitig fertig war, später in den Kühlschrank stellte für den nächsten Tag, den Sonntag, an dem Serafina frei hatte.

Abends um sechs Uhr landete ein Ping-Pong-Bällchen im Patio, das an die Happy Hour bei Nachbar Christof erinnerte, woraufhin sich Kati in einen langen Rock mit Bluse und Westchen warf und hinüberging. Sie fand ein kleines Grüppchen internationaler Jugend vor, bunte Vögel aus aller Herren Länder, die um acht Uhr abends loszogen zum Steak-Essen in einer Hazienda.

»Komm doch mit!« rief Christof.

Kati schüttelte entschieden den Kopf.

»Warum denn nicht?«

»Ich gehe doch nicht in ein Restaurant, wenn ich den ganzen Kühlschrank voll leckerer Sachen habe!«

Christof runzelte verdutzt die Stirn.

»Wenn du das so siehst, wirst du in Montelindo nie anderswo essen als zu Hause. Serafina wird dich immer mit allem versorgen! Sie ist eine Weltmeisterin im Kochen!«

Kati zuckte die Schultern, winkte der Gruppe zum Abschied zu und fiel im Hinausgehen fast über den Motorroller, der mitten im Wohnzimmer stand.

Höchste Zeit, daß ich hier wegkomme, dachte sie, ich bin ja schon leicht benebelt. Nach nur zwei Drinks! Aber die hatten es in sich! Meine Güte! Das scheint ja eine trinkfeste Bande zu sein! Im Vergleich dazu bin ich überhaupt nicht im Training!

In dieser Nacht schlief Kati so fest, daß sie weder die Rückkehr der feucht-fröhlichen Gesellschaft hörte noch die Klopfgeräusche an ihrer Wohnzimmerwand. Dafür war sie am Sonntagmorgen gegen acht Uhr so ausgeruht und munter, daß sie beschloß, in die Kirche zu gehen und eine Messe zu erleben. Anschließend, da alle Geschäfte offen waren, kaufte sie sich ein Eis, zwei kleine Brötchen und ein buntes Stirnband. Dann schlenderte sie gemächlich nach Hause.

*

»Hallo, Professora!« rief eine krächzende Stimme aus dem Nachbarpatio.

Kati, die reglos an ihrem runden Eßtisch über der aufgeschlagenen Zeitung saß, hob unwillig den Kopf.

»Nur der Ordnung halber«, gab sie knapp zurück, »ich bin Grundschullehrerin, nichts weiter!«

»Egal. Hier werden alle Lehrer mit Professor angesprochen. Warum bist du denn so grantig, hm? Du hast doch gar keinen Grund dazu!«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil du garantiert keinen Kater hast!«

»Du vielleicht?«

»Und ob! Ich habe mir gerade einen Tomatensaft mit Salz und Pfeffer gegönnt und einen heiligen Eid abgelegt!«

»Ach wirklich? Welchen denn?«

»Keinen Rum mehr zu kaufen, keine Cocktails mehr zu mischen und keine Happy Hour mehr zu veranstalten, zumindest keine, die länger als zwei Stunden dauert.«

»Ein löblicher Vorsatz! Wie oft hast du ihn schon gefaßt?«

»Mehrmals, ich gebe es zu, und meistens am Sonntag nach dem Aufwachen. Aber diesmal mache ich Ernst damit. Ehrlich. Sag mal, was treibst du eigentlich?«

»Ich lese die Zeitung.«

»Du hast nicht zufällig trockenes Brot im Haus?«

»Nur ein Brötchen und Toastbrot. Warum? Verträgt dein Magen nichts anderes?«

»Du sagst es.«

»Kommst du über die Mauer oder durch die Vordertür?«

»Frühsport steht heute nicht auf meinem Programm«, war die resignierte Antwort, »einen Klimmzug über die Zwei-Meter-Hürde würde ich auch gar nicht schaffen.«

»Schäm dich«, sagte Kati, stand auf und ging zur Vordertür.

Er trug pludrige bunte Baumwollhosen, ein ärmelloses rotes Shirt und ein Glas mit roter Flüssigkeit in der Hand.

»Aha, der Tomatensaft«, bemerkte Kati.

»Wenn ich ihn in deiner Gesellschaft trinken dürfte? Da schmeckt er zwar auch noch herb genug, aber so – ganz allein – kriege ich ihn überhaupt nicht runter«, murmelte Christof und schob sich durch die Tür.

Mit unverhüllter Neugier musterte er die winzigen Veränderungen, die Kati im Wohnzimmer vorgenommen hatte: eine dicke, blaue Kerze in einem Keramikleuchter stand auf der steinernen Fensterbank, zwei runde Kissen mit Sonnenmuster hellten das graue Sofa auf und eine kleine Fotosammlung in bunten Rahmen füllten das Ecktischchen.

»Du hast dich ja schon richtig häuslich eingerichtet«, stellte er anerkennend fest, »in zwei Tagen sieht es bei dir ja wirklich wohnlicher aus als bei mir nach zwei Jahren.«

»Ich brauche eben keinen Motorroller unterzubringen.«

»Richtig! Ich wünschte, ich hätte eine Garage! Wenn ich das Ding vor der Haustür abstelle, ist es binnen vierundzwanzig Stunden geklaut.«

»Na komm«, sagte Kati gnädig, »setz dich in mein Freiluft-Eßzimmer und iß ein trockenes Brötchen zu deinem schauderhaften Gemüsegebräu.«

Christof tat, wie ihm geheißen, schob die Zeitung beiseite und stellte sein Glas auf der blauen Tischdecke ab.

»Du kannst schon Spanisch lesen?«

»Mehr schlecht und recht. Serafina meint, es wäre eine gute Übung.«

»Ganz bestimmt. Aus dem gleichen Grund habe ich deutsche Illustrierten gelesen, bevor ich den Job in der Botschaft bekam.«

»Du mußtest Deutsch lernen, obwohl du Deutscher bist?« fragte Kati ungläubig.

Er rührte mit einem Strohhalm in seinem Glas, nahm das Brötchen entgegen und schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

»Das wird mir guttun. Nun, ich mußte es nicht eigentlich lernen, dafür sorgten meine Mutter und die Lehrer in der deutschen Schule. Aber ich mußte höllisch aufpassen, daß ich es nicht gleich wieder verlerne. So was geht schneller, als man denkt, wenn man hier zu Hause ist und Deutschland nur vom Hörensagen kennt. Verstehst du?«

Ja, das verstand Kati durchaus.

Sie füllte sich ein Glas Zitronenlimonade aus dem großen Krug, den Serafina bereitet hatte, und setzte sich zu Christof an den Tisch. »Hör mal«, begann sie mit verhaltener Stimme und schob ihm die aufgeschlagene Zeitung zu, »da du dich hier so gut auskennst – kannst du mir sagen, was das soll?«

Er trank seinen Tomatensaft aus, kniff die Augen zusammen, schüttelte sich und beugte sich über das Blatt.

Das Brötchen knabbernd studierte er die vier verschwommenen Kinderfotos und die dazugehörigen Textspalten, während Kati an ihrer Limonade nippte.

»Das sind die ausgesetzten Kinder dieser Woche«, sagte er langsam, »sie wurden auf den Stufen der Kolonialkirche gefunden, gleich da drüben.«

»Ich weiß, wo sie liegt, ich war heute morgen dort in der Messe! Aber Christof, das ist doch erschütternd! Darüber kann ich doch nicht einfach hinwegblättern! Sieh dir doch mal dieses Gesichtchen an! Diese Verzweiflung! Bei einem sechs Monate alten Kind! Das ist ja nicht auszuhalten!«

Christof seufzte, warf sein feuchtes, frischgewaschenes Blondhaar zurück und beugte sich wieder über die Zeitung.

»Miguel Lesanto«, las er halblaut. »Tatsächlich, da steht, daß er ein halbes Jahr alt ist.«

»Aber woher wissen sie, wie er heißt?«

»Sie wissen es nicht. Sie geben jedem Kind einen Namen, sobald es im Waisenhaus aufgenommen wird. Irgendwie müssen sie es schließlich nennen.«

»Ja, natürlich, das sehe ich ein. Mit der Veröffentlichung werden Familien für diese Kinder gesucht, nicht wahr?«

»Genau.«

»Und wie stehen die Chancen?«

»Keine Ahnung.«

»Na hör mal, so was mußt du doch wissen, wo du hier aufgewachsen bist. Da gibt es doch bestimmt irgendwelche Erfahrungswerte.«

Christof lehnte sich zurück und sah angestrengt vor sich hin.

»Kati«, sagte er schließlich, »frag mich, wieviel Hubraum ein Landrover hat, frag mich, wieviel Sprit ein Motorroller pro Kilometer verbraucht, aber frag mich nicht, welche Chancen dieses Kerlchen hat!«

Er trommelte mit dem Zeigefinger auf das verschwommene Foto des Kleinkinds namens Miguel Lesanto.

»Na gut«, gab Kati unwirsch zurück, »dann werde ich es eben anderswo herausfinden.«

»Warum denn nur?«

»Weil es mich interessiert. Weil es mir keine Ruhe läßt. Weil es mir wichtiger ist als dein Motorroller und dein Spritverbrauch.«

Sie zog die Zeitung unter seiner Hand weg und nahm sie an sich.

»Jeder hat seinen Tick«, murmelte Christof gedehnt, »schon mal was von Toleranz gehört, hm?«

Kati schwieg.

»Irgendwie«, sinnierte Christof, »bist du anders als die Mädchen, die ich kenne.«

»Ach wirklich?«

»Ja.«

»Inwiefern?«

»Du bist schwierig.«

»Jetzt hör aber auf! Ich bin der unkomplizierteste Mensch, den man sich vorstellen kann!«

»Hahaha!«

»Doch, das bin ich. Unkompliziert, jawohl. Aber nicht oberflächlich. Das sind zwei ganz verschiedene Begriffe! Die kann man nicht einfach verwechseln!«

»Entschuldige bitte, Professora«, sagte Christof belustigt, verwirrt und etwas verunsichert, »Ich bin nur ein ungeschliffener Auslandsdeutscher. Die Feinheiten hat mir niemand beigebracht, oder besser gesagt: ich war nicht besonders erpicht darauf. Meine Mutter hat sich wahrhaftig alle Mühe gegeben«, er lachte, griff nach seinem leeren Glas und stand auf, »aber mein Widerstand war stärker! Na dann, schönen Sonntag! Hast du was Bestimmtes vor?«

»Nein, nichts Besonderes. Morgen ist mein erster Arbeitstag, da will ich frisch und ausgeruht sein.«

»Viel Spaß«, lächelte Christof im Hinausgehen, »und laß dich nicht unterkriegen von den Kids!«

Kati schloß die Tür hinter ihm, legte die Zeitung wieder auf den Tisch, strich sie glatt und vertiefte sich in die Seite mit den Kinderbildern. Miguel war nicht einmal der Jüngste. Aber sein Anblick schnitt ihr besonders ins Herz. Den runden, kleinen Kopf zurückgeworfen, weinte er hemmungslos. Ein Bild der Verlassenheit. Es ging ihr so nahe, daß sie sein verzweifeltes Stimmchen zu hören glaubte.

Statt mich dermaßen niederdrücken zu lassen, sollte ich etwas unternehmen, dachte Kati, faltete die Zeitung zusammen und packte sie in die bunte Stofftasche, die sie am nächsten Morgen mit in die Schule zu nehmen gedachte.

*

Im Vergleich zu den Erstkläßlern, die Kati während ihrer Ausbildung kennengelernt hatte, waren die Sechsjährigen in der Deutschen Schule von Montelindo diszipliniert, aufmerksam und leicht zu lenken. Fremd und scheu fühlte sich keines, denn sie alle hatten bereits den Kindergarten besucht, die Umgebung war ihnen vertraut. Die neue junge Lehrerin erregte Neugier, aber keine Befangenheit.

Die Lehrpläne schienen keine nennenswerten Problemen zu bieten. Eher schon die Eltern, denen eine fremde junge Person suspekt erschien und die vertraute Erscheinung Angelika Knobels lieber gewesen wäre.

Aber darüber machte sich Kati kein Kopfzerbrechen. Mit den Kindern würde sie zurechtkommen, davon war sie überzeugt. Sie hatte schon nach den ersten Stunden ein gutes Gefühl, und ihr ausgezeichnetes Namensgedächtnis kam ihr zur Hilfe.

Mittags, beim gemeinsamen Imbiß, wurde sie von den Knobels einem halben Dutzend Kollegen und Kolleginnen vorgestellt, die nur zum kleinen Teil aus Deutschland stammten, sich jedoch brennend dafür interessierten. Am späten Nachmittag, als Kati ihre bunte Tasche schulterte, um nach Hause zu gehen, hatte sie bereits drei Einladungen zum Abendessen und eine weitere für ein Konzert.

Um nicht unhöflich zu erscheine, hatte sie überall zugesagt und sich vorgenommen, einen Terminkalender zu führen.

Die Zeitung knisterte in der Tasche, aber es sollte noch eine Weile dauern, bis Kati eingehend mit jemandem darauf zu sprechen kommen konnte.

Serafina, bei der sie es am selben Tag versuchte, nickte nur bekümmert vor sich hin und meinte, es sei eine Schande, daß Kinder ausgesetzt würden. Selbst wenn es aus Not geschähe, eine Schande bliebe es trotzdem.

Soviel sie wisse, fänden nur die wenigsten Aufnahme in einer Familie. Nicht etwa, weil die Leute in Montelindo so hartherzig wären, ganz im Gegenteil. Aber die meisten könnten die Bedingungen nicht erfüllen, die an eine Adoption geknüpft seien. Man müsse ein festes Einkommen nachweisen, eine ausreichend große Wohnung und viele andere materielle Dinge, damit so ein armer Wurm nicht vom Regen unter die Traufe geriete. An diesen gußeisernen Bedingungen scheitere so manches Begehren potentieller Eltern, fügte Serafina traurig hinzu, um sich gleich wieder den Tagesproblemen zuzuwenden.

»Sie haben ja ihr ganzes Geschirr gespült«, bemerkte sie vorwurfsvoll, »das sollten Sie nicht tun, Senorita!«

»Nennen Sie mich Katharina«, bat Kati, »und gewöhnen Sie sich daran, daß ich mein Geschirr abwasche, wann immer ich Zeit dafür habe.«

»Sie sollten sich mit anderen Dingen beschäftigen«, murmelte Serafina kopfschüttelnd, »so, wie die deutschen Männer. Don Christof zum Beispiel«, ihre Stimme klang wohlgefällig, »hat noch nie ein Glas gespült, noch nie!«

»Don Christof hat auch nie in Deutschland gelebt«, erwiderte Kati kurz, »und wenn er es täte, er würde sich wundern!«

Den nächsten Vorstoß machte sie bei den Knobels. Nach dem Klavierkonzert in der Aula der Universität, zu dem das gesamte Kollegium eingeladen war, traf man sich in der Mensa, wo auf langen Tischen ein bescheidenes Büffet aufgebaut worden war.

»Nehmen Sie eine dieser spanischen Omeletten«, empfahl Angelika Knobel, »sie sind mit Bratkartoffeln gefüllt und wunderbar gewürzt, erinnern mich immer an ein deutsches Bauernfrühstück.«

Kati bediente sich rasch und reichlich.

Es war fast Mitternacht. Seit einer Ewigkeit hatte sie nichts Vernünftiges mehr zu sich genommen. Taumelnd vor Hunger folgte sie Frau Knobel zu einer tiefen Fensternische.

»Ja, an die späten Abendessenszeiten in Montelindo muß man sich erst gewöhnen«, bemerkte die Frau des Schulleiters mitfühlend.

»Kann man das?« fragte Kati zweifelnd.

Angelika Knobel wiegte schmunzelnd den schmalen Kopf.

»Wir nicht«, gestand sie, »mein Mann und ich haben jeden Abend um sieben Uhr unsere Hauptmahlzeit, auch dann, wenn wir zu einem großen Essen gehen. Anfangs wußten wir noch nicht, daß ein Abendessen in Montelindo nicht vor elf Uhr serviert wird, obwohl man für acht Uhr eingeladen ist. Das Essen ist der Abschluß einer jeden Abendeinladung. Die Gäste verabschieden sich, sobald sie den letzten Bissen heruntergeschluckt haben, und das geschieht nie vor Mitternacht.«

»Gut, daß Sie mir das sagen«, murmelte Kati, »von jetzt an esse ich auch um sieben Uhr zu Hause. Ich habe diese Woche noch ein paar Einladungen vor mir, die ich sonst gar nicht überstehen würde.«

Angelika Knobel lachte.

»Ich finde, Sie leben sich erstaunlich schnell ein. Keine Magenbeschwerden, keine Kreislaufprobleme. Sie sind eben noch jung und frisch! Beneidenswert!«

»Warten wir’s ab«, murmelte Kati, deren Magen soeben schmerzlich zu drücken begann, »ich merke schon, daß ich es mir nicht oft leisten kann, stundenlang den Hunger zu übergehen und mich dann so vollzustopfen wie jetzt.«

»Trinken Sie einen Schluck Kokosmilch«, riet die erfahrene Frau Knobel, »Nichts besänftigt die Magennerven besser. Mein Mann schwört darauf als Schlaftrunk – mit oder ohne einen Schuß Rum. Gefällt Ihnen das Häuschen in der Caille Trinidad?«

»Ich habe noch nie so komfortabel gewohnt«, erwiderte Kati wahrheitsgemäß, »ich komme mir richtig privilegiert vor. Genau das macht mir auf der anderen Seite auch wieder zu schaffen.«

»Auf welcher Seite?«

»Also«, begann Kati, holte tief Luft und sprudelte ihre ganze Reaktion auf die Zeitung vom Wochenende hervor, auf die Seite mit den Fotos der ausgesetzten Kleinkinder, die Verzweiflung im Gesichtchen des kleinen Miguel, alles, was ihr so bedrückend erschien.

Angelika Knobel hörte ruhig zu.

»Ja, die Probleme dieser Länder lassen sich nicht verbergen«, sagte sie schließlich, »wer hier lebt, wird damit konfrontiert. Viele bringen es fertig, darüber hinwegzusehen. Uns hat das Elend auch immer belastet, von Anfang an.«

»Was kann man tun?« fragte Kati eifrig.

»Zunächst einmal darf es nicht nach Einmischung aussehen«, erklärte Frau Knobel eindringlich, »was auch immer man unternimmt – es muß sorgfältig bedacht und abgewogen werden. Die Menschen hier sind außerordentlich empfindlich, und so manche gute Tat kam nicht zustande, weil sie als Besserwisserei aufgefaßt wurde. Im Falle der Kinder, die Ihnen so zu Herzen gehen, wüßte ich auch gar nicht, wo man ansetzen könnte. Warten Sie mal«, Angelika Knobel richtete sich auf und ließ den Blick über die wogende Menge schweifen, »vorhin habe ich Dona Herta gesehen, aber sie scheint schon wieder gegangen zu sein.«

»Wer ist das?«

»Eine deutsche Dame älteren Jahrgangs, sozusagen eine Institution in Montelindo. Sie verwaltet sämtliche Hilfsfonds und hat daher eher Zugang zu den verschiedenen Einrichtungen, wahrscheinlich auch zum Waisenhaus. Schade, daß sie schon weg ist. An sie heranzukommen ist schwer, denn abgesehen davon, daß sie viel zu tun hat, ist sie auch sehr zurückhaltend. Nun, vielleicht gelingt es uns trotzdem, sie bei nächster Gelegenheit einmal anzusprechen.«

Kati nickte, obwohl das alles nicht besonders zuversichtlich klang und die Aussicht, Dona Herta jemals zu Gesicht zu kriegen, eher gering schien.

Solange warte ich gar nicht, dachte Kati und trank ihren Becher Kokosmilch aus, am Samstag, wenn ich frei habe, kaufe ich ein paar Sächelchen und nehme mir ein Taxi ins Waisenhaus. Es wird ja wohl nicht verboten sein, den Kindern etwas zu schenken.

Angelika Knobel nahm ihren leeren Teller von der Fensterbank und sah Kati prüfend an, so, als könne sie Gedanken lesen.

»Die Leiterin des Waisenhauses heißt Dona Dolores«, sagte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme, »man sagt allgemein, mit ihr sei wirklich nicht gut Kirschen essen.«

Kati rückte verlegen ihr Stirnband zurecht. Was war nur mit ihr los? Seit wann sah man ihr an, was sie dachte?

Zu ihrer Erleichterung näherte sich vom Büffet her ihr Chef, Erich Knobel, der demonstrativ auf seine Armbanduhr zeigte.

»Um acht Uhr fängt die erste Stunde an«, raunte er, ein paar Studenten beiseite schiebend, »Angelika, wir gehen! Und Sie, Katharina, nehmen wir mit!«

*

»Keine Happy Hour heute«, erklärte Christof, der in seinen pludrigen bunten Baumwollhosen vor seinem Roller auf den Knien lag und mit einem Schraubenzieher hantierte, »es ist zwar Samstag, aber ich habe keine Zeit.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Kati, ihre Blumen im Vordergärtchen gießend.

»Morgen könnte ich dir eine Fahrt an den Strand bieten«, kam seine Stimme gepreßt unter dem Schutzblech hervor, »vorausgesetzt, daß ich die Mühle heute noch in Schwung bringe.«

»Nett von dir, vielen Dank, aber ich habe noch jede Menge zu tun.«

»Hast du kein Vertrauen zu mir?«

»Doch, aber nicht zu deinem Roller.«

»Puuuh«, machte Christof und blies sich die Haare aus der Stirn, »ist das heiß heute! Ich gäbe was drum, jetzt ins Meer springen zu können! Oder wenigstens in einen Swimming-Pool. Ich nehme an, du hast eine entsprechende Einladung.«

»Was für eine Einladung?«

»Zu einer Pool-Party irgendwo bei deinen Kollegen.«

»Was du für Ideen hast!« wunderte sich Kati.

»Also nicht?«

»Nein, wirklich nicht.«

Sekundenlang war sie versucht, ihn in ihren Plan einzuweihen, aber dann sah sie davon ab.

Etwas später, als sie mit ihrer Reisetasche das Haus verließ und zum Taxistand ging, war er mitsamt seinem Roller verschwunden.

Das Waisenhaus lag im heißen, brodelnden Zentrum der Stadt, wo der Verkehr ins Stocken geriet, weil die Straßen von Menschen wimmelten, wo ahnungslose Fremde sich bedrängt und bedroht fühlten, wo nichts an die hübschen, mit schattigen Bäumen bestandenen Straßen erinnerte, die es im höher gelegenen Stadtteil gab.

Auch das Waisenhaus hatte absolut nichts gemeinsam mit den freundlichen, ebenerdigen, weitläufigen Anlagen der Deutschen Schule.

Es war ein würfelförmiger, alter Bau, vormals ein Regierungsgebäude, das an einem großen Platz lag, Tag und Nacht umbrandet vom Kreisverkehr: klapprige Busse, Laster, Motorräder, Taxis und Schrottfahrzeuge aller Art knatterten, qualmten, dröhnten und hupten um die Wette.

Zwei staubige Palmen flankierten den Eingang, von dessen einstiger Pracht nur noch ein Rundbogen zeugte. Darauf stand in abblätternder Goldschrift: Casa de Santa Monica.

Kati drückte dem Taxifahrer das Geld in die Hand und schwenkte energisch die Reisetasche, gefüllt mit Babysachen, auf die flachen Stufen der ehemaligen Freitreppe.

Aufatmend blieb sie stehen und legte sich ihr Sprüchlein auf Spanisch zurecht, als sich das altersschwache Portal wie von Geisterhand öffnete und eine krächzende Stimme sie darauf hinwies, daß die Bushaltestelle sich drei Häuser weiter befinde.

»Aber ich will nicht zum Bus«, beeilte sich Kati zu versichern, »ich will ins Waisenhaus.«

»Warum?«

»Nur einen Besuch machen – ich habe ein paar Geschenke mitgebracht.«

Ein zerknittertes braunes Gesicht erschien, eine knochige alte Hand streckte sich Kati entgegen.

»Geben Sie die Sachen her!«

»Nein«, sagte Kati, hob die Tasche von der Stufe und preßte sie an sich zum Zeichen ihrer Entschlossenheit.

»Was ist da draußen los, Pilar?« rief eine ungeduldige spanische Stimme aus dem dunklen Hintergrund.

»Jemand will herein.«

»Wer ist es?«

»Eine Dame, eine Fremde —«

Schritte erklangen, und eine hagere schwarz gekleidete Person unbestimmbaren Alters starrte Kati mißtrauisch aus zusammengekniffenen Augen an.

»Was wünschen Sie, Senora?«

»Ich komme von der deutschen Schule«, erklärte Kati, der eine innere Stimme plötzlich zu einer anerkannten Legitimation riet, »wir haben einige Sachen gesammelt für die Kinder hier – mein Spanisch ist leider noch sehr schlecht – entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich nicht richtig ausdrücke.«

Die schwarz gekleidete Frau im Türrahmen machte eine nervöse Handbewegung. Ihre abweisende Miene wurde um einen Schein freundlicher.

»Schon gut. Wir haben öfters mit Deutschen zu tun. Falls Dona Herta Sie geschickt hat – eine Wohltäterin unseres Hauses.«

»Oh, Dona Herta«, wiederholte Kati, sich an den Namen klammernd wie an einen Strohhalm, »und Dona Angelika Knobel und Don Erich…«

»Kenne ich nicht«, unterbrach die nervöse Person, von der Kati annahm, daß sie die Leiterin des Waisenhauses war, Dona Dolores, vor der Frau Knobel sie gewarnt hatte, »wenn Sie mir jetzt die Spende aushändigen würden – oder brauchen Sie eine Quittung?«

»Nein, das nicht, aber die Tasche müßte ich wieder mitnehmen.«

»Kommen Sie herein«, sagte Dona Dolores ungnädig, »und warten Sie hier! Pilar«, sie drehte sich um, »geh einen Korb holen!«

Die kleine Alte tauchte auf und verschwand wie ein Spuk.

In die geflieste dämmerige Halle fiel nur wenig Licht. Es war kühl und gruftig. Kati fröstelte, wartete und sah sich verstohlen um. Hinter zwei halb offenen Türen erspähte sie ein Kinderbettchen neben dem anderen. Außer einem gelegentlichen Wimmern und Räuspern war nichts zu hören.

»Wir halten gerade unsere Siesta«, sagte Dona Dolores und huschte über die Fliesen, um beide Türen mit Nachdruck zu schließen.

»Darf man die Kinder nicht besuchen?« fragte Kati halblaut in die unnatürliche Stille.

»Nur in besonderen Fällen«, erwiderte Dona Dolores, »und auch dann nur nach Vereinbarung. Sehen Sie«, ihre Stimme senkte sich, »wenn wir die Regel lockern würden, gäbe das zuviel Unruhe. Ein ständiges Kommen und Gehen täte weder den Kindern noch dem Personal gut. Dona Herta kennt ja die Grenzen, die uns gesetzt sind.«

Die kleine Alte schlurfte wieder herbei, stellte einen Korb auf den Boden und füllte den Inhalt der Reisetasche hinein.

»Sie haben ja lauter neue Sachen gebracht«, bemerkte Dona Dolores stirnrunzelnd.

»Ja, zum Anziehen für Babys zwischen sechs und neun Monaten.«

»Sagten Sie nicht, Sie hätten sie gesammelt?«

»Wir – nun, wir haben dafür zusammengelegt«, stammelte Kati und tat so, als verstünde sie nur die Hälfte, und Dona Dolores Miene besagte, daß sie es ihr auch nur zur Hälfte glaubte.

»Nun, wie auch immer«, sagte sie steif, »wir danken Ihnen im Namen der Kinder von Santa Monica. Grüßen Sie Dona Herta von mir.« Damit öffnete sie die schwere Eingangstür und fügte unmißverständlich hinzu: »Adios, Senora, kommen Sie gut wieder nach Hause!«

Alte Hexe! dachte Kati, die Tasche wütend schwenkend. Keinen einzigen Blick auf die Kleinen hat sie mir gegönnt! Na warte! Vielleicht geschieht ja noch ein Wunder, und ich lerne hochgestellte Persönlichkeiten von großem Einfluß kennen, vor denen sich diese Türen wie von selbst öffnen.

An diesem Gedanken berauschte sie sich nur so lange, bis ihr Dona Herta einfiel, deren Namen sie soeben mißbraucht hatte.

Du lieber Gott! Wenn die zickige Dolores nun auf die Idee kam, sich bei Dona Herta nach einer gewissen jungen Deutschen zu erkundigen, die sozusagen in ihrem Auftrag Babyklamotten abgeliefert hatte!

Wer weiß, welche Mißverständnisse sich daraus entwickeln konnten!

Da gehe ich niemehr hin, dachte Kati, das abweisende Gebäude mit einem letzten Blick umfassend, bevor sie in ein klappriges Taxi stieg. Aber dann fiel ihr Miguel ein, sein kleines verweintes Gesicht, sein verzweifelt zurückgeworfenes Köpfchen, und sie knallte die Tasche auf den Rücksitz, knirschte mit den Zähnen und gab einen trotzigen Laut von sich.

Der Fahrer sah sich erstaunt nach ihr um.

So leicht lasse ich mich nicht unterkriegen! dachte Kati und beugte sich über die schmuddelige Lehne. »Ich möchte in die Caille Trinidad Nummer zwölf. Kennen Sie übrigens das Waisenhaus? Waren Sie da schon einmal drin?«

»Ach ja, Senora«, er lächelte melancholisch und gab Gas, »lange genug. Von meinem dritten bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr!«

*

»Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte Dona Dolores mit bebender Stimme, »ich habe es sofort gemerkt! Diese junge Deutsche kam mir verdächtig vor!«

»Und sie hat sich wirklich auf mich berufen?« fragte Herta Hersfeld zweifelnd.

»Ja, so wahr ich hier stehe! Es ist erst eine halbe Stunde her. Sie hatte diesen scharfen, kontrollierenden Blick, den sie durch den Türspalt ins Babyzimmer wandern ließ. Sie wissen ja, wie sehr ich mich vorsehen muß. Es gibt immer undurchsichtige Elemente, die sich an unsere Kinder heranmachen. Der Menschenhandel blüht nach wie vor, auch wenn einzelne Fälle nicht mehr bekannt werden.«

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte Herta Hersfeld und angelte nach ihrer Kaffeetasse, »aber da die junge Frau sich so ungeschickt verhalten hat, besteht die Hoffnung, daß sie nicht viel kriminelles Potential besitzt. Trotzdem werde ich der Sache nachgehen, Dona Dolores. Sie können sich darauf verlassen.«