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Sophia Anna Csar

Liebe des Meeres

Historischer Liebesroman


Für mein fünfzehnjähriges Ich, das diese Geschichte geliebt hat. Und für zwanzigjähriges Ich, das diese Geschichte aus dem Staub geholt hat, obwohl ich wirklich nicht weiß, warum ich uns das allen eigentlich antue. Vielleicht liegt es an Jeremy. Ja. Es liegt an Jeremy. Ich mag ihn zu sehr dazu, als dass ich ihn nicht zum Leben erwecken möchte.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Liebe des Meeres

Teil 1

 

 

 

1.

Der kühle Wind peitschte über das aufgewühlte Meer, dessen Wellen sich vom dunklen Blau zu einem stürmischen Grau verfärbt hatten, und trug den salzigen, feuchten Geschmack dem blonden Piraten zu. Der Mann mit der zornigen Narbe auf der Wange, die sich quer über sein Gesicht zog und seinen Mund und das stoppelige Kinn spaltete, hob sein Gesicht, als wäre der Wind der Kuss einer Liebenden und würde ihm mehr bringen als das Salz des Meeres.

Seine Haare waren unter einem abgetragenen, speckigen Hut verborgen, doch sie waren lang genug, fast bis auf seine Schultern, sodass man die Strähnen sehen konnte, die von der Sonne zu einem silbrigen Blond gebleicht worden waren. Doch nach fast zwei Wochen auf See, in denen Süßwasser nicht zu so etwas profanen wie Waschen verschwendet wurde, waren auch sie nicht mehr sonderlich gepflegt wie auch seine restliche Erscheinung. Dennoch hielt der Pirat unangenehmen Körpergeruch oder zweifelhafte Mitbewohner von geringer Körpergröße durch häufige Bäder im Meer im Schach, denn anders als die meisten seiner Crew konnte er schwimmen wie ein Fisch.

Es war vermutlich diese Fähigkeit, die ihm den Beinamen „Sohn des Poseidons“ eingebracht hatte. Sein echter Name war nur den wenigsten bekannt und diese wenigen würden sich eher die Zunge herausschneiden, als Black Wolf zu verraten, denn der Piratenkapitän schien nur zwei Gefühle in Menschen hervorzurufen - ergebene Treue und unbarmherziger Hass.

Es kümmerte ihn wenig, wenn Menschen ihn hassten, doch wenn den wenigen, die ihm die Treue hielten, Leid angetan wurde, färbte er das Meer rot mit dem Blut ihrer Feinde.

Und dies war auch der Grund, warum seine grauen Augen, die im Sonnenlicht unnatürlich hell wirkten, heute dem geschliffenen Stahl seines Säbels glichen - sein langjähriger Maat Jonas Baker, der seinen zahmen Nachnamen mit Jonas dem Blutigen ersetzt hatte, da er meist am Ende jeder Seeschlacht aussah wie in einen roten Farbtopf getaucht, war auf einem Landgang, bei dem er seine Schwester besucht hatte, gefangen genommen worden.

Jedes Mal, wenn Jonas’ Schwester sich einer erneuten Niederkunft näherte, verbrachte der um zwanzig Jahre jüngere Mann einen Monat bei ihr und ihrer Familie und achtete nicht auf den gutmütigen Spott seines Capt’ns, der seinen Maat und Steuermann mehr als einmal beim Wäschewaschen und Scherzen mit seinen Nichten und Neffen erwischt hatte. Als Black Wolf Jonas vor fast zwei Wochen abholen wollte, noch beladen mit der Fracht des letzten aufgebrachten Handelsschiffes, hatte dessen Schwester ihm tränenüberströmt berichtet, dass sein Steuermann sich hinter Gittern befand.

Es war nicht der Vorwurf der Piraterie gewesen, die Jonas in das Gefängnis gebracht hatte, nein, er war dort nicht einmal erkannt worden, sondern eine simple Verwechslung mit einem Dieb hatte Jonas in seine missliche Lage gebracht. Und obwohl Black Wolf der Versuchung, das Gefängnis zu sprengen und Jonas mit brachialer Gewalt zu retten, nur schwer widerstanden hatte, hatte ein gewispertes Gerücht ihn abgehalten: die Tochter des Gouverneurs William Stapletons war auf dem Weg aus England.

Hochzeitsglocken sollten für das Mädchen läuten, sobald sie Antigua erreicht hatte und als Black Wolf den Namen des Verlobten gehört hatte, war er in lautstarkes Gelächter ausgebrochen.

Er wäre ein Idiot gewesen, sich die Gelegenheit Commander Warrington zu demütigen entgehen zu lassen. Und man mochte Black Wolf viel vorwerfen - doch ein Idiot war er nicht.

Er kannte die Routen, die die Galeone mit der Tochter Stapletons nehmen würde, und hatte die wahrscheinlichste herausgepickt. Jetzt blieb ihm nur mehr übrig zu warten, zu hoffen und auf sein Glück zu vertrauen.

Die Léona war eine Fregatte, schnell und wendig, doch einer Galeone im direkten Kampf unterlegen. Zudem wäre es dumm, sich auf einen Kampf mit Kanonen einzulassen, war die Fracht seiner Feinde doch viel zu wertvoll, um sie durch einen unglücklichen Schuss zu verletzen oder gar die Pulverkammer zu treffen, die zum unweigerlichen Explodieren der Gegner führen würde.

Nein, ein direkter Kampf mit Kanonen wäre dem Untergang geweiht. Er würde es wie immer auf die Art der Piraten machen - mit List und einer gehörigen Portion Unverschämtheit, die ihn auf See so gefürchtet machte.

Auf dem narbigen Gesicht Black Wolfs breitete sich ein grimmiges Lächeln aus, das seinem Segelmacher Bernard, der früher unter spanischer Flagge gedient hatte und der Jonas in seiner Abwesenheit ersetzte, zurückweichen und sichtlich um sein Leben fürchten ließ.

Wenn Black Wolf lächelte, dann würde Blut fließen und Pulverrauch den Himmel verdunkeln. „Bereit machen zum Gefecht“, sagte Black Wolf leise, fast sanft, als er sein Fernrohr aus dem Gürtel holte und angestrengt den Horizont betrachtete. Die Léona lag in einer Bucht, versteckt hinter schroffen Klippen, doch zwischen ihnen hindurch konnte Black Wolf die reinweißen Segeln einer Galeone erkennen.

Eilig gab Bernard die Befehle weiter und die Fregatte setzte sich zuerst schwerfällig, dann immer schneller in Bewegung, zielsicher auf ihrem todbringenden Kurs.

 

Miss Eleanor Stapleton schlief, die kastanienbraunen Locken über die aufgeplusterten, weichen Polster gebreitet, die zarten Hände unter einer weichen, weißen Wange gefaltet. Sie schien wie das Idealbild einer wohlerzogenen, sanftmütigen, englischen Schönheit, auch wenn ihre Haare braun und nicht blond waren und ihre Figur mehr knabenhaft als von der reifen Weiblichkeit war, die jetzt regen Anklang traf.

Doch ihre Augen, die von einem dunklen Blau waren, das durch ihre dunklen, langen Wimpern noch verträumter und unschuldiger wirkte, hatten ihr in ihrer einzigen Saison in London unzählige Verehrer eingebracht, die sie zu einem gestohlenen Kuss in dunklen Gärten zu überreden gesucht hatten.

Einem einzigen hatte sie diese Gunst gewährt, die übrigen hatte sie mit kokettem Gehabe zurückgewiesen, während sie ihr spöttisches Lächeln hinter dem Fächer versteckt hatte, der ihr Markenzeichen geworden war.

Doch nicht nur ihre Augen hatten die Männer in London zum Schwärmen gebracht - da waren noch ihre vollen, roten Lippen, die hohen Wangenknochen und die elegante, lange Nase, die ihrem Gesicht einen leicht hochnäsigen Ausdruck verlieh.

„Miss Eleanor.“ Eine Hand berührte ihre Schulter und die vertraute Stimme hatte einen gehetzten Beiklang. „Miss Eleanor, Sie müssen aufwachen! Wir werden angegriffen!“

Mühsam blinzelte Miss Eleanor mit vor Schlaf trockenen Augen und blickte in das bleiche, furchtsame Gesicht ihrer Kammerzofe Caroline, die mit hektischen, braunen Augen zwischen Eleanor und der Kabinentür hin und her blickte. Ihr rundes Gesicht war mit feinem Angstschweiß bedeckt und die etwas plumpe Hand auf Eleanors Schulter zitterte.

„Was?“ Eleanor blinzelte, richtete sich langsam auf. Die Worte ihrer Zofe durchdrangen nur mühsam den Schleier des Schlafes, doch dann pumpte ihr Herz rasend Adrenalin durch ihre Adern. „Wir werden angegriffen?“ Schwungvoll setzte sie die Beine auf den Boden und erhob sich bereits, während eine Hand die Lade ihres Nachttisches öffnete.

„Piraten!“, bestätigte Caroline mit bebenden Lippen und sie begann Korsett und Kleid zu suchen. Eleanor holte eine kleine Pistole aus dem Nachttisch und begann sie fieberhaft zu laden, während sie unwillig das Korsett ablehnte.

„Bring mir ein Kleid ohne Korsett“, forderte sie, „dafür ist jetzt keine Zeit. Wo ist meine Mutter?“

„Aber, Miss“, begann Caroline, anscheinend schockierter über den Bruch des Protokolls als über den Angriff der Piraten. Ein scharfer Blick Eleanors ließ sie verstummen und ein schlichtes Hauskleid holen, dessen rundes Dekolleté und lange Ärmel alle modischen Vorschriften brach.

„Ihre Mutter hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert“, sagte Caroline mit zitternder Stimme. „Wir sollen dasselbe tun.“

Eilig schlüpfte Eleanor aus dem Nachthemd und lehnte den formgebenden Unterrock mit einem heftigen Kopfschütteln ab. Das etwas raue Leinen fühlte sich seltsam auf der nackten Haut an, doch Eleanor ignorierte das unangenehme Gefühl, während sie die Pistole in einer unauffälligen Rocktasche unterbrachte. Das kalte Metall der Pistole presste beruhigend und schwer gegen ihr Bein, als sie in die Reitstiefel stieg, die Caroline ihr brachte. Anscheinend hatte die Zofe ihren Verstand wiedergefunden.

„Sie müssen sich verstecken.“ Caroline verschränkte nervös die Arme vor der Brust und sah erneut zur Tür. Jetzt, da Eleanor sich in der Sicherheit ihrer Kleidung befand, nahm sie sich die Zeit zu lauschen und spürte den kalten Knoten der Angst in ihrem Bauch.

Schreie gellten von oben, gemischt mit dem Klirren der Schwerter und dem Donnern der Gewehre. Manchmal hob sich eine Stimme über das Geräusch der Todesschreie und bellte unverständliche Befehle, was Eleanor im gleichen Maße beruhigte und noch mehr verstörte.

Schreie waren in ihrem geordneten, zivilisierten Leben, voll von Tanz und Spitzentüchern noch nie vorgekommen und sie stellte fest, dass sie gut auf diese Erfahrung hätte verzichten können.

„Miss.“ Caroline berührte ihren Arm und Eleanor sah in die furchtgeweiteten Augen ihrer Zofe.

„Ganz ruhig“, sagte sie und drückte die Hand der jungen Frau, die nur wenig älter als sie selbst war. „Wir werden von den besten Soldaten dieser Welt beschützt. Ein paar Piraten werden sie nicht besiegen können.“

Wenn sie nur ihren eigenen Worten glauben könnte – doch dem zweifelnden Blick, den ihr Caroline zuwarf, entnahm sie, dass sie nicht so überzeugend geklungen hatte, wie sie es hatte tun wollen. Ihr rasender Herzschlag brachte ihre Hände zum Zittern und kalter Angstschweiß sammelte sich auf ihrer Haut, der sie zum Schaudern brachte.

„Wenn sie uns kriegen“, flüsterte Caroline, den Blick auf die Tür gerichtet, „dann nehmen Sie Ihre Pistole und sorgen Sie dafür, dass wir wenigstens unbefleckt in den Tod gehen.“

Nein, wollte Eleanor schreien, doch ihre Stimme versagte, als sie diese Möglichkeit in Betracht zog. Deutlich standen ihr die Warnungen ihrer Gouvernante in Erinnerung, die Geschichten über gefallene Frauen und die Hetzreden des Bischofs, der von der Kanzel herunter über die Schandtaten von Frauen und Männern geurteilt hatte.

Fast unwillkürlich spannten sich ihre klammen Finger um den sich langsam erwärmenden Griff der Pistole, als sie Carolines wildentschlossenen, doch panischen Blick erwiderte und wie gelähmt nickte.

„Gut“, flüsterte ihre Zofe und drückte ihre Hand, so etwas wie Dankbarkeit im Blick. Stumpf vor Angst erwiderte Eleanor die Berührung, dann sah sie wieder zur Tür. Es war ruhiger geworden und die Furcht vor dem, was die Stille bedeuten könnte, drang durch die stumpfe, besinnungslose Angst, die sie ergriffen hatte.

„Wir sollten die Tür verrammeln.“ Eleanor brachte die Worte fast nicht über ihre trockenen Lippen, doch Caroline nickte heftig. Die beiden Frauen stemmten sich wortlos gegen eine Kommode, die neben der Tür stand und versuchten sie von der Stelle zu bewegen.

Sie war schwer und die Arme von Eleanor begannen bereits zu schmerzen, als sie sich mit einem lauten Rumpeln über die polierten Holzbretter bewegte.

Sowohl Caroline als auch Eleanor erstarrten bei dem lauten Geräusch, dann warfen sie sich verzweifelt noch heftiger gegen die Kommode, bemüht sie so schnell wie möglich vor die Tür zu bekommen.

Männerstimmen drangen über das Rumpeln des Möbelstückes, dann erklang ein heiseres Lachen, das Eleanor dazu brachte für einen Moment zu lauschen, bevor sie sich nur noch panischer gegen die Kommode stemmte. Die Kante verfing sich mit dem Türrahmen und beim nächsten Stoß verschob sich die Kommode, so dass sie schief stand.

„Nein“, wisperte Eleanor, ihre Kehle schnürte sich vor Entsetzen zusammen. Die Türklinke bewegte sich, dann rüttelte jemand an der Tür.

„Miss Stapleton?“, rief eine heisere Männerstimme durch das Holz. „Machen Sie die Tür auf.“

Eleanor wechselte einen Blick mit Caroline, der Erleichterung deutlich in ihr Gesicht geschrieben stand, doch der kalte Klumpen Angst wollte nicht verschwinden. Irgendetwas stimmte nicht.

„Nennen Sie Ihren Namen und Ihren Rang!“, verlangte sie und ihre zitternden Finger schlossen sich um den schweißnassen Griff ihrer Pistole.

Stille antwortete ihr von der anderen Seite der Tür, dann ertönte wieder dieses heisere Gelächter, durchbrochen von einem Schuss.

Die Tür flog auf, das Schloss zerschossen und nutzlos und ein Mann trat grinsend ins Zimmer, die zweiläufige Pistole in der linken Hand, einen blutbefleckten Säbel in der rechten. Eine Narbe zeichnete sein Gesicht, das mit Blutsprenkeln bedeckt war; eine ehemals blonde Haarsträhne, die durch Blut verklebt und verkrustet war, hing ihm in die Stirn.

Caroline schrie auf, wich panisch zurück, knallte gegen die Wand, als könnte sie durch das Holz hindurch fliehen, während Eleanor wie erstarrt den Piraten ansah, der sie wölfisch angrinste, das Gesicht durch das Grinsen noch entstellter als zuvor.

Rauschende Panik dröhnte durch ihre Ohren, als er auf sie zukam und löschte jeden Gedanken aus, während sie langsam zurückwich, bis sie gegen die Wand stieß, neben sich das Fenster, durch welches sie das graue Meer aus ihren Augenwinkeln sehen konnte.

Und spürte die Pistole in ihrer Hand, warm geworden durch ihre Körperwärme.

„Was für ein kluges Mädchen Sie doch sind, Miss Stapleton“, schnurrte der Pirat und ihr wurde klar, was ihr Angst gemacht hatte - die gedehnte, nuschelnde Aussprache, in der pure Respektlosigkeit mitschwang.

Warum ihr dies plötzlich so klar in Gedanken stand, kristallklar, als wäre dies der schrecklichste Fehler, den dieser Mörder je getan hatte, das wusste sie nicht, doch es kümmerte sie nicht - denn der betäubende Schleier der Angst wurde durch diese simple Tatsache durchbrochen.

Ihr Arm ruckte hoch, die Pistole fest in der Hand und das Grinsen auf dem Gesicht des Piraten gefror, als sie den Hahn spannte, abdrückte und Pulvergeruch das Zimmer füllte.

2.

Miss Eleanor stand in der Kajüte, den Rücken so gerade, dass es schmerzte und versuchte ihre Contenance zu halten. Doch die Furcht umschlang ihre Kehle in einem würgenden Griff und brachte sie an den Rand der Tränen. Heftig blinzelte sie und verfluchte den heftigen Rückstoß der Pistole, der sie dazu gebracht hatte, den Piraten zu verfehlen.

Dem Piraten war es ein leichtes gewesen sie danach zu überwältigen und von einem Schiff aufs nächste zu verfrachten. Der einzige Trost, den Eleanor hatte, war, dass Caroline am Leben war - panisch und verängstigt in einer Ecke, doch am Leben. Und sie bezweifelte, dass man ihr etwas angetan hatte, hatte der Pirat, der anscheinend der Kapitän dieser lausigen Bande war, sofort den Befehl zum Segelsetzen gegeben, als er sie über das vom Blut rutschige Deck gezerrt hatte.

Übelkeit überwältigte Eleanor, als sie sich an die grauenhaft zugerichteten Leichen der Soldaten erinnerte, an den widerlichen Gestank von Blut und menschlichen Ausscheidungen, die sich im Tod entleert hatten. Das Bild eines jungen Soldaten stand ihr vor Augen, die Augen trüb und tot, doch das Gesicht fast unverletzt. Seine Bauchdecke war aufgeschlitzt gewesen, die Gedärme in einem glitschigen Haufen auf dem Holz und seine Hände - seine Hände hatten sich darum geschlungen, als hätte er versucht, sie wieder zurück in seinen Körper zu schieben.

Würgend schlang Eleanor die Arme um ihren Körper, beugte sich nach vorne, als könnte sie der Erinnerung so entgehen, doch hinter ihren geschlossenen Lidern spulten sich die Bilder in einer ewigen Reihenfolge ab, bis ein gequältes Wimmern durch den Raum drang, das sie erschrocken als ihr eigenes erkannte.

Was würden Piraten, die zu solchen Taten fähig waren, mit ihr anstellen? Was hatten sie vor? Wohin brachten sie sie? Wo war ihre Mutter? Hatten sie ihr etwas angetan?

Sie hatten nichts erbeutet, denn sonst hatte nichts das Schiff gewechselt - sie war das einzige, was gestohlen worden war. Und so schön es sonst war, einzigartig zu sein - dieses Mal wünschte sie sich es nicht zu sein.

Den Kampf gegen die Tränen verlierend rollte sich Eleanor in einer Ecke zusammen, gänzlich undamenhaft die Arme um die Beine geschlungen und schluchzte.

 

Es wurde dunkel in der Kajüte, als sie sich aus ihrer Erstarrung riss und sich für ihre Schwäche am liebsten geohrfeigt hätte.

Sie war am Leben. Sie war nicht geschändet geworden. Und sie war aus irgendeinem Grund in der Kajüte des Piratenkapitäns, der sicherlich irgendwo ein Messer versteckt hatte.

Voller sturer Entschlossenheit erhob sie sich und begann Schubladen und Schranktüren zu öffnen. Zuerst ging sie mit einer gewissen Sorgfalt vor, doch dann ging ihr Temperament mit ihr durch, das sie heute so schmählich im Stich gelassen hatte. Rücksichtslos kippte sie Schubladen um, warf Papiere, Federhalter und leere Flaschen zu Boden und riss Männerkleidung aus den Kästen.

Manchmal fuhr sie angeekelt zusammen, wenn sie ein verschimmeltes Stück Brot oder schwarz verfärbtes, vertrocknetes Obst fand, die sie in einer Ecke im Zimmer sammelte.

„Schwein“, flüsterte sie leise und ihre Miene erhellte sich bei der Möglichkeit ungestraft fluchen zu können. Wenn es eine Zeit für Flüche gab, dann wohl diese.

„Esel“, versuchte sie es weiter. „Misthaufen. Kakerlake. Ratte. Vorausplanende Ratte.“ Das Zimmer war frei von Waffen, außer sie wollte ihn mit einem Federhalter erstechen.

Ihr Blick fiel auf das Bett und ohne lange zu zögern, zerrte sie Decke und Polster herunter, bis sie schließlich unter die überraschend weiche Matratze griff. Ihre tastenden Finger berührten kaltes Metall. „Du magst vielleicht klug sein“, knurrte sie, „aber nicht klug genug.“ Triumphierend zog sie einen - Löffel hervor.

Fassungslos betrachtete sie das Stück Silber, als hinter ihr ein langsames, spottendes Klatschen ertönte. Erschrocken fuhr sie herum, den Löffel wie einen Schild vor sich erhoben und erblickte den blonden Piraten mit der Narbe, der das Blut anscheinend von sich abgewaschen hatte und grinsend gegen den Türrahmen gelehnt da stand.

„Beeindruckend, Miss Stapleton“, sagte er in seinem langgezogenen, schlampigen Englisch. „Ich suche diesen Löffel schon seit einiger Zeit. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“ Er stieß sich von der Tür ab und kam näher, in dem wiegenden Gang eines Seemannes.

Panisch wich Eleanor zurück, bis sie erneut von der Wand gestoppt wurde. So langsam lernte sie Wände zu hassen.

In der Hand hielt er einen schweren Krug, den er gemeinsam mit einem Teller auf den Tisch stellte. „Ihr Essen, Miss Stapleton.“ Er vollführte eine spöttische Verbeugung. Der harte Griff des Löffels schnitt in Eleanors Handfläche, so fest umklammerte sie die lächerliche Waffe und die überbordende Wut, die in ihr hochkochte, schnitt ihr die Luft ab und machte alle Schimpfwörter, die sie ihm an den Kopf werfen wollte, zunichte.

Der Pirat betrachtete sie, wie sie sprachlos auf dem Bett saß und ein hässliches Grinsen breitete sich auf seinem gezeichneten Gesicht aus. „Oh, Miss Stapleton, wenn Sie schon so freundlich sind und auf meinem Bett sitzen, dann kommen mir gleich einige Ideen, wie wir uns die Reise verkürzen können.“

Er machte einen Schritt auf sie zu, Hohn deutlich in seinen grauen Augen, die in der eintretenden Nacht dunkler erschienen. Fassungslos benötigte Eleanor einen Moment die Worte zu verarbeiten, dann wollte sie mit einem leisen, erbärmlichen Wimmern aufspringen, verhedderte sich in der Decke, kippte nach vorne und griff ins Leere.

Mit einem Krachen kam sie auf dem harten Boden auf und Schmerz explodierte in ihrem Kopf.

Sie spürte raue, warme Hände auf ihrem Körper, dann wurde sie aufgehoben, schwebte, bis sie sich auf einem sicheren, warmen Platz befand, zwei Arme fest um sie geschlungen. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als sie gequält ihre Augen öffnete und heftig blinzelte. Ein Gesicht schwebte über ihr und ihr wurde bewusst, dass sie sich auf dem Schoß des Piraten befand.

„Meine Güte“, murmelte seine heisere Stimme, „das war ein Scherz. Ihr englischen Ladys müsst auch alles immer viel zu ernst nehmen.“

Eleanor presste die Augen wieder zu, dann riss sie sie wieder auf. Das Gesicht war immer noch da, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen eingegraben und unverhohlene Besorgnis in den Augen.

„Lass mich los“, fuhr sie ihn an, stieß mit ihren Händen gegen einen kräftigen Brustkorb und strampelte hilflos mit ihren Beinen in der Luft herum.

„Autsch“, entfuhr dem Piraten, als sie mit ihren gepflegten, langen Fingernägeln in sein Gesicht fuhr, ihn heftig an der Wange kratzte und eine große, feste Hand schloss sich um ihre schlanken Handgelenke. „Himmelherrgott noch mal, reiß dich zusammen, Weib!“

„Weib?“, fuhr Eleanor auf. Sie war noch nie als „Weib“ bezeichnet worden und sie war sich ziemlich sicher, dass es ihr nicht gefiel. „Stinkender Bukanier! Ratte! Wüstling!“

„Wüstling?“, wiederholte der Pirat und grinste schon wieder. Hilflos schnappte Eleanor nach Luft. Wüstling - nun ja, das war vielleicht nicht so zutreffend. „Weib, halt deinen Mund, atme tief durch und dann setz dich hin und iss.“

Eleanor öffnete den Mund, griff wieder in ihre Schimpfwörtertruhe und der Pirat nagelte sie mit einem eisernen Blick an Ort und Stelle fest. „Halt den Mund oder ich stopfe ihn dir.“

Damit schubste er sie von seinem Schoß und Eleanor taumelte ein paar Schritte durch den Raum, bis sie den Schreibtisch zu fassen bekam und ihr Gleichgewicht wiederfand. Ihr Kopf schmerzte und ihr war etwas schwindelig, doch davon abgesehen, schien sie sich bei ihrem Sturz nicht wehgetan zu haben.

„Setzen“, kommandierte der Pirat und ihre Knie beugten sich schon automatisch um seinen Befehl Folge zu leisten, als sie sich wieder fing und ihm einen wütenden Blick zuwarf.

„Hör auf mir Befehle zu erteilen, du“, Eleanor suchte nach einem geeigneten Schimpfwort, doch da ihr keines einfallen wollte, nahm sie Zuflucht zu einem wohlbekannten, „Ratte“, zischte sie mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte.

Er sah sie mit unverkennbarer Belustigung an, was Eleanor nur noch mehr aufbrachte.

Die Angst, die sie zuvor im Griff gehalten hatte, war heißer Wut gewichen und zum ersten Mal hatte sie das Bedürfnis einem anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Wer auch immer diesem Piraten die Narbe beigebracht hatte - er hatte nicht gut genug gezielt! Er hätte seinen Kopf spalten sollen - „Das ist vielleicht ein blutrünstiger Blick“, unterbrach der Pirat ihre Gedankengänge. Sie schenkte ihm einen flammenden Blick und reckte das Kinn vor, als er nur noch amüsierter lächelte.

„Lady.“ Er kam ein bisschen näher und Eleanor blieb standhaft stehen, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Sie würde vor einem dreckigen Piraten nicht zurückweichen! „Sei brav, mach Sitz und ich muss dir nicht wehtun.“ Er streckte eine Hand aus, berührte ihre offenen Locken, die sie heute in der Früh nicht mehr hochgesteckt hatte und zupfte an einer Strähne.

Erstarrt blieb Eleanor stehen wie ein Kaninchen im Visier des Jägers, das nicht mehr laufen konnte. Seine Hände waren überraschend sauber, wenn auch von Narben und Schwielen bedeckt, dennoch ließ er die Locken fast sanft durch seine Finger gleiten, als er sie angrinste.

Wie mit dem Boden verwachsen sah Eleanor zu ihm hoch.

Spott stand in den grauen Augen, doch auch etwas Weicheres, das ihr nur noch mehr Angst machte, als sie seinen Blick erwiderte.

Dann durchfuhr ein scharfer Schmerz ihre Kopfhaut, als er an ihrer Locke anzog und ein erschrockenes Keuchen entfuhr ihr, als er sich von ihr abwandte, das Gesicht plötzlich ernst und kalt. „Setzen“, wiederholte er und dieses Mal gehorchte Eleanor seinem Befehl, als wäre sie ein gut trainierter Hund.

„Essen.“ Er schob ihr den Krug und den Teller mit dem grauen, bröseligen Zwieback und einer aufgeschnittenen, runzligen Zitrone zu.

Eleanor betrachtete das Essen, dann hob sie den Kopf und blickte den Piraten an, der sich entspannt in den zweiten Stuhl gesetzt hatte und die Beine, die in dreckigen Stiefeln steckten, auf der Tischplatte überschlagen hatte.

„Ich würde es vorziehen, wenn Sie die Füße vom Tisch nehmen würden“, sagte Eleanor steif und suchte Zuflucht in den Umgangsformen ihrer Heimat. England. London. Sie wollte zurück in ihr enges, luftabschnürendes Korsett, mit gepuderten Haaren und umgeben vom Geruch von Lavendelparfüm und ungewaschenen Körpern.

Sie wollte sich nicht so seltsam nackt ohne Unterrock und ohne Korsett in der Gegenwart dieses Piraten fühlen, dem der Geruch nach Rum, Meer und Schießpulver anhaftete und auf dessen ehemals weißen, jetzt grauen Hemd braune Blutflecken getrocknet waren.

Der Mann starrte sie an, dann lachte er erneut mit diesem elenden, heiseren Lachen, das Eleanor einen Schauer über den Rücken jagte. Doch sie blieb aufrecht sitzen, den Rücken gerade, die Hände sittsam im Schoß gefaltet, während sie seinen höhnischen Blick stur erwiderte.

„Miss Stapleton“, sagte er spottend und nahm die Füße vom Tisch, ließ sie schwer auf den Bretterboden knallen, „ich bitte um Verzeihung.“ Er beugte sich vor, immer noch mit diesem Grinsen auf dem Gesicht, das Eleanor an das Zähnefletschen eines Wolfes erinnerte und nahm eine schlichte, braune Pfeife vom Tisch.

Dann lehnte er sich wieder zurück, die Füße zwar fest am Boden, doch die Knie zu den Seiten gedreht, in der Pose eines Mannes, der wusste, dass er am längeren Hebel saß und begann seine Pfeife zu stopfen. Eleanor saß immer noch wie erstarrt in ihrer hochaufgerichteten Haltung da, dann senkte sie den Blick wieder auf das kärgliche Mal, das vor ihr stand.

Widerwillig spähte sie in den Krug und verzog angewidert das Gesicht bei der bräunlichen, trüben Flüssigkeit darin, auf der ein dünner Schaumfilm schwamm.

„Bier“, sagte der Mann, als er eine Rauchwolke ausatmete. „Wasser ist aus.“

Bier? Dieses widerliche, braune Gesöff, das von den Bauern getrunken wurde, die sich nichts Besseres leisten konnten? Das sollte sie trinken? Eleanor mochte zwar nicht der Crème de la Crème des tons angehören, da ihr Vater nur in den Ritterstand erhoben worden war und nicht einmal einen vererbbaren Titel innehatte, aber bei dem Gedanken dieses Armengebräu zu trinken, sträubten sich ihr die Haare.

Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Zwieback und biss vorsichtig einen kleinen Bissen ab. Sand und Brösel schienen ihren Mund zu füllen, der ohnehin schon trocken durch ihre Angst war und machten es unmöglich zu schlucken. Verzweifelt hielt sie den Mund geschlossen und versuchte etwas Speichel in ihrer Mundhöhle zu sammeln, während sie zugleich angewidert und sehnsuchtsvoll das Bier beäugte.

Ein seltsames, schnaubendes Geräusch brachte sie dazu, dem Piraten einen Blick zuzuwerfen, der unverkennbar belustigt seine Pfeife paffte und ihren verzweifelten Kampf mit vornehmer englischer Zurückhaltung beobachtete. Ein Brösel fand den Weg in ihre Kehle und ein unterdrücktes Husten entkam ihr, als sie versuchte zu schlucken.

Hochrot im Gesicht vor Scham und Verzweiflung griff sie nach dem Bier und nahm einen vorsichtigen Schluck. Die zähflüssige, schockierend süße Flüssigkeit befeuchtete ihren Mund und befreite sie von dem Hustenreiz, doch ein Blick zum Piraten trieb ihr nur noch größere Röte der Wut und Scham ins Gesicht.

„Da Sie jetzt endlich gefüttert und getränkt sind“, spottete der Pirat und Eleanor ballte die Hand fest um ein Stück bröseligen Zwieback, den sie gerade zu ihrem Mund führte, sodass kleine Brösel auf ihr Kleid und Dekolleté fielen, „kommen wir zu den Vorstellungen.“ Er tippte sich beiläufig an den Hut. „Mein Name ist Black Wolf, Capt’n der Léona. Sie sind Miss Stapleton, die Tochter William Stapletons, Gouverneur von Antigua.“

„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite.“ Capt’n Black Wolf - nein, der stinkende, dreckige Pirat, der überraschend weiße Zähne hatte, schnurrte die Worte mehr als dass er sie aussprach. Ein Schauer ergriff Eleanor, als sie das Glühen in seinem Blick verstand - pure, nackte Begierde, die sie in gezähmter Form in den Augen ihrer Freier gesehen hatte und die es ihm zu ermöglichen schien, durch den dunkelblauen Stoff ihres Kleides zu sehen.

Sie war diesem Mann ausgeliefert.

„Miss Stapleton“, selbst seine Stimme hatte den Spott verloren und wirkte aufrichtig in der Ruhe und dem Ernst, der in seinen Worten mitschwang, „solange Sie sich auf meinem Schiff befinden, wird Ihnen kein Leid geschehen. Sofern Sie mit mir kooperieren“, er sprach das lange Wort etwas zögerlich aus, als wäre er es nicht gewohnt, es zu verwenden, „sind Sie hier ebenso sicher wie im Hause Ihres Vaters.“

„Ihr Vater hat einen meiner Männer gefangen genommen“, begann er schließlich und Eleanor verstand, worüber er nachgedacht hatte, als ihr seine sorgfältige, ordentliche Aussprache auffiel. Sein Versuch seinen Dialekt in ihrer Gegenwart zu verlieren und sich ihrer Sprache anzupassen, rührte sie, während ein anderer Teil von ihr auf das Furchtbare wartete, das er ihr antun würde.

Erwartungsvoll sah er sie an, während Eleanor seine Worte verarbeitete, bevor sie nickte, heftig und ruckartig. Also hing ihr Leben von der Gnade ihres Vaters ab, den sie noch nie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Was würde er tun? Wäre seine einzige Tochter wichtig genug, um einen Piraten laufen zu lassen?

„Sie sehen also, Miss Stapleton“, er klang fast erleichtert, „Sie haben weder von mir noch von meinen Männern etwas Schlimmeres zu befürchten als den gelegentlichen Bruch der Etikette, wenn ich in Gegenwart Ihrer zarten Ohren zu fluchen beginnen sollte.“

Dennoch löste sie den Blick von dem grauen Zwieback, sah in die so ehrlich wirkenden Augen des Piratenkapitäns. Und nickte, während ihr Herz vor Angst raste. Doch gleichzeitig erblühte eine kleine Pflanze der Hoffnung in ihrer Brust, als sie erkannte, dass ihre Gefangenschaft nur eine kurze sein würde.