Erster Teil

Inhalt

Erstes Kapitel
      Zweites Kapitel
      Drittes Kapitel
      Viertes Kapitel
      Fünftes Kapitel
      Sechstes Kapitel
      Siebentes Kapitel
      Achtes Kapitel
      Neuntes Kapitel
      Zehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhalt

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII

I

Ich habe dem Drange nicht widerstehen können, mich hinzusetzen und diese Geschichte meiner ersten Schritte auf der Lebensbahn aufzuzeichnen, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre. Aber eines weiß ich ganz genau: um meine ganze Lebensgeschichte zu schreiben, werde ich mich niemals mehr hinsetzen, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Man muß doch gar zu sehr in sich selbst verliebt sein, um von sich selbst zu schreiben, ohne sich zu schämen. Ich entschuldige mich nur damit, daß ich nicht in der Absicht schreibe, in der es alle anderen tun, nämlich um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich mich plötzlich dazu entschlossen habe, alles, was mir im letzten Jahr begegnet ist, eingehend niederzuschreiben, so habe ich es infolge eines inneren Bedürfnisses getan: einen so starken Eindruck hat alles Geschehene auf mich gemacht. Ich werde nur die Ereignisse verzeichnen und alles fremde Beiwerk, namentlich schriftstellerische Finessen, möglichst vermeiden; so ein Schriftsteller schreibt dreißig Jahre lang und weiß zuletzt gar nicht, wozu er eigentlich so lange geschrieben hat. Ich aber bin kein Schriftsteller und will kein Schriftsteller sein, und ich würde es für eine Unschicklichkeit und für eine Gemeinheit halten, wenn ich das Innerste meiner Seele und meine besten Empfindungen auf den Büchermarkt schleppte. Zu meinem Verdruß ahnt mir aber, daß es doch wohl nicht ganz ohne Schilderung von Empfindungen und ohne Reflexionen (vielleicht sogar von trivialer Art) abgehen wird: so sittenverderbend wirkt auf den Menschen eine jede literarische Tätigkeit, auch wenn er sie nur für sich ausübt. Die Reflexionen aber werden vielleicht sogar einen sehr trivialen Eindruck machen, weil das, was man selbst für wertvoll hält, in den Augen eines Fremden leicht wertlos erscheint. Aber lassen wir das alles abgetan sein! Nun habe ich doch eine Vorrede geschrieben; weiter soll aber nichts mehr in diesem Genre vorkommen. Zur Sache also, obgleich nichts schwieriger ist, als zur Sache zu kommen – vielleicht auf allen Gebieten.

II

Um Geld zu bitten, ist eine höchst widerwärtige Geschichte, und das gilt sogar für ein Gehalt, wenn man in den innersten Falten des Gewissens fühlt, daß man es nicht ganz verdient hat. Indessen hatte tags zuvor meine Mutter in einem Gespräch, das sie im Flüsterton, ohne Wissen Wersilows (»um Andrej Petrowitsch nicht zu erzürnen«), mit meiner Schwester führte, die Absicht ausgesprochen, ein Heiligenbild zu verpfänden, das ihr aus irgendeinem Grund besonders teuer war. Mein Monatsgehalt sollte fünfzig Rubel betragen; aber ich wußte gar nicht, auf welche Weise ich es erhalten würde; bei meiner Anstellung war mir darüber nichts gesagt worden. Als ich drei Tage vorher unten mit dem Beamten zusammengetroffen war, hatte ich mich bei ihm erkundigt, an wen man sich hier wegen seines Gehalts zu wenden habe. Dieser sah mich mit einem erstaunten Lächeln an (er konnte mich nicht leiden) und erwiderte:

»Bekommen Sie denn ein Gehalt?«

Ich dachte, er würde nach meiner bejahenden Antwort sagen: ›Wofür denn eigentlich?‹

Aber er antwortete nur trocken, er wisse nichts darüber, und steckte die’Nase wieder in sein liniiertes Buch, in das er aus irgendwelchen Papieren Rechnungsposten eintrug.

Es war ihm übrigens wohlbekannt, daß ich denn doch dies und das getan hatte. Zwei Wochen vorher hatte ich volle vier Tage über einer Arbeit gesessen, die er selbst mir übergeben hatte; angeblich handelte es sich nur darum, von einem Konzept eine Reinschrift anzufertigen; es stellte sich aber heraus, daß fast eine vollständige Umarbeitung nötig war. Es war dies ein ganzer Haufen von »Gedanken« des Fürsten, die er dem Komitee der Aktionäre einzureichen beabsichtigte. Hieraus mußte ein abgerundetes Ganzes hergestellt werden, und auch der Stil bedurfte der Verbesserung. Der Fürst und ich saßen nachher einen ganzen Tag lang über diesem Schriftstück, und er disputierte mit mir sehr hitzig, äußerte aber doch seine Zufriedenheit; ich weiß nur nicht, ob er sein Expose auch wirklich eingereicht hat. Die zwei, drei Briefe, ebenfalls geschäftlichen Inhalts, die ich auf Bitten des Beamten geschrieben hatte, will ich gar nicht erwähnen.

Um mein Gehalt zu bitten war mir auch deswegen unangenehm, weil ich bereits vorhatte, meine Stelle aufzugeben, da ich ahnte, daß zwingende Umstände mich nötigen würden, von hier fortzugehen. Als ich an jenem Morgen aufwachte und mich oben in meiner Kammer anzog, fühlte ich, daß mir das Herz heftig schlug, und obgleich ich mir vornahm, mich um nichts zu scheren, verspürte ich dennoch, als ich das Haus des Fürsten betrat, wieder dieselbe Erregung: an diesem Vormittag mußte jene Person, jene Frau eintreffen, von deren Anwesenheit ich eine Aufhellung all der Zweifel, die mich quälten, erwartete. Dies war die Tochter des Fürsten, jene Generalin Achmakowa, die junge Witwe, von der ich schon gesprochen habe, Wersilows erbitterte Feindin. Endlich habe ich diesen Namen hergeschrieben! Ich hatte sie allerdings noch nie gesehen und konnte mir keine Vorstellung machen, ob überhaupt und wie ich mit ihr reden würde; aber ich glaubte (und dazu hatte ich vielleicht ausreichende Gründe), daß mit ihrer Ankunft sich der dunkle Nebel lichten würde, der Wersilow in meinen Augen umgab. Ich vermochte nicht ruhig zu bleiben: ich ärgerte mich sehr, daß ich gleich beim ersten Schritt so kleinmütig und linkisch war; ferner befand ich mich in gespannter Erwartung, und vor allen Dingen war mir die Sache höchst widerwärtig, – so kamen drei verschiedene Empfindungen zusammen. Ich erinnere mich an diesen ganzen Tag auf das allergenaueste!

Daß seine Tochter wahrscheinlich an diesem Tag ankommen würde, wußte mein Fürst noch nicht, er erwartete ihre Rückkehr erst ungefähr in einer Woche. Ich hatte es tags zuvor ganz zufällig erfahren: Tatjana Pawlowna, die von der Generalin einen Brief erhalten hatte, beging, während ich im Zimmer war, im Gespräch mit meiner Mutter eine Unvorsichtigkeit. Sie flüsterten zwar nur miteinander und redeten in Andeutungen, aber ich erriet es doch. Selbstverständlich horchte ich nicht; aber ich konnte nicht umhin, weiter hinzuhören, als ich sah, in welche Aufregung meine Mutter bei der Nachricht von der Ankunft dieser Frau plötzlich geriet. Wersilow war nicht zu Hause.

Dem alten Herrn wollte ich keine Mitteilung machen, da mir die ganze Zeit über nicht hatte entgehen können, wie sehr er sich vor ihrer Ankunft fürchtete. Er hatte sich sogar drei Tage vorher die Bemerkung entschlüpfen lassen, allerdings nur schüchtern und andeutungsweise, er fürchte ihre Ankunft meinetwegen, das heißt, er fürchte, daß es ihm um meinetwillen schlimm ergehen werde. Ich muß indes hinzufügen, daß er seiner Familie gegenüber seine Selbständigkeit und seine Stellung als Oberhaupt doch zu wahren wußte, besonders was die Verwendung des Geldes anlangte. Ich hatte mir anfänglich über ihn die Vorstellung gebildet, daß er einfach ein altes Weib sei; aber später mußte ich meine Ansicht doch insofern korrigieren, als ich einsah, daß ihm, wenn er auch ein altes Weib war, doch wenigstens manchmal eine gewisse Hartnäckigkeit, wenn nicht gar Mannhaftigkeit verblieben war. Es kamen Zeiten vor, wo mit ihm trotz seines anscheinend ängstlichen und nachgiebigen Charakters fast nichts anzufangen war. Wersilow hat mir dafür später eine eingehende Erklärung gegeben. Ich erwähne noch die interessante Tatsache, daß der Fürst und ich fast nie miteinander von der Generalin gesprochen hatten, wir schienen es beide zu vermeiden: besonders ich vermied es, sie zu erwähnen, und er seinerseits vermied es, von Wersilow zu sprechen, so daß ich mir mit aller Bestimmtheit sagte, daß er mir keine Antwort geben würde, wenn ich es wagen sollte, ihm eine der heiklen Fragen, die mich so sehr interessierten, vorzulegen.

Wenn aber jemand fragen sollte, worüber wir beide denn nun diesen ganzen Monat lang miteinander gesprochen hatten, so antworte ich: über alles mögliche, aber immer über einigermaßen sonderbare Themen. Sehr gut gefiel mir die außerordentliche Offenherzigkeit, die er im Verkehr mit mir an den Tag legte. Manchmal sah ich diesen Menschen höchst erstaunt an und fragte mich: >Wo hat denn der früher seinen Posten gehabt? Der hätte doch ausgezeichnet in unser Gymnasium hineingepaßt, etwa in die vierte Klasse, - da wäre er ein prächtiger Kamerad gewesen!< Auch über sein Gesicht wunderte ich mich oft: es wirkte äußerlich sehr ernst (übrigens beinahe schön) und kühl; das dichte graue Haar etwas lockig, der Blick der Augen offen, die ganze Gestalt hager, jedoch gut gewachsen; aber sein Gesicht hatte die unangenehme, beinah unschickliche Eigenheit, sich auf einmal aus einem sehr ernsten in ein übermäßig lustiges zu verwandeln, so daß, wer zum erstenmal mit ihm zu tun hatte, dies in keiner Weise erwartet hätte. Ich redete darüber mit Wersilow, der mir interessiert zuhörte; er schien nicht vermutet zu haben, daß ich imstande sei, solche Beobachtungen zu machen, und bemerkte so obenhin, das habe sich bei dem Fürsten erst nach seiner Krankheit herausgebildet und eigentlich erst in der allerletzten Zeit.

Namentlich redeten wir über zwei abstrakte Themen: erstens über Gott und sein Dasein, das heißt, ob er existiert oder nicht, und zweitens über die Frauen. Der Fürst war sehr religiös und gefühlvoll. In seinem Arbeitszimmer hing ein großer Heiligenschrein mit einem Lämpchen davor. Aber mitunter bekam er eine plötzliche Anwandlung und begann dann auf einmal, am Dasein Gottes zu zweifeln und ganz wunderliche Dinge zu reden, wobei er mich offenbar zu einer Erwiderung herausforderte. Diese Idee ließ mich im allgemeinen ziemlich kalt; aber dennoch gerieten wir beide dabei immer in Eifer, und das ganz aufrichtig. Überhaupt erinnere ich mich an alle diese Gespräche auch jetzt noch mit Vergnügen. Am liebsten aber plauderte er über die Frauen, und da ich; infolge meiner Abneigung gegen Gespräche über dieses Thema, hierbei nicht sehr unterhaltsam war, so verstimmte ihn das manchmal sehr.

Und gerade an diesem Morgen begann er, kaum daß ich eingetreten war, ein derartiges Gespräch. Ich traf ihn in heiterer Stimmung, während er tags zuvor, als ich ihn verließ, aus irgendeinem Grund sehr traurig gewesen war. Indessen mußte ich unbedingt noch an diesem Tag die Gehaltsfrage erledigen, ehe noch gewisse Personen ankamen. Nach meiner Berechnung müßten sie an diesem Tag bestimmt unser Gespräch durch ihre Ankunft unterbrechen (mein Herzklopfen hatte schon seinen guten Grund), und dann kam ich vielleicht nicht mehr dazu, von dem Geld anzufangen. Aber da ich es nicht fertigbrachte, die Geldfrage anzuregen, so ärgerte ich mich natürlich über meine Dummheit, und in meinem Verdruß über eine gar zu vergnügte Frage des Fürsten setzte ich ihm, wie ich mich heute noch deutlich erinnere, meine Ansichten über die Frauen in einem unhemmbaren Erguß und mit großer Heftigkeit auseinander. Die Folge davon war, daß er sich noch mehr amüsierte, und zwar auf meine Kosten.

Sechstes Kapitel

Inhalt

I
II
III

I

Ich bitte noch einmal, nicht zu vergessen, daß es mir ein bißchen im Kopfe summte; wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte ich anders geredet und gehandelt. In diesem Ladengeschäft konnte man in einem Hinterzimmer tatsächlich Austern essen, und wir setzten uns an ein mit einem widerwärtig schmutzigen Tuch gedecktes Tischchen. Lambert ließ Champagner bringen; das Glas mit dem kalten, goldfarbenen Wein stand vor mir und sah mich verführerisch an, aber ich war ärgerlich.

»Siehst du, Lambert, vor allen Dingen beleidigt es mich, daß du denkst, du könntest mir jetzt noch so befehlen wie ehemals bei Touchard, während du doch hier selbst der gehorsame Diener aller möglichen Leute bist.«

»Schafskopf! Na, laß uns anstoßen!«

»Du hältst es nicht einmal für nötig, dich vor mir zu verstellen; du solltest es wenigstens zu verheimlichen suchen, daß du mich betrunken machen willst.«

»Du schwatzt Unsinn und bist schon betrunken. Nun mußt du noch mehr trinken, dann wirst du lustig werden. Nimm doch dein Glas, nimm es doch!«

»Was hießt hier: ›Nimm es doch!‹ Ich gehe weg, und damit abgemacht.«

Ich stand wirklich auf.

Er wurde furchtbar zornig.

»Das hat dir Trischatow in den Kopf gesetzt: ich habe es gesehen, wie ihr da zusammen flüstertet. Du benimmst dich wie ein Schafskopf. Alfonsina ekelt sich sogar, wenn er bloß in ihre Nähe kommt … Er ist ein Scheusal. Ich werde dir erzählen, was er für ein Mensch ist.«

»Das hast du schon mal gesagt. Du immer mit deiner Alfonsina; du bist furchtbar beschränkt.«

»Beschränkt?« wiederholte er; er hatte nicht verstanden, was ich meinte. »Sie sind jetzt zu dem Pockennarbigen übergegangen. Das ist’s. Deswegen habe ich ihnen den Laufpaß gegeben. – Das sind ehrlose Gesellen. Dieser Pockennarbige ist ein Bösewicht und verdirbt sie. Ich dagegen habe verlangt, daß sie sich immer anständig benehmen sollen.«

Ich setzte mich wieder hin, ergriff mechanisch das Glas und trank einen Schluck.

»Ich stehe an Bildung unermeßlich hoch über dir«, sagte ich. Aber er freute sich viel zu sehr darüber, daß ich mich wieder hingesetzt hatte, und goß mir gleich noch Wein zu.

»Aber du hast ja Angst vor denen«, fuhr ich fort, ihn zu hänseln (ich war in dem Augenblick gewiß garstiger als er selbst). »Andrejew hat dir den Hut vom Kopf geschlagen, und du hast ihm dafür fünfundzwanzig Rubel gegeben.«

»Ich habe sie ihm gegeben, aber er wird es mir büßen. Sie rebellieren, aber ich werde sie schon kleinkriegen …«

»Du regst dich sehr über den Pockennarbigen auf. Aber weißt du, mir scheint, daß ich jetzt der einzige bin, der dir geblieben ist. Alle deine Hoffnungen beruhen jetzt ausschließlich auf mir – nicht?«

»Ja, Arkaschka, so ist es: du bist der einzige Freund, der mir geblieben ist; das hast du schön gesagt!« erwiderte er und klopfte mir auf die Schulter.

Was sollte man mit einem so ungehobelten Menschen anfangen. Er war völlig ungebildet und sah meinen Spott als Lob an.

»Du könntest mir aus einer üblen Lage heraushelfen, wenn du dich als guter Kamerad zeigen wolltest, Arkadij«, fuhr er, mich freundlich anblickend, fort.

»Wodurch könnte ich dir helfen?«

»Du weißt selbst, womit. Du würdest ohne mich wie ein Schafskopf handeln und die Sache sicherlich sehr ungeschickt angreifen, aber ich würde dir zu dreißigtausend Rubeln verhelfen, die wir uns teilen würden; du weißt selbst, wie sich das machen läßt. Na, überlege mal, was du eigentlich bist: du hast nichts, weder einen Namen noch eine Familie. Aber da bekommst du auf einen Schlag einen ganzen Haufen Geld, und wenn du soviel Geld hast, kannst du eine großartige Karriere machen!«

Ich war geradezu erstaunt über ein solches Vorgehen von seiner Seite. Ich hatte bestimmt erwartet, er würde List anwenden, aber statt dessen benahm er sich mir gegenüber mit einer solchen Offenheit, mit einer solchen jungenhaften Offenheit. Ich beschloß, ihn anzuhören, teils aus Großzügigkeit, teils … aus schrecklicher Neugier.

»Siehst du, Lambert, du verstehst das nicht, aber ich bin bereit, dich anzuhören; weil ich die Sache großzügig betrachte«, erklärte ich mit fester Stimme und nahm wieder einen Schluck aus dem Glas. Lambert goß sogleich nach.

»Weißt du, Arkadij, wenn mir gegenüber so ein Mensch wie dieser Bjoring es gewagt hätte, in Gegenwart einer Dame, die ich verehre, Schimpfworte zu gebrauchen und mich zu schlagen, so weiß ich nicht, was ich getan hätte! Aber du hast es dir gefallen lassen, und ich verachte dich deswegen: du bist ein Waschlappen!«

»Wie kannst du behaupten, daß mich Bjoring geschlagen hat!« rief ich errötend. »Eher kann man sagen, daß ich ihn geschlagen habe, aber nicht er mich.«

»Nein, nein, er ist’s gewesen, der dich geschlagen hat, nicht du ihn.«

»Du faselst, ich habe ihm auch noch auf den Fuß getreten!«

»Aber er hat dich mit der Hand zurückgestoßen und den Bedienten befohlen, dich wegzureißen … und sie hat dabeigesessen und von der Kutsche aus zugesehen und über dich gelacht – sie weiß, daß du keinen Vater hast und man dich ungestraft beleidigen kann.«

»Ich weiß nicht, Lambert, unser Gespräch klingt, als ob ein paar dumme Jungen miteinander redeten; ich schäme mich ordentlich. Du sagst das, um mich aufzuhetzen, und zwar so plump und offen, als ob du mit einem Sechzehnjährigen sprichst. Du hast dich mit Anna Andrejewna verabredet!« rief ich, vor Wut zitternd, und schlürfte dabei fortwährend, ohne es selbst zu wissen, von dem Wein.

»Anna Andrejewna ist eine durchtriebene Person! Sie wird dich und mich und die ganze Welt hinters Licht führen. Ich habe auf dich gewartet, weil du die Sache besser mit der andern zu Ende bringen kannst.«

»Mit welcher andern?«

»Mit Madame Achmakowa. Ich weiß alles. Du hast mir selbst gesagt, daß sie sich vor dem Brief fürchtet, der sich in deinen Händen befindet …«

»Was für ein Brief … du faselst … hast du sie gesehen?« murmelte ich verwirrt.

»Ja, ich habe sie gesehen. Sie ist schön. Très belle; du hast einen guten Geschmack.«

»Ich weiß, daß du sie gesehen hast; aber du hast nicht gewagt, mit ihr zu reden, und ich will, daß du auch über sie nicht zu reden wagst.«

»Du bist noch ein Junge, und sie macht sich über dich lustig – das ist die Sache! Wir hatten in Moskau mit einer solchen tugendhaften Dame zu tun: ach, wie hoch die die Nase trug! Aber als wir ihr drohten, alles zu erzählen, da fing sie an zu zittern und wurde sogleich gefügig; und wir erreichten das eine wie das andere: sowohl das Geld als auch – du verstehst wohl, was noch. Jetzt spielt sie wieder in der vornehmen Gesellschaft die Unnahbare – Donnerwetter, wie stolz sie ist und in was für einer feinen Kutsche sie fährt! Aber wenn du gesehen hättest, in was für einem elenden Kämmerchen das geschah! Du kennst das Leben noch nicht; wenn du wüßtest, was für elende Kämmerchen zu betreten solche Damen sich nicht scheuen …«

»Das habe ich mir gedacht«, murmelte ich unwillkürlich.

»Sie sind verdorben bis in die Fingerspitzen hinein; du weißt nicht, wozu die fähig sind! Alfonsina hat in einer solchen Familie gelebt und hat geradezu einen Ekel bekommen.«

»Das habe ich mir gedacht«, stimmte ich ihm wieder bei.

»Aber du läßt dich schlagen und hast noch Mitleid mit ihr …«

»Lambert, du bist ein Schurke, ein verdammter Schurke!« rief ich, indem ich plötzlich meine Gedanken sammelte und vor Erregung zu zittern begann. »Das alles habe ich schon im Traum gesehen; du und Anna Andrejewna, ihr standet beide da … Oh, du bist ein verdammter Schurke! Hast du mich wirklich für einen solchen Schuft gehalten? Ich habe es ja gerade deswegen geträumt, weil ich wußte, daß du das sagen würdest. Und schließlich kann das auch alles nicht so einfach sein, wie du es mir darstellst.«

»Nun sieh mal an, wie ärgerlich du geworden bist! Ei, ei, ei!« sagte Lambert gedehnt und lachte triumphierend. »Na, Bruder Arkaschka, jetzt habe ich alles erfahren, was ich wissen muß. Eben darum habe ich auf dich gewartet. Hör mal, du liebst sie also und willst dich an Bjoring rächen – das war’s, was ich wissen wollte. Ich habe das auch schon die ganze Zeit vermutet, während ich auf dich wartete. Ceci posé, cela change la question. Und das ist um so besser, da auch sie selbst dich liebt. Also heirate sie unverzüglich, das ist das beste. Und etwas anderes kannst du auch gar nicht tun; du hast das Richtige getroffen. Und dann sollst du wissen, Arkadij, daß du einen Freund hast, nämlich mich, den du zu allen möglichen Dienstleistungen verwenden kannst. Dieser Freund wird dir auch beim Heiraten behilflich sein, und wenn ich alles aus der Erde ausgraben müßte, Arkaschka! Du aber schenke dafür nachher einem alten Kameraden dreißigtausend Rubelchen für seine Mühe, ja? Ich werde dir schon helfen, da kannst du ganz sicher sein. Ich kenne bei all solchen Geschäften alle Schliche, und du wirst ihre ganze Mitgift erhalten und ein reicher Mann werden und eine großartige Karriere machen.«

Obgleich sich mir alles im Kopf herumdrehte, sah ich doch Lambert erstaunt an. Er redete ernsthaft, das heißt, ernsthaft redete er eigentlich nicht, aber er glaubte, wie ich deutlich sah, selbst fest an die Möglichkeit, mich mit ihr zu verheiraten, und war von dieser Idee sogar ganz entzückt. Selbstverständlich sah ich auch, daß er mich zu fangen suchte wie einen kleinen Jungen (sicher sah ich das schon damals); aber der Gedanke, sie zu heiraten, erfüllte mich dermaßen, daß ich, wenn ich mich auch über Lambert wunderte, wie er nur an ein solches Phantasiegebilde glauben konnte, doch gleichzeitig selbst eifrig daran glaubte, dabei jedoch auch nicht für einen Augenblick aufhörte, mir bewußt zu sein, daß sich das natürlich unter keinen Umständen verwirklichen könne. All das fand eigentümlicherweise in meinem Geist nebeneinander Platz.

»Ist denn das möglich?« stammelte ich.

»Warum nicht? Du zeigst ihr das Schriftstück – sie bekommt es mit der Angst und heiratet dich, um nicht ihr Geld zu verlieren.«

Ich beschloß, Lambert in der Darlegung seiner Gemeinheiten nicht zu unterbrechen, weil er sie mir mit solcher Harmlosigkeit auseinandersetzte, daß ihm gar nicht der Verdacht kam, ich könnte plötzlich dagegen revoltieren; aber ich murmelte doch undeutlich etwas in dem Sinne, daß es nicht meinen Wünschen entsprechen würde, sie nur durch Zwang zu heiraten.

»Ich will sie unter keinen Umständen dazu zwingen; wie kannst du so gemein sein, mir so etwas zuzutrauen?«

»Was redest du! Sie wird dich aus freien Stücken heiraten: du brauchst gar nichts weiter dazu zu tun; sie wird Angst bekommen und dich von selbst heiraten. Und sie wird dich auch deswegen heiraten, weil sie dich liebt«, fügte Lambert, als wenn ihm das noch nachträglich einfiel, hinzu.

»Du faselst. Du machst dich über mich lustig. Woher weißt du, daß sie mich liebt?«

»Das ist ganz sicher. Ich weiß es. Auch Anna Andrejewna glaubt es. In allem Ernst und ganz wahrheitsgemäß kann ich dir sagen, daß Anna Andrejewna es glaubt. Und dann will ich dir, wenn du zu mir kommst, noch etwas erzählen, und du wirst einsehen, daß sie dich liebt. Alfonsina ist in Zarskoje Selo gewesen; da hat sie auch dies und das erfahren…«

»Was kann sie denn da erfahren haben?«

»Komm nur mit zu mir nach Hause: sie wird es dir selbst erzählen, und du wirst dich darüber freuen. Und in welcher Hinsicht bist du denn auch schlechter als ein anderer? Du bist hübsch, du bist gebildet …«

»Ja, gebildet bin ich«, flüsterte ich, ich konnte kaum atmen. Mein Herz klopfte heftig, und natürlich nicht allein vom Wein.

»Du bist hübsch, du bist gut gekleidet.«

»Ja, gut gekleidet bin ich.«

»Und du bist ein guter Mensch …«

»Ja, ein guter Mensch bin ich.«

»Warum sollte sie da nicht ja sagen? Und Bjoring, der nimmt sie doch nicht ohne Geld; das Geld aber kannst du ihr wegnehmen – eben deswegen wird sie Angst bekommen; du wirst sie heiraten und dich dadurch an Bjoring rächen. Du hast mir ja damals selbst in jener Nacht, als du aus der Kälte zu mir gekommen warst, gesagt, sie sei in dich verliebt.«

»Habe ich das wirklich zu dir gesagt? Das habe ich gewiß nicht gesagt.«

»Doch, das hast du gesagt.«

»Das war dann im Fieberdelirium. Gewiß habe ich dir damals auch etwas von einem Schriftstück gesagt?«

»Ja, du hast gesagt, du hättest einen solchen Brief; und ich habe gleich gedacht: wie kann er nur, wenn er einen solchen Brief hat, das nicht zu seinem Vorteil ausnutzen?«

»Das sind alles nur leere Phantasiegebilde, und ich bin durchaus nicht so dumm, daß ich das glauben kann«, murmelte ich. »Erstens der Unterschied in den Jahren, und zweitens habe ich keinen vornehmen Namen.«

»Sie wird dich schon heiraten; sie kann gar nicht anders, da ihr sonst soviel Geld verlorengeht – das werde ich alles einzurichten wissen. Und außerdem liebt sie dich. Du weißt ja, daß dir dieser alte Fürst sehr wohlgesinnt ist; durch seine Protektion kannst du alle möglichen Verbindungen anknüpfen, und was das anlangt, daß du keinen vornehmen Namen hast, so ist ein solcher heutzutage durchaus nicht nötig: wenn du erst einmal Geld in die Hände bekommst, dann wirst du aufsteigen und aufsteigen und nach zehn Jahren ein solcher Millionär sein, daß ganz Rußland von deinem Ruhm erschallen wird; also was brauchst du da einen vornehmen Namen? In Österreich kann man sich den Baronstitel kaufen. Wenn du sie aber heiratest, dann halte sie fest im Zügel. Die Weiber muß man gehörig ducken. Wenn eine Frau liebt, so hat sie es gern, daß der Mann sie seine Herrschaft fühlen läßt. Die Frau liebt beim Mann einen festen Charakter. Und wenn du ihr mit dem Brief einen Schreck eingejagt haben wirst, dann wird es dir von da an ein leichtes sein, ihr einen festen Charakter zu zeigen. ›Ah‹, wird sie sagen, ›er ist noch so jung, aber er hat einen festen Charakter!‹«

Ich saß wie betäubt. Mit keinem ändern Menschen hätte ich mich zu einem so dummen Gespräch herabgelassen. Aber hier brachte mich ein wollüstiges Verlangen dazu, ein solches Gespräch zu führen. Zudem war Lambert so dumm und gemein, daß kein Anlaß bestand, sich vor ihm zu schämen.

»Nein, weißt du, Lambert«, sagte ich plötzlich, »vieles von dem, was du da sagst, ist Unsinn; ich habe nur darum mit dir darüber gesprochen, weil wir Schulkameraden sind und uns nicht voreinander zu schämen brauchen; aber mit einem andern würde ich mich um keinen Preis so weit erniedrigen. Vor allen Dingen: woher bist du so fest davon überzeugt, daß sie mich liebt? Was du da soeben von dem Kapital sagtest, war sehr richtig, aber siehst du, Lambert, du kennst die höheren Gesellschaftskreise nicht: diese Leute legen den höchsten Wert auf die patriarchalischen, sozusagen angeborenen Beziehungen, so daß es ihr jetzt, solange sie meine Fähigkeiten noch nicht kennt und nicht weiß, wie weit ich es im Leben noch bringen kann, doch peinlich sein wird. Aber ich will dir nicht verhehlen, Lambert, daß da tatsächlich auch wieder ein Punkt ist, der einem Hoffnung machen kann. Siehst du, sie kann mich aus Dankbarkeit heiraten, weil ich sie dann vor dem Haß eines gewissen Menschen bewahre. Und sie fürchtet ihn, diesen Menschen.«

»Ach, du meinst deinen Vater? Wie steht es? Liebt er sie sehr?« fragte Lambert höchst neugierig; er war auf einmal zusammengefahren.

»O nein!« rief ich. »Wie gräßlich du bist und zugleich wie dumm, Lambert! Na, könnte ich denn, wenn er sie liebte, beabsichtigen, sie zu heiraten? Wir sind ja doch Sohn und Vater, da müßte ich mich doch schämen. Er liebt Mama, jawohl, und ich habe gesehen, wie er sie umarmt hat, und ich habe früher selbst gedacht, er liebe Katerina Nikolajewna, aber jetzt habe ich klar erkannt, daß er sie vielleicht früher einmal geliebt hat, sie jetzt aber schon lange haßt … und sich an ihr rächen will, und sie fürchtet sich vor ihm, denn ich sage dir, Lambert, er ist ganz schrecklich, wenn er anfängt, sich zu rächen. Er wird dann beinahe irrsinnig. Wenn er auf sie zornig wird, ist er zu allem fähig. Das ist eine Feindschaft nach der alten Art, eine Feindschaft um der hohen Prinzipien willen. In unserer Zeit scheren sich die Menschen nicht mehr um die allgemeinen Prinzipien; in unserer Zeit sind nicht die allgemeinen Prinzipien, sondern nur die privaten Zufälle von Wichtigkeit. Ach, Lambert, du verstehst nichts, du bist dumm wie ein Stock; da rede ich nun zu dir von diesen Prinzipien, aber du verstehst gewiß nichts davon. Du bist schrecklich ungebildet. Weißt du noch, wie du mich früher geprügelt hast? Ich bin jetzt stärker als du – weißt du das?«

»Arkaschka, komm mit zu mir nach Hause! Wir wollen den Abend über gemütlich zusammensitzen und noch eine Flasche trinken, und Alfonsina soll uns etwas zur Gitarre vorsingen.«

»Nein, ich komme nicht mit. Hör mal, Lambert, ich habe eine ›Idee‹. Wenn das mit der Heirat nicht gelingt, dann widme ich mich ganz meiner Idee; aber du hast keine Ideen.«

»Gut, gut, das kannst du mir nachher erzählen, komm nur mit!«

»Ich komme nicht mit«, sagte ich und stand auf. »Ich will nicht mitkommen und werde nicht mitkommen. Ich werde schon einmal zu dir kommen, aber du bist ein Schuft. Ich werde dir die dreißigtausend Rubel geben – meinetwegen, aber ich bin moralisch reiner als du und stehe über dir … Ich sehe ja, daß du mich in jeder Hinsicht betrügen willst. Aber was sie anlangt, so verbiete ich dir, an sie auch nur zu denken: sie steht höher als alle andern Menschen, und deine Pläne sind eine solche Gemeinheit, daß ich geradezu erstaunt über dich bin, Lambert. Ich will sie heiraten – das steht auf einem andern Blatt, aber ein Kapital habe ich nicht nötig, ich verachte das Kapital. Und wenn sie mir ihr Kapital auf den Knien anböte, ich würde es nicht annehmen … Aber heiraten, heiraten, das steht auf einem andern Blatt. Und weißt du, das war von dir eine sehr richtige Bemerkung, daß man die Frauen seine Herrschaft fühlen lassen muß. Man mag sie lieben, leidenschaftlich lieben, mit all der Hochherzigkeit, die der Mann besitzt und die beim Weibe nie vorhanden sein kann, aber man muß dabei ein Despot sein, das ist richtig. Denn weißt du, Lambert, das Weib liebt den Despotismus. Du, Lambert, kennst die Weiber. Aber in allen übrigen Beziehungen bist du erstaunlich dumm. Und weißt du, Lambert, du bist nicht ganz so abscheulich, wie du scheinst; du bist ein treuherziger Mensch. Ich habe dich gern. Ach, Lambert, warum bist du ein solcher Spitzbube? Wenn du das nicht wärst, dann könnten wir so vergnügt zusammen leben! Weißt du, Trischatow ist ein netter Mensch.«

Alle diese letzten unzusammenhängenden Sätze stammelte ich, als wir schon auf der Straße waren. Oh, ich erzähle das so eingehend, damit der Leser sieht, daß ich trotz all meiner Begeisterung und trotz aller Schwüre und Gelöbnisse, ein neuer, besserer Mensch zu werden und die »edle Schönheit« zu suchen, doch damals so leicht zu Fall kommen konnte, und gerade in den ärgsten Schmutz hinein! Und ich schwöre, wenn ich nicht fest und völlig davon überzeugt wäre, daß ich jetzt schon ein ganz anderer Mensch bin und mir bereits durch das praktische Leben Charakterstärke erworben habe, so würde ich all das dem Leser um keinen Preis bekennen.

Wir waren aus dem Laden hinausgetreten, und Lambert stützte mich, indem er mich leicht mit dem Arm umschlang. Auf einmal sah ich ihn an und gewahrte, daß sein unverwandter, forschender und im höchsten Grade nüchterner Blick fast ganz denselben Ausdruck hatte wie damals, an jenem Morgen, als ich fast erfroren war und er mich, den Arm genau ebenso um mich herumlegend, zu der Droschke führte und mit Augen und Ohren mein unzusammenhängendes Gestammel in sich aufnahm. Bei Betrunkenen, die noch nicht vollständig ihrer geistigen Fähigkeiten beraubt sind, kommen manchmal Augenblicke völliger Nüchternheit vor.

»Um keinen Preis komme ich mit zu dir!« erklärte ich in festem Ton und zusammenhängenden Worten, wobei ich ihn spöttisch ansah und mit der Hand zurückschob.

»Ach was, ich werde Alfonsina sagen, sie soll uns Tee machen, komm nur!«

Er war fest überzeugt, daß ich mich nicht von ihm losreißen würde; er umschlang und stützte mich mit einem Genuß, als führte er ein schönes Stück Vieh zum Schlachten, und natürlich hatte er gerade mich nötig und gerade an diesem Abend und in einem solchen Zustand! Später wird das alles klarwerden, warum.

»Ich komme nicht mit!« sagte ich noch einmal. »Droschke!«

Sofort kam ein Droschkenkutscher herangejagt, und ich sprang in seinen Schlitten.

»Wo willst du hin? Was hast du?« brüllte Lambert in gewaltiger Angst und hielt mich an meinem Pelz fest.

»Untersteh dich nicht, mir zu folgen!« schrie ich. »Daß du mir nicht nachsetzt!«

In diesem Augenblick trieb der Kutscher das Pferd an, und mein Pelz wurde Lambert aus den Händen gerissen.

»Schadet nichts, du wirst schon kommen!« schrie er mir wütend nach.

»Ich werde kommen, wenn ich will – das ist meine Sache!« rief ich, mich im Schlitten umwendend, ihm zu.

II

Er verfolgte mich nicht, natürlich nur, weil gerade keine andere Droschke bei der Hand war, und es gelang mir, ihm aus den Augen zu kommen. Ich fuhr aber bloß bis zum Heumarkt, stieg dort aus und entließ den Kutscher. Ich hatte ein starkes Verlangen, zu Fuß zu gehen. Ich verspürte weder Müdigkeit noch stärkere Trunkenheit; vielmehr fühlte ich nur Kühnheit, einen Zuwachs von Kraft, eine außerordentliche Fähigkeit zu jedem Unternehmen, und in meinem Kopf tummelten sich unzählige angenehme Gedanken.

Mein Herz klopfte angestrengt und stark; ich hörte jeden seiner Schläge. Und alles gefiel mir so gut, und mir war so leicht zumute. Als ich auf dem Heumarkt an der Hauptwache vorbeikam, bekam ich die größte Lust, zu dem Posten zu gehen und ihm einen Kuß zu geben. Es war Tauwetter, der Platz sah schwarz aus und roch schlecht, aber auch der Platz gefiel mir sehr.

»Ich will jetzt auf den Obuchowskij Prospekt gehen«, dachte ich, »und dann wende ich mich links und gehe nach dem Semjonowskij Polk; ich mache einen Umweg, das ist schön, alles ist schön. Den Pelz habe ich auseinandergeschlagen, aber warum nimmt ihn mir denn niemand weg? Wo sind denn die Räuber? Es heißt doch, auf dem Heumarkt gebe es Räuber; meinetwegen mögen sie kommen, vielleicht gebe ich ihnen den Pelz so. Wozu brauche ich einen Pelz? Ein Pelz ist ein Eigentum. La propriété, c’est le vol. Übrigens, was ist das für dummes Zeug, und wie schön ist alles! Es ist schön, daß Tauwetter ist. Was hat man von der Kälte? Kälte braucht überhaupt nicht zu sein. Es ist auch schön, dummes Zeug im Kopf herumzutragen. Was habe ich da zum Beispiel zu Lambert von den Prinzipien gesagt? Ich habe gesagt, es gebe keine allgemeinen Prinzipien, sondern nur private Zufälle; da habe ich Unsinn geredet, den reinen Unsinn! Das habe ich absichtlich getan, um mich aufzuspielen. Ich schäme mich ein bißchen, indessen – das schadet nichts, ich mache es wieder gut. Schämen Sie sich nicht, grämen Sie sich nicht, Arkadij Makarowitsch! Arkadij Makarowitsch, Sie gefallen mir. Sie gefallen mir sogar sehr gut, mein junger Freund. Schade, daß Sie ein kleiner Spitzbube sind … und … und … ach ja … ach!‹

Ich blieb plötzlich stehen, und das Herz tat mir wieder weh von meinem Wonnerausch:

›O Gott, was hat er da gesagt? Er hat gesagt, daß sie mich liebt. Oh, er ist ein Halunke, er hat mir vieles vorgelogen; das hat er getan, damit ich mit in seine Wohnung kam und da übernachtete. Aber vielleicht ist es auch nicht gelogen. Er hat gesagt, Anna Andrejewna glaube es auch … Pah! Aber auch Darja Onissimowna konnte ihm da etwas auskundschaften; die treibt sich ja überall herum. Und warum bin ich nicht zu ihm gefahren? Ich hätte alles erfahren! Hm! Er hat einen Plan, und ich habe das alles bis in die geringsten Einzelheiten vorhergeahnt. Der Traum. Großzügig ausgesonnen, Herr Lambert, aber Sie irren sich, es wird Ihnen nicht gelingen. Aber vielleicht gelingt es doch! Vielleicht gelingt es doch! Und ob er wirklich die Heirat zuwege bringt? Vielleicht bekommt er es fertig. Er ist naiv und glaubt es. Er ist dumm und dreist wie alle diese Geschäftsleute. Dummheit und Dreistigkeit miteinander vereint, die bilden eine große Macht. Aber gestehen Sie nur, Arkadij Makarowitsch, daß Sie sich vor Lambert gefürchtet haben! Und wozu braucht er ehrenhafte Menschen? Er sagt ganz ernsthaft: »Es gibt hier keinen einzigen ehrenhaften Menschen!« Aber was bist du selbst denn für ein Mensch? Ach, was rede ich da! Als ob die Schufte keine ehrenhaften Menschen nötig hätten. Bei Gaunereien sind ehrenhafte Leute noch notwendiger als sonst überall. Haha! Das haben Sie nur bisher in Ihrer völligen Unschuld nicht gewußt, Arkadij Makarowitsch. Herrgott! Wenn er mich wirklich verheiratet!‹

Ich blieb von neuem stehen. Ich muß hier eine Dummheit bekennen (ich kann das tun, da sie schon längst der Vergangenheit angehört), ich muß bekennen, daß ich schon lange vorher hatte heiraten wollen – das heißt, ich hatte es nicht gewollt, und es wäre niemals geschehen (und es wird auch in Zukunft nicht geschehen, mein Wort darauf), aber ich hatte mir schon zu wiederholten Malen und schon lange vor jener Zeit in Gedanken ausgemalt, wie schön es wäre zu heiraten, das heißt, furchtbar oft hatte ich mir das ausgemalt, besonders jeden Abend vor dem Einschlafen. Das hatte bei mir schon in meinem sechzehnten Lebensjahr angefangen. Ich hatte auf dem Gymnasium einen gleichaltrigen Kameraden namens Lawrowskij – ein sehr angenehmer, stiller, netter Junge, der sich übrigens sonst durch nichts weiter auszeichnete. Ich unterhielt mich fast nie mit ihm. Da traf es sich, daß wir einmal beide allein zusammensaßen; er war sehr nachdenklich und sagte plötzlich zu mir: »Ach, Dolgorukij, wie denken Sie darüber, jetzt müßte man heiraten; wirklich, wann soll man heiraten, wenn man es jetzt nicht tut? Jetzt wäre gerade die beste Zeit, und doch geht es absolut nicht!« Und das sagte er so offenherzig. Und ich stimmte ihm von ganzem Herzen bei, denn ich hatte mir selbst schon derartige Gedanken gemacht. Darauf kamen wir mehrere Tage nacheinander zusammen und sprachen immer insgeheim über dieses Thema, und zwar nur über dieses allein. Dann aber, ich weiß nicht, wie es zuging, kamen wir auseinander, und diese Gespräche hörten auf. Ja; und seit jener Zeit fing ich an, mir das in Gedanken auszumalen. Das hätte ich natürlich nicht zu erwähnen brauchen; ich wollte nur zeigen, wie weit das manchmal zurückreicht …

›Es gibt da nur einen einzigen ernsthaften Einwand‹, phantasierte ich weiter, während ich meinen Weg fortsetzte. ›Oh, natürlich kann der unbedeutende Unterschied in unserem Lebensalter kein Hindernis bilden, aber da ist noch etwas anderes: sie ist eine solche Aristokratin, und ich bin »einfach Dolgorukij«! Sehr unangenehm! Hm! Könnte Wersilow nicht, wenn er Mama heiratet, bei der Regierung um die Erlaubnis bitten, mich zu adoptieren … sozusagen zur Belohnung für seine Verdienste? Er hat ja ein Amt bekleidet, folglich wird er auch Verdienste haben; er ist Friedensrichter gewesen …‹ – »Oh, hol’s der Teufel, was ist das von mir für eine Gemeinheit!«

Das rief ich auf einmal laut aus und blieb zum drittenmal stehen, aber nun so, als ob ich auf meinem Platz zu Boden geschmettert wäre. Das ganze qualvolle Gefühl der Beschämung infolge des Bewußtseins, daß ich etwas so Schmachvolles wie die Änderung meines Familiennamens durch eine Adoption hatte wünschen können, dieser Verrat an meiner ganzen Kindheit – alles dies hatte beinahe in einem Augenblick meine ganze frühere gute Laune vernichtet, und meine ganze Freude zerflatterte wie Rauch. ›Nein, das werde ich keinem Menschen weitersagen‹, dachte ich unter starkem Erröten, ›daß ich etwas so Unwürdiges gedacht habe, das kommt daher, daß ich verliebt und dumm bin … Nein, wenn Lambert in irgendeinem Punkt recht hat, so darin, daß heutzutage alle diese Narrheiten nicht mehr nötig sind und daß heutzutage, in unserem Zeitalter, die Hauptsache der Mensch selbst ist und dann sein Geld. Das heißt nicht das Geld, sondern die Macht des Menschen. Wenn ich mich mit einem solchen Kapital an die Verwirklichung meiner »Idee« mache, so wird nach zehn Jahren ganz Rußland in seinen Grundfesten erbeben, und ich werde mich an allen rächen. Mit ihr aber viele Umstände zu machen, dazu ist wirklich kein Anlaß, darin hat Lambert wieder recht. Sie wird Angst bekommen und mich einfach nehmen. Auf die einfachste, gemeinste Weise wird sie ja sagen und mich nehmen.‹ Mir fielen die Worte ein, die ich kurz vorher von Lambert gehört hatte: »Du weißt nicht, in was für einem elenden Kämmerchen das geschehen ist.«

›Auch das ist so‹, stimmte ich bei, ›Lambert hat in allen Punkten recht, er hat tausendmal mehr recht als ich und Wersilow und alle Idealisten. Er ist ein Realist. Sie wird sehen, daß ich Charakterstärke besitze, und wird sagen: »Ah, er besitzt Charakterstärke!« Lambert ist ein Schurke und will weiter nichts als von mir dreißigtausend Rubel herausholen, aber doch ist er der einzige Freund, den ich habe. Eine andere Freundschaft gibt es nicht und kann es nicht geben; das haben sich unpraktische Leute alles nur so ausgedacht. Und in meinem Verhalten ihr gegenüber liegt keine Herabwürdigung; würdige ich sie etwa herab? Durchaus nicht: alle Weiber sind so! Gibt es etwa ein Weib, das von Gemeinheit frei wäre? Eben darum muß das Weib den Mann über sich haben, eben darum ist das Weib als ein untergeordnetes Wesen erschaffen. Das Weib ist Laster und Verführung, der Mann Edelsinn und Hochherzigkeit. So wird das in alle Ewigkeit bleiben. Und daß ich vorhabe, das Schriftstück auszunutzen, das ist nichts Schlimmes. Das hindert mich nicht, edel und hochherzig zu sein. Menschen mit vollkommen reiner Moral in der Art Schillers gibt es nicht; das sind nur Erfindungen der Phantasie. Es macht nichts aus, wenn auch etwas Schmutz dabei ist, wenn nur das Ziel ein erhabenes ist! Das kann später alles abgewaschen, alles wieder gutgemacht werden. Jetzt aber ist das nur Großzügigkeit, nur echtes Leben, nur Lebenswahrheit – so nennt man das jetzt!‹

Oh, ich wiederhole es: man möge es mir verzeihen, daß ich all die irren Gedanken, die mir damals in der Trunkenheit kamen, bis auf das letzte Strichelchen hierhersetze. Das Obige ist allerdings nur die Quintessenz meiner damaligen Gedanken, aber ich glaube, ich habe sie mit diesen selben Worten gedacht. Ich mußte sie anführen, weil ich mich zum Schreiben hingesetzt habe, um über mich Gericht zu halten. Und was verdient mehr das Urteil als dies? Kann es denn im Leben etwas Ernsthafteres geben? Der Wein konnte jedenfalls nicht zu meiner Rechtfertigung dienen. In vino veritas.

Mit solchen phantastischen Träumereien beschäftigt und ganz darin versunken, hatte ich gar nicht bemerkt, daß ich endlich nach Hause gekommen war, das heißt zu Mamas Wohnung. Ich bemerkte es auch dann noch nicht einmal, als ich in die Wohnung hineinging; aber kaum war ich in unser winziges Vorzimmer eingetreten, als ich sofort begriff, daß bei uns etwas Ungewöhnliches vorgegangen war. In den Zimmern wurde laut gesprochen und aufgeschrien, und es war zu hören, daß Mama weinte. In der Tür rannte mich beinahe Lukenja um, die hastig von Makar Iwanowitschs Zimmer nach der Küche lief. Ich warf meinen Pelz ab und ging zu Makar Iwanowitsch hinein, weil dort alle versammelt waren.

Dort standen Wersilow und Mama. Mama lag in seinen Armen, und er drückte sie fest an sein Herz. Makar Iwanowitsch saß wie gewöhnlich auf seiner Fußbank, schien aber ganz kraftlos zu sein, so daß Lisa ihn mit Anstrengung an der Schulter halten mußte, damit er nicht umfiel; und es war sogar deutlich, daß er immer mehr zur Seite sank und zu fallen drohte. Ich trat eilig näher heran und erriet zusammenzuckend, was geschehen war: der alte Mann war tot.

Er war soeben gestorben, etwa eine Minute vor meiner Ankunft. Zehn Minuten vorher hatte er sich noch gefühlt wie immer. Nur Lisa war bei ihm gewesen: sie hatte bei ihm gesessen und ihm von ihrem Kummer erzählt, und er hatte ihr wie am vorhergehenden Tag den Kopf gestreichelt. Auf einmal hatte er angefangen, am ganzen Leib zu zittern (so erzählte Lisa), hatte versucht aufzustehen, hatte schreien wollen und hatte sich schweigend auf die linke Seite geneigt. »Ein Herzschlag!« sagte Wersilow. Lisa hatte aufgeschrien, so daß man es durch das ganze Haus hörte, und da waren sie alle zusammengelaufen, und das alles war nur ungefähr eine Minute vor meiner Ankunft geschehen.

»Arkadij!« rief mir Wersilow zu, »lauf gleich zu Tatjana Pawlowna. Sie ist bestimmt zu Hause. Sage ihr, sie möchte sofort herkommen! Nimm eine Droschke! Schnell, schnell, ich bitte dich dringend!«

Seine Augen funkelten – ich erinnere mich daran deutlich. In seinem Gesicht bemerkte ich nichts, was wie Mitleid ausgesehen hätte, und keine Tränen; es weinten nur Mama, Lisa und Lukerja. Vielmehr – auch das ist mir genau in Erinnerung – prägte sich auf seinem Gesicht der Ausdruck einer ungewöhnlichen Erregung, beinahe des Entzückens aus. Ich lief davon, um Tatjana Pawlowna zu holen.

Der Weg zu ihr war, wie aus dem früheren bekannt ist, nicht weit. Ich nahm keine Droschke, sondern lief die ganze Strecke ohne Unterbrechung. In meinem Kopf herrschte Verwirrung, und es war dort sogar ebenfalls beinahe eine Art von Entzücken vorhanden. Ich begriff, daß etwas Entscheidendes geschehen war. Die Trunkenheit und mit ihr zugleich auch alle unedlen Gedanken waren bis auf die letzte Spur von mir gewichen, als ich bei Tatjana Pawlowna klingelte.

Die Finnin öffnete. »Nicht zu Hause!« sagte sie und wollte die Tür gleich wieder zumachen.

»Unsinn!« erwiderte ich und drängte mich mit Gewalt in das Vorzimmer hinein. »Das ist unmöglich! Makar Iwanowitsch ist gestorben.«

»Wa–as!« hörte ich auf einmal Tatjana Pawlowna hinter der geschlossenen Tür zum Wohnzimmer aufschreien.

»Er ist tot! Makar Iwanowitsch ist tot! Andrej Petrowitsch läßt Sie bitten, sofort hinzukommen!«

»Du schwatzt wohl dummes Zeug …«

Der Riegel kreischte, aber die Tür wurde nur ein paar Fingerbreit geöffnet.

»Was ist los? Erzähle!«

»Ich weiß es selbst nicht, ich bin eben erst nach Hause gekommen, und da war er schon tot. Andrej Petrowitsch sagt: ein Herzschlag!«

»Sofort, im Augenblick. Lauf, sage, daß ich kommen werde; geh doch, geh doch, geh doch! Na, was stehst du denn noch?«

Aber ich hatte durch die Türspalte deutlich gesehen, daß auf einmal jemand hinter der Portiere hervorgekommen war, hinter der sich Tatjana Pawlownas Bett befand, und nun im Hintergrund des Zimmers hinter Tatjana Pawlowna stand. Mechanisch und instinktiv griff ich nach der Klinke und verhinderte so, daß die Tür wieder zugemacht wurde.

»Arkadij Makarowitsch, es ist wirklich wahr, daß er tot ist?« ertönte eine mir wohlbekannte, sanfte, ruhige, metallische Stimme, von deren Klange mit einemmal meine ganze Seele erzitterte: man hörte es der Frage an, daß sie im Innersten ergriffen und erregt war.

»Na, wenn’s so ist«, rief auf einmal Tatjana Pawlowna und ließ die Tür los, »wenn’s so ist, dann mögt ihr miteinander fertig werden, wie ihr wollt. Ihr habt es selbst gewollt!«

Sie lief hastig aus der Wohnung hinaus, warf sich erst im Laufen ihr Kopftuch und ihren Pelz über und rannte die Treppe hinunter. Wir blieben allein. Ich warf den Pelz ab, trat ins Zimmer und machte hinter mir die Tür zu. Sie stand vor mir wie damals bei jenem Rendezvous, mit hellem Blick, und streckte mir wie damals beide Hände entgegen. Mir knickten die Knie ein, und ich sank buchstäblich zu ihren Füßen nieder.