image

Volker Harry Altwasser

Letzte Haut

Volker Harry Altwasser

LETZTE
HAUT

Roman

image

Meinen mir unbekannten Großvätern.

VERDÄCHTIGT

I

Wer handle, brauche nicht zu hoffen. Wer hoffe, handle nicht. Wahrheit sei, was sich auszahle. Kurt Schmelz stellte kurz entschlossen den rechten Fuß auf die nächste Stufe, zog sich mit der freien Hand am Geländer hoch und überstieg, wieder in Schwung gekommen, mit dem anderen Fuß sogleich die nächste Stufe. Na bitte! Hielt er nicht durch? Er hielt durch! Mal wieder! Doktor Kurt Schmelz ließ die Kellertür ins Schloss fallen und gönnte sich im Flur des Mietshauses Nummer hundertfünfundzwanzig eine Pause.

Das Haus hatte vor fast vierzig Jahren die Luftangriffe auf Frankfurt überstanden, die Bodenkacheln waren poliert aber blind, die Holzstufen sauber aber ausgetreten, und das Geländer knarrte, wenn Kurt Schmelz sich an ihm hoch in seine Wohnung zog. Vor einigen Wochen hatte er mit seiner Frau Anna den dreißigsten Hochzeitstag gefeiert, still und rückblickend. Vielleicht hatten sie da sogar zum ersten Mal über den Krieg und über den Nürnberger Prozess geredet, Kurt Schmelz war sich nicht mehr sicher, doch was er genau wusste war, dass sie zum ersten Mal über ihre Kinderlosigkeit gesprochen hatten. Natürlich war er aufbrausend geworden, verdammt noch mal, warum sollte ihn denn immer alle Schuld treffen? Der Zweiundsiebzigjährige Kurt Schmelz schüttelte erbost den Kopf und löste den Haken der offenstehenden Haustür, die mit einem saugenden Geräusch, das mit dumpfem Schlag endete, ins Schloss fiel. Und nun war sie weg, ausgezogen, durch diese Tür da marschiert, und ihre Koffer waren schon gepackt gewesen! Das musste man sich mal vorstellen! Seit wann waren die Koffer seiner Frau gepackt gewesen? Dass Frauen nie ehrlich und geradeaus sein konnten. Einfach weg.

Jetzt hatte er natürlich wieder Schuld! Schuld, wenn ihr künstliches Hüftgelenk versagte und sie mitten auf einer Kreuzung im Straßenverkehr stürzte. Schuld, er habe eine ganz andere Schuld, das ahnte er, und es war diese Ahnung gewesen, die ihn hinab in den Keller getrieben hatte, um diese vergilbten Blätter heraufzuholen. Doktor Kurt Schmelz wollte der Sache nun auf den Grund gehen, ehe es zu spät wäre. Er wollte sich erinnern, denn das Erinnern war eine Art Handlung, und zu handeln, das war nun mal sein Naturell. Schon immer gewesen. Tatsachen schaffen! Tatsachen schaffen und die Konsequenzen aushalten, so hatte er sein Leben bestritten, und so wollte er es auch beenden. Der letzten Konsequenz, Doktor Kurt Schmelz spürte, es sei an der Zeit, sich ihr zu stellen.

Die Hoffnung auf das Vergessen war gescheitert und vielleicht, Schmelz war sich da nicht mehr so sicher, gab es im Leben so etwas wie das Vergessen gar nicht. Vielleicht war das Vergessen nur ein Handlungselement aus dem Totenreich, von dem einst blinde Dichter gesungen hatten. Ob jemand wirklich je etwas vergessen hatte oder ob alle nur stets vorgetäuscht hatten, vergessen zu haben, das war unmöglich nachzuprüfen. Du hast vergessen, wir haben vergessen, das waren nur theoretische Formeln. Die einzig praktische Formel, und nur das Praktische ließ Kurt Schmelz seit jeher gelten, lautete: Ich habe vergessen. Doch das, das war nichts weiter als eine Behauptung. Nichts weiter. Und setzte man diese Behauptung mit der Behauptung gleich, du bist vergessen, schloss man also alle anderen Möglichkeiten mit dem ›Prinzip der Ausschließlichkeit‹ aus, so war Behauptung Nummer eins als Lüge entlarvt, denn Behauptung Nummer zwei war ja gelogen. Oder wie sollte das praktisch aussehen, jemandem ins Gesicht zu sagen: Du bist vergessen. Kurt Schmelz musste in sich hinein lächeln. Dieser Satz, der nicht mehr als eine leere Drohung war. Genau das war er! Eine leere Drohung. Genauso hilflos wie die vom Tod: Du bist tot. Eine Behauptung.

Auf so etwas können auch nur Dichter kommen, dachte Schmelz, die keine Zuhörer brauchen. Er setzte sich auf die untere Stufe, starrte eine ganze Weile auf die Haustür, ehe er einen Blick auf den Bericht von Doktor Tarnat warf:

19. 11. 1944

Hauptsturmfuehrer Doktor Schmelz,

die geographische Lage von Auschwitz auf der Karte zu finden, bereitete mir einige Schwierigkeiten, aber schliesslich stand ich eines Vormittags auf dem Bahnhof dieses kleinen Ortes. Irgendwie hatte ich ja gedacht, wo etwas so Unvorstellbares, Unsagbares, Ungeheuerliches vorgeht, da muss es irgendwie auch Spuren geben, aber stellen Sie sich den Ort als kleine Stadt mit grossem Durchgangsund Verschiebebahnhof vor, aehnlich Bebra!

Dauernd gehen Zuege durch, Truppentransporte nach Osten, Verwundetentransporte zurueck. Kohlenzuege, Erzzuege, Gueterzuege, auch Personenzuege. Die Menschen steigen um, die jungen lustig, die alten muerrisch, alle abgearbeitet, als waere es die alltaeglichste Sache der Welt.

Ich sah auch die gestreiften Anzuege der Haeftlingstransporte, die aber alle von Auschwitz weggingen. Es kam keiner an!

Allerdings ist das Konzentrationslager nicht zu uebersehen. Von aussen bot es den gleichen Anblick, wie wir ihn schon von anderen Lagern kennen: Hohe Mauern, Stacheldraht, Wachtuerme, Posten, die auf und abgehen, ein Tor, geschaeftiges Treiben der Haeftlinge, nichts Auffaelliges.

Ich meldete mich beim Kommandanten, Obersturmbannfuehrer Hoess, ein etwas untersetzter, wortkarger, einsilbiger Mann mit steinernem Gesicht.

Mein Ankommen hatte ich durch Fernschreiben angekuendigt und eroeffnete ihm, dass ich hier Untersuchungen zu fuehren habe. Er antwortete, sinngemaess, dass ihnen hier eine ungeheure harte Aufgabe übertragen sei, der charakterlich nicht alle gewachsen seien, und fragte, wo ich beginnen wolle. Ich sagte, zuerst muesse ich mir einen Ueberblick verschaffen, worauf er auf den Dienstplan sah, einen Hauptsturmfuehrer herbei telefonierte, der mich durch das ganze Lager fuhr. Ich sah alles!

Und ich begann mit dem Ende, die Rampe in Birkenau. Sie sah wie jede andere Rampe eines Gueterbahnhofs aus. Keine besonderen Vorkehrungen, weshalb ich meinen Fuehrer nach dem Ablauf befragte: Kurz vor Eintreffen wird der Transport, meist Juden, dem Lager gemeldet. Es rueckt eine Wachmannschaft aus, die Gleise und Rampe absperrt. Die Tueren der Waggons werden geoeffnet. Die Ankoemmlinge steigen aus, setzen ihr Gepaeck ab. Maenner und Frauen getrennt.

Es wird nach Rabbinern gefragt. Rabbiner und sonstige bedeutende Persoenlichkeiten werden ausgesondert und in eine Baracke gebracht, die sie für sich haben. Ich habe sie persoenlich gesehen, sie ist gut erhalten, keiner der Bewohner muss arbeiten, es wird lediglich von ihnen erwartet, dass sie moeglichst viele Briefe und Postkartengruesse aus Auschwitz in die weite Welt schicken. Um jeden Verdacht von vorne herein zu zerstreuen. Vielleicht ist so auch zu erklaeren, warum die Juden alle so arglos herkommen?

Dann wird nach Spezialisten gefragt, das Lager ist ja mit grossen Industriebetrieben verbunden, und der Rest wird nach arbeitsfaehig und nicht arbeitsfaehig getrennt. Die Arbeitsfaehigen marschieren zu Fuss ins Lager und werden regulaer als Haeftlinge aufgenommen, eingekleidet und eingeteilt. Die andere Gruppe wird auf Lastwagen verfrachtet und wird sofort, ohne namentliche Erfassung, in die Gaskammern von Birkenau gebracht.

Es gibt hier einen schwarzen Witz: Wenn man keine Zeit habe oder kein Arzt da sei oder zu viele Ankoemmlinge da seien, dann verkuerze man gelegentlich die Prozedur, indem man ausrufe, in moeglichst hoeflichen Worten, das Lager sei einige Kilometer entfernt, wer sich krank oder schwach fuehle, oder wem das Gehen zu unbequem sei, moege auf den Lastkraftwagen Platz nehmen. Meistens setze dann ein Massenansturm auf die Autos ein. Nur die, die nicht mitkommen, koennen ins Lager marschieren, die anderen haben unbewusst den Tod gewaehlt.

Von der Rampe folgte ich dem Weg der Todesfracht nach Birkenau. Aeusserlich auch nichts Auffaelliges: Ein grosser Maschendrahtzaun, etwas windschief, mit nur einem Posten. Dahinter das so genannte Lager „Kanada“, wo die Effekten der Opfer durchsucht, geordnet, weiter verwendet werden.

Vom letzten Transport sah ich eine Menge aufgebrochener Koffer, Waeschestuecke, Aktentaschen, ganze Zahnarzteinrichtungen, Schustereinrichtungen, Medikamententaschen liegen.

Die so genannten Evakuierten sind wirklich der Auffassung, sie wuerden im Osten angesiedelt, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Hinter „Kanada“ sind die Krematorien: Einstoeckige Hallen mit Satteldaechern, die genauso gut Werkschuppen oder kleine Werkstaetten sein koennten. Selbst die breiten, massiven Schornsteine brauchen dem Laien nicht aufzufallen, denn sie sind sehr niedrig, enden kurz über dem Dach. Auf der Seite, wo die LKW anfahren, ist der Boden schraeg vertieft, etwa in Schulhofgroesse, mit Schlacke bestreut. Fahren die Autos in die Hallen, stellt der Aussenstehende nur fest, dass sie ploetzlich in einer Bodensenkung verschwunden sind, ohne selbst feststellen zu koennen, wo die Transporte geblieben sind.

Also wieder eine dieser raffinierten, aber im Grunde primitiven Vorsichtsmassnahmen, die man als roten Faden durch die ganze Organisation immer wieder feststellen kann.

Im Hof fand ich ein Rudel, man muss schon sagen, ein Rudel juedischer Haeftlinge mit gelbem Stern vor, mit ihrem Kapo, der einen langen Knueppel trug, das uns sofort umkreiste, dauernd im Kreis herumlief, gegenwaertig, jeden Befehl und jeden Blick zu erhaschen.

Mich durchfuhr der Gedanke, wie ein Rudel Schaeferhunde, den ich aussprach, worauf mein Fuehrer loslachte und meinte, genau das sei auch ihre Aufgabe: Die Todesopfer sollen erst mal, beim Anblick ihrer Glaubensgenossen, Vertrauen haben. Dieses Kommando hat auch die Aufgabe, ja nicht zu schlagen, damit ja keine Panik ausbraeche. Vor einer Panik, die den Ablauf stoeren wuerde, hat man hier mehr Angst als vor allem anderen. Das Kommando soll den Todesopfern ein wenig Angst machen, damit sie Respekt haben, aber eigentlich nur einfach da sein, und die Opfer leiten und fuehren.

Hinter dem Hof ist das grosse Tor, dahinter die Umkleideraeume, aehnlich denen von Turnhallen: Holzbaenke, Kleiderrechen, auffaellig ist nur, jeder Platz ist nummeriert und hat eine Garderobenmarke. Man schaerft den Todesopfern ein, ja auf ihre Marken aufzupassen. Alles nur, damit nicht noch im letzten Moment Panik ausbraeche. An der Wand ist ein grosser Pfeil, der auf einen Gang weist, über dem ganz kurz und buendig steht: ‚Zu den Duschen‘. (Ich habe zuerst gelesen, zu den Deutschen, und mich sehr erschrocken.) In sechs oder sieben Sprachen. Man sagt denen also, kleidet euch aus, ihr werdet geduscht und desinfiziert.

Den Gang entlang lagen verschiedene Kammern ohne jede Einrichtung, kahl, nackt, Zementfussboden. Auffaellig und zunaechst unerklaerlich ist ein vergitterter Schacht, der in der Mitte dieser Kammern ist und bis zur Decke reicht. Erst hatte ich keine Erklaerung, dann sagte man mir, vom Dach aus wird durch diesen Schacht Gas, in kristalliner Form, Zyklon B, in die Todeskammern gegossen. Bis zu diesem Moment sind die Haeftlinge also genauso ahnungslos wie ich, dann aber wird die Tuer geschlossen, und es ist freilich zu spaet.

Gegenueber den Todeskammern sind Leichenaufzuege, die zum ersten Stock fuehren, der von der anderen Seite aus zur ebenen Erde liegt.

Das eigentliche Krematorium ist ein riesiger Saal, der an einer Seite eine lange Reihe von Oefen hat. Geplaetteter Fussboden, alles atmet eine sachliche, neutrale, technische, wertfreie Atmosphaere aus. Spiegelblank, geleckt, einige Haeftlinge in Monteuranzuegen, die gerade Armaturen polierten, als ich da war, sonst alles still, alles leer.

Nachdem ich diese aeusseren Einrichtungen gesehen hatte und irgendwie SS gar nicht in Erscheinung getreten war, interessierte ich mich natuerlich fuer diese und wollte die SS Leute sehen und kennenlernen, die diesen ganzen Apparat verwalten und in Betrieb hielten, woraufhin mir ein kurzer Blick in die so genannte Wachstube von Birkenau gewaehrt wurde. – Und das hat in meinem Leben zum ersten Mal einen wirklichen Schock ausgeloest.

Eine Wachstube zeichnet sich bei allen Armeen durch Kargheit aus, spartanische Einfachheit, Schreibtisch, Anschlaege an der Wand, einige Pritschen für die Abloesung, Telefon, aber das hier, das war anders!:

Ein niedriger, etwas schummriger Raum. Bunt zusammengewuerfelte Couchen, auf denen malerisch einige SS Leute lagen, meist untere Fuehrungsdienstgrade, die mit glasigen Augen doesten. Statt eines Schreibtisches ein riesiger Hotelherd, auf dem vier Maedchen Kartoffelpuffer backten, offensichtlich Juedinnen, sehr schoene, orientalische Schoenheiten, vollbusig, feurige Augen, die keine Haeftlingskleidung trugen.

Diese brachten nun ihren Paschas die Puffer und fragten besorgt, ob auch genuegend Zucker drauf sei! Juedinnen fuetterten SS Leute!

Keiner nahm von mir oder meinem Lagerfuehrer, immerhin ein Hauptsturmfuehrer, Notiz. Keine Meldung, keiner liess sich stoeren, und ich traute meinen Ohren nicht, duzten sich weibliche Haeftlinge und SS doch gegenseitig!

Ich musste also ziemlich entgeistert meinen Begleiter angeschaut haben, der nur mit den Achseln zuckte und sagte: „Die Maenner haben eine schwere Nacht hinter sich. Sie hatte einige Transporte abzufertigen.“

Das hiess, dass waehrend ich im Zug nach Auschwitz stand, hier Tausende von Menschen vergast und verascht worden waren: Und nicht ein Staeubchen auf auch nur einer Ofenarmatur war übriggeblieben!

Nach Birkenau also habe ich einen Rundgang durchs Lager gemacht, was man so alles auf die Schnelle gezeigt bekommt: irgendeine gut ausgesuchte Haeftlingsbaracke, Kultureinrichtungen des Lagers, der Krankenbau. Ich liess mich dann natuerlich in den Bunker fuehren, wo mir ganz offen und bereitwillig die ‚Schwarze Wand‘ gezeigt wurde, der Ort der Erschiessungen.

Nachdem ich das Lager besichtigt hatte, es war jetzt spaeter Nachmittag, schritt ich zur Aktion und liess das ganze SS Krematoriumskommando in seiner Unterkunft vor den Spinden antreten und nahm eine Untersuchung vor: Goldene Ringe, Muenzen, Ketten, Kettchen, Perlen, so ziemlich saemtliche Waehrungen der Welt; bei dem einen so genannte ‚Souvenirs‘, bei den anderen kleine Vermoegen.

Was ich aber nicht erwartet hatte, aus einem Spind fielen mir Geschlechtsteile frisch geschlachteter Bullen entgegen. Ich konnte mir das nicht erklaeren, der Spindinhaber unterrichtete mich, tatsaechlich, das gibt es hier, er brauche sie zur Steigerung seiner eigenen sexuellen Potenz! Nachdem ich also die Durchsuchungen vorgenommen hatte, damit ziemlich das ganze Krematoriumskommando festgenagelt hatte, saemtliche Mitglieder kurz verhoert hatte, war der Tag zu Ende, und ich begab mich in meine Unterkunft.

Es ist also ein voller Erfolg. Ich konnte die Unterschlagung in dreiundvierzig Faellen aufdecken. Bitte um weitere Instruktionen und um schnellstmoeglichen Abzug.

...

Doktor Tarnat

Obersturmfuehrer.

Schnellstmöglicher Abzug. Schmelz lächelte müde. Wenn das möglich gewesen wäre. Schnellstmöglicher Abzug. Entweder schaffe man Tatsachen, oder man ziehe schnellstmöglich ab, so hatte er es Tarnat zurücktelegrafiert. Von Stendal aus, weil er auf dem Weg von Buchenwald nach Ravensbrück gewesen war; überall, in allen Lagern hatten die gleichen Zustände geherrscht und gegen alle Lagerleiter hatte er ermitteln müssen. Zusammen mit Tarnat und Liebig.

Was aus denen wohl geworden war? Doktor Kurt Schmelz erhob sich, die Papiere zwischen den steifen Fingern haltend, und nahm die Treppen bis zur Wohnung im zweiten Stock in Angriff. Auf den letzten Stufen musste er den Tarnatbericht zwischen die Lippen nehmen, um sich mit beiden Händen hochziehen zu können. Wieso er auch den Krückstock nicht mitgenommen hatte? Unvorstellbar. Wahrscheinlich, weil er ein Geschenk von Anna war. So wie er sich kannte, war das der Grund gewesen, aber egal, ein alter Mann war ja kein D-Zug.

Alter Mann sei kein D-Zug, hatte das nicht sein Vater gesagt, als der ihn einmal besucht hatte? Doch, aber ja! Schmelz erinnerte sich, das hatte sein Vater gesagt, als die Rede auf Hindenburg gekommen war.

Sehr richtig, Herr Oberassistent der Staatsbahn, ein alter Mann ist kein D-Zug, dachte Doktor Kurt Schmelz, schloss die Wohnungstür hinter sich, verriegelte sie sorgsam und ließ die Blätter des Berichts auf den Boden fallen. Einige segelten, andere fielen bleischwer. Ob allein die Flugbahn den Unterschied zwischen Hoffen und Handeln mache, überlegte er. Dann sei das Hoffen der freie Fall und das Handeln ohne Zweifel ein sanfter Flug in die Tiefe.

II

Tatsachen hielten den Lauf der Dinge auf, Hoffnungen beschleunigten ihn. Jede Arbeit war ein Versuch, den Lauf abzubremsen und abzuspringen, ein Versuch, der den Tätigen verzweifeln ließ, weil es zu viele Hoffende gab. Wahrheit sei, was sich auszahle, Schmelz erinnerte sich nicht, wer das zu ihm gesagt hatte. Nicht einmal an die Situation erinnerte er sich. Er stand vor dem großen Spiegel im Flur, die Blätter lagen noch immer auf dem Boden, verstreut vor der Wohnungstür, als wären sie eine Barrikade, meinte Schmelz, die zu überwinden nicht mehr seine Aufgabe wäre.

Er schaltete die Stehlampe ein und trat vor den mannshohen Garderobenspiegel. Wie lange stand er hier so verlassen vor dem Spiegel? Zehn Minuten oder eine Stunde? Wann hatte er die Tür geschlossen und verriegelt? Vor einer Stunde oder vor zehn Minuten? Und warum überhaupt hier? Wann hatte er sich je um den Spiegel gekümmert, den Spiegelblick? Hatte er ihn nicht gescheut die letzten zehn, fünfzehn Jahre? Und nun konnte er den Blick einfach nicht mehr vom Spiegel lösen. Fragen, die sich türmten, die unbeantwortet blieben, Schmelz ließ sie zu, verharrte mit zitternden Knien vor dem Spiegel, hielt sich am Rahmen fest und wich dem Blick des alten Mannes nicht aus, der ihm fest in die Augen sah.

Was hast du angestellt? Warum hast du solch eine Angst? Vor welcher Erinnerung? Vor welcher? Was ist es, das du tief in diesen blauen Pupillen versenkt hast? Muss ich dich erst foltern, foltern mit jeder Sequenz deines verbrauchten Lebens, damit du mir Rede und Antwort stehst? Muss ich dich wirklich erst verhören, verhören wie all die Verbrecher, die ich als Ermittlungsrichter vor mir auf den Stühlen gehabt habe? Ich soll dich wie einen Verdächtigen behandeln, dem ich etwas zu beweisen habe? Aber was? Du wirst es mir sagen, davon bin ich überzeugt. Zwischen diesen schrumpligen, trockenen Lippen wird es hervorgekrochen kommen, und ich werde es hören. Auch wenn ich bis an mein Lebensende hier vor dir stehen und sitzen muss. All diese Falten, die tarnen nur deine Gesundheit, davon bin ich überzeugt. Du siehst gesund aus. Siebzig Jahre sieht man dir nicht an. Steh gerade, verdammt! Wackel nicht so, wenn ich mit dir rede. Das Verhör beende immer noch ich. Na also, kerzengerade kannst du noch stehen. Kein Übergewicht, nicht mal einen Bauchansatz. Einen Meter dreiundneunzig groß, vereinzelte Altersflecke auf der Haut, sicherlich, das ist nichts Neues. Vorwiegend auf den Händen und am Hals, aber auch auf dem Gesicht. Dein Gesicht, ausdruckslos wie die Maske des Königs von Frankreich, den sein Bruder im Kerker faulen ließ. Was ist hinter dieser wie Eisen wirkenden Maske, Fäulnis? Die Fäulnis welchen Vergehens? Was verbirgst du vor mir, was verheimlichst du vor mir, was? Du bist kein anderer. „Du nicht“, flüsterte Doktor Kurt Schmelz, ehemals SS Ermittlungsrichter im Wehrkreis Hessen-Thüringen und Beamter der Kriminalpolizei Berlin.

Er wischte sich mit flachen Händen übers Gesicht, stockend, immer wieder hoch und runter, dann kreisend. Über die Glatze nach hinten, über die Ohren zurück, den Blick starr geradeaus gerichtet, mitten hinein in die blauen Pupillen. Die Zeigefinger hart über den Augenbrauen, dass die Stirnhaut sich straffte und zusammenzog. Die Fingerspitzen über die Wangen, hart drückend, als die Finger sich plötzlich krümmten, die Nägel in die Haut über den Wangenknochen fuhren. Tief, reißend, acht Fingernägel, die die Gesichtshaut aufkratzten, um den plötzlichen Juckreiz zu lindern, während der Blick erbarmungslos starrte: „Jedem das Seine.“

Erschrocken hielt Schmelz inne, ging einen Schritt zurück, erinnerte sich an diese Worte, erinnerte sich, wie er sie fixierte, bevor er zum ersten Mal das Innere Lager des Konzentrationslagers Buchenwald betrat, um seine Pflicht zu tun. Ins Tor waren sie geschmiedet worden. Als Verzierung.

„Jedem das Seine“, hatte Lagerleiter Karl Koch lachend gesagt: „Und mir das meiste!“

Doktor Kurt Schmelz hörte ihn lachen. Dieses bellende Gelächter. Nein. Krächzend.

Er dachte: Nichts ist vergessen und niemand, denn Wahrheit ist, was sich auszahlt. Und auch die Wahrheit dieses achten Juni dreiundvierzig, der Tag meines vierunddreißigsten Geburtstags, auch die wird sich auszahlen. So oder so.

III

Aufgeregt zwitscherten Spatzen irgendwo in den Wipfeln der jungen Bäume, die im Lager Buchenwald entlang der Hauptstraße angepflanzt worden waren. Obersturmführer Schmelz hob beim Gehen den Kopf, musste ihn aber der strahlenden Junisonne wegen schnell wieder senken. Er blinzelte ein paar Mal und konzentrierte sich wieder auf das nahe Ende der Straße: Das eiserne Tor des Inneren Lagers, das mit jedem Schritt größer wurde. Was für eine schöne Schmiedearbeit das sei, meinte Kurt Schmelz. Sie müsse gutes Geld gekostet haben.

Irgendwo waren Enten, Schmelz sah auf die Uhr. Ihm blieben noch sieben Minuten bis zur elften Stunde. Genug Zeit also, den Koffer kurz abzustellen, den Sitz der Uniform zu überprüfen und sich zu sammeln. Der erste Eindruck zähle, der vierunddreißigjährige Schmelz wollte sich unbedingt nach dieser Regel richten. Musste! Er musste diese zweite Chance nutzen, wenn er nicht endgültig abgeschoben werden wollte.

Er musste!

Die beiden Posten kamen aus ihren Häuschen und richteten die Mündungen der Maschinenpistolen auf ihn, Schmelz jedoch zuckte nicht einmal mit den Wimpern: „Obersturmführer Schmelz, melden Sie mich dem Lagerleiter, Standartenführer Pister!“

„Zu Befehl, Obersturmführer!“, erwiderte der Obersturmmann, während der einfache Sturmmann mit unbewegter Miene stehen blieb und Schmelz nicht aus den Augen ließ.

Schmelz erlaubte sich nicht, den Koffer abzustellen, und starrte dem einfachen SS Mann solange direkt in die Augen, bis dieser demütig den Blick senkte. Schmelz biss sich verstohlen auf die Unterlippe, um nicht lächeln zu müssen, und stellte nun doch den Koffer ab. Er nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Hitze heute, was?“, sagte er und hörte vom Wachposten: „Zu Befehl, Obersturmführer, Hitze heute!“

Breit übers ganze Gesicht grinste Schmelz und steckte damit den jungen Mann an. Ein hochaufgeschossener, hohlwangiger Junge mit Sommersprossen auf dem ganzen Gesicht. Wie alt mochte er sein, fragte sich Schmelz, einundzwanzig, zweiundzwanzig oder erst achtzehn, ehe er befahl, der Mann solle sich rühren.

Jetzt lächelte auch der Wachposten, versetzte einen Fuß zur Seite und ging leicht in die Knie. Der Oberkörper sackte ein wenig nach unten, die Mündung der Pistole zeigte auf den Boden.

„Woher stammen Sie, Mann, und wie ist Ihr Name?“

„Aus Tutow.“

„Ach, Pommernland! Noch immer nicht abgebrannt! – Da, wo der Nachschubflugplatz ist!“

„Ja, genau! Von da“, der Junge grinste und fügte hinzu, sein Name sei Christian.

„Mensch!“, brauste Schmelz lachend auf: „Ich meine Nachname! Was kümmert mich dein Vorname!“

„Zu Befehl!“, schrie der Pommer, straffte sich augenblicklich und schrie: „Heinze, Sturmmann Heinze!“

„Rühren! Die Pommern sind die treuesten, meinte schon Bismarck. Sagen Sie, können Sie Auto fahren?“

„Jawohl, Obersturmführer!“

„Ich werde hier einen Fahrer brauchen. Einfache Strecken. Komme auf Sie zurück.“

„Jawohl, Obersturmführer!“

Schmelz sah, wie betont gehorsam sich der Junge geben wollte, doch er sah auch, wie sehr seine Augen leuchteten. So ist die Jugend, dachte er, leicht zu begeistern, schwer zu besiegen.

Er fixierte jetzt erst das Eingangstor, das immer noch zwischen dem Wachposten und ihm lag. Es war etwa drei Meter hoch, war oben mit Stacheldraht abgesichert und hatte an den Seiten dicke Pfosten, die in den Boden betoniert worden waren. Von ihnen ging ein hoher Zaun ab, elektrisch gesichert, der das Innere Lager vom äußeren trennte. Etwa alle hundert Meter stand dicht am Zaun ein Wachturm. Sie waren alle mit SS Männern besetzt, die mit zum Schuss bereiten Gewehren das Gelände des Inneren Lagers absicherten.

Komisch, dachte Kurt Schmelz, dass die Schießscharten alle nach innen zeigen. Was für seltsame Wachtürme sind das denn? So kann man doch das Lager unmöglich vor Eindringlingen schützen. Was wird hier nur fabriziert?

Er sah wieder auf das Tor und bemerkte jetzt erst die Verzierung im verschweißten Gitter. Von weitem hatte das Tor auf ihn verschnörkelt und verspielt gewirkt, doch nun erkannte Schmelz die Strenge und Klarheit der Struktur. Er trat einen Schritt zurück und las: ‚Jedem das Seine‘.

Die Worte bildeten eine halbrunde Linie, genau in Kopfhöhe, und Doktor Kurt Schmelz wunderte sich über diese Worte. Er zog die Stirn in Falten, und Sturmmann Heinze, der die krause Stirnhaut bemerkte, erlaubte sich, zu erklären, es handele sich um einen Satz des großen deutschen Dichters Goethe, der hier in der Nähe gelebt habe. Soviel dürfe er sagen.

Kurt Schmelz nickte bedächtig und fragte, was sie genau zu bedeuten haben und was es für einen Sinn habe, sie ins Tor gesetzt zu haben.

„Darüber darf ich keine Auskunft geben, Obersturmführer. Befehl des Lagerleiters.“

„In Ordnung, ich frage ihn direkt“, sagte Schmelz und musterte die Umgebung.

Hinter dem Zaun war keine Menschenseele. Das ganze Lager strahlte eine Ruhe aus, die Schmelz zuerst nervös machte. Er kam ja direkt aus dem bombardierten Berlin, über das tags Fliegende Festungen hereinbrachen. Und noch letzte Woche war er an der Ostfront gewesen. Und nun diese Ruhe hier. Fehlte nur noch Glockengeläut. Zuletzt hatte er in der Division Wiking die Stellung an irgendeinem dieser verdammten Flussufer gehalten, bis die Russen sie dann doch Kilometer weit zurückgejagt hatten, mitten hinein ins Prasseln der Stalinorgeln. Und nun stand er hier, von Himmler selbst geschickt, und sah nichts als Frieden und Waldesruhe. Wie kam er jetzt nur auf den Begriff ‚Waldesruhe‘? Er wandte sich vom Tor ab und sah rechter Hand einen Zwinger mit Braunbären außerhalb des Maschendrahtzauns.

„Was haben Sie denn da für eine Attraktion?“, fragte Schmelz. Er sah die vier Bären zwischen einer Gebirgsnachbildung faul in der Sonne liegen. Der größte lag ein wenig abseits, die zwei kleinen hatten es sich auf der Mutter bequem gemacht. Alle vier Schnauzen zeigten in Richtung Inneres Lager. Was für eine seltsame Idee, fand Schmelz, ehe er sich fragte, was genau in Buchenwald vorgehe.

„Die sind noch vom ersten Lagerleiter, Standartenführer Karl Koch. Der wird sie wohl demnächst abholen lassen.“

„Von Koch?“, fragte Schmelz mit schärferem Ton, als er es gewollt hatte. Augenblicklich war er wie elektrisiert und hatte große Mühe, Gelassenheit vorzutäuschen, während er nachfragte, welchen Grund Koch gehabt habe, die Bären hierher zu bringen, womit er sie finanziert habe und woher er die Tiere überhaupt habe.

Sturmmann Heinze konnte als Antwort nur mit den Achseln zucken. Erst wirkte er ein wenig verstört, dann drückte sein jugendliches Gesicht echten Kummer aus. Schmelz sah ihm an, wie gern der Junge ihm geholfen hätte, doch offensichtlich wusste er nicht wie.

„Schon gut“, sagte Schmelz, der sich an seine Zeit als Ermittlungsrichter in Krakau erinnerte, bevor er degradiert und an die Ostfront versetzt worden war: „Ich sehe Ihnen an, dass Sie es nicht wissen.“

„Zu Befehl, Obersturmführer!“ Sofort wich der Kummer aus dem Gesicht und machte Erleichterung Platz. Schmelz grinste schon wieder. Wieso musste er auf einmal ständig grinsen? Tja, seine Menschenkenntnis hatte ihn nicht getäuscht. Erfahrung war eben doch das A und O in seinem Geschäft.

Schmelz war sich sicher, dieser Junge da werde ihm ein zuverlässiger und treuer Fahrer sein. Dieser Heinze sei ehrlich und ein wenig dumm wie die meisten Pommern. Und dankbar, hier wegzukommen. Und Dankbarkeit, wusste Schmelz, sei das Fundament der Treue. Was immer in diesem Lager vorgehe, der Junge da, der wolle weg, überlegte Kurt Schmelz, entweder nur weg oder einfach nur Auto fahren? Das Vorrecht der Jugend sei es, nicht lügen zu müssen.

Alliierte Luftangriffe zerstörten am elften Juni dreiundvierzig fast die gesamte Stadt Düsseldorf, Himmler ordnete die Liquidierung aller polnischen Ghettos an, und in Paris wurde Sartres Stück „Die Fliegen“ uraufgeführt, während ich drei Tage zuvor am Tor zum Tod stand, auf den Lagerleiter wartete und mir meine Gedanken über einen trotteligen SS Mann machte, ehe mich Standartenführer Pister einließ, damit ich meine Pflicht erfüllen konnte, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz und sah sich weiterhin in die Augen: „Die Fliegen“!

Bestimmt wolle er nur Auto fahren, meinte Schmelz und fragte: „Haben Sie überhaupt etwas übrig für Autos, Motoren, Flugzeuge, Sturmmann Heinze?“

Der einfache SS Mann kam nicht mehr dazu, den Mund aufzumachen, rief der Lagerleiter doch in diesem Moment schon von Weitem Schmelz eine Begrüßung zu. Schmelz sah den jungen Sturmmann zusammenzucken und dessen Augen geradezu aufleuchten. Er lächelte, freute sich über den Glanz in den jungen Augen, der ihn ein wenig die Schreie der Verstümmelten vergessen ließ, zwischen denen er an der Ostfront gekrochen war und getötet hatte. Verstümmelte, die er im Prasseln der Stalinorgeln zurückgelassen hatte, und nun diese Vorfreude des Jungen. Schmelz war gerührt, doch ein Zwinkern untersagte er sich dann doch. Er nahm den Koffer, Sturmmann Heinze öffnete ihm das Tor, und Schmelz kam dem Lagerleiter ein paar Schritte entgegen, nachdem er kurz gezögert hatte, ins Innere Lager von Buchenwald zu treten.

IV

„Obersturmführer“, grüßte Standartenführer Pister, obwohl er noch gute zehn Meter von Schmelz entfernt war: „Stehen Sie da doch nicht so herum, Mann, kommen Sie! Kommen Sie ruhig hereinspaziert! – Oder wie der Berliner sagt: Komm’ Se rin, könn’ Se rauskieken.“

Doktor Kurt Schmelz grüßte den ranghöheren Offizier, kam ihm entschlossen entgegen und hielt den ernsten Blick Pisters aus, der ihm so gar nicht zu den unverfänglichen Worten zu passen schien. Er schaffte es zwar nicht, Pisters Blick niederzuringen, aber immerhin senkte auch er seinen Blick nicht, beruhigte Schmelz sich. Die beiden Männer standen sich gegenüber, unentschlossen, ob sie einen Freund oder Feind vor sich hatten. Einen Augenblick lang schwiegen sie, ehe Pister sagte: „Sie brauchen keine Angst zu haben, Obersturmführer …? Schmelz? Kurt Schmelz aus Frankfurt am schönen Main?“

„Jawohl, Obersturmführer Doktor Kurt Schmelz. SS Ermittlungsrichter und Beamter der Kriminalpolizei Berlin, Standartenführer, und mit Sonderbefehl und Sonderbefugnissen vom Reichsführer SS ausgestattet.“

„Richtig! Und Sie wollen unserem netten, kleinen Schutzhaftlager nun einen Besuch abstatten. Warum denn, wenn ich fragen darf?“

„Das möchte ich vorerst noch für mich behalten. Zu gegebener Zeit werde ich Sie unterrichten, Standartenführer. Sie verstehen, ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet. – Hier ist der Geleitbefehl, von Himmler unterschrieben. Er bevollmächtigt mich damit.“

„Zeigen Sie her! Zeigen Sie her! Ein persönliches Schreiben vom Reichsführer SS, das hat man auch nicht alle Tage vor sich. Zeigen Sie doch her, Mann! Nicht so geizig! – Möchte man sich glatt einrahmen. Donnerwetter! ‚Der Reichsfuehrer SS hat angeordnet, dass der SS Obersturmfuehrer und SS Richter Doktor Schmelz den Auftrag hat, die von ihm vermuteten Unregelmaessigkeiten im Lager Buchenwald zu untersuchen. Der Reichsfuehrer SS wuenscht, dass mit aller Schaerfe durchgegriffen wird, und Sie haben ueber das Fortschreiten der Untersuchungen mir laufend zu berichten.‘ – Laufend zu berichten, dann stehen Sie im persönlichen Kontakt mit dem Reichsführer selbst?“

„Jawohl, ich informiere direkt den Gerichtsherrn des Wehrkreises neun, Obergruppenführer Erbprinz von Waldeck Pymont, und der wiederum informiert direkt den Reichsführer über meine Ermittlungen. Jedes meiner Worte erreicht den Reichsführer also! – Ich kann Ihnen zwar als Untergebener nicht direkt Befehle geben, aber …“

„Aber es wäre schon besser für meine Karriere, wenn ich Ihre, Ihre, sagen wir, Ratschläge, wie immer diese auch aussehen mögen, ernsthaft in Betracht zöge.“

„Genau so, Standartenführer! Besser hätte ich es nicht formulieren können, meinen Respekt!“

„Danke, danke! Hört man gerne! Ein echter Preuße, was! – Donnerwetter, Sie machen aber sofort Nägel mit Köpfen! Sie jagen den Hasen schon im Bau!“

„Ich stehe dafür, Tatsachen zu schaffen. Meine Berufserfahrung ist, dass eine aktive Ermittlung immer erfolgversprechend ist. – Sehen, sondieren, siegen!“

„Und was genau Sie untersuchen, Sie verstehen, das interessiert mich schon, denn es ist immerhin mein Lager, diese vermuteten Unregelmäßigkeiten da, wie es in Ihrem Geleitbrief steht, darüber können Sie mir gar nichts sagen, Obersturmführer? Überhaupt gar nichts?“

„Rein gar nichts. Nur soviel, es betrifft vorerst nicht Sie! Weder Sie persönlich noch Ihre Befehlsgewalt. Noch Ihre Lagerorganisation.“

„Ach so, na ja. Wenn es so ist! Schweigsam wie ein Friese beim Feiern! – Wissen Sie, es ist sehr ungewöhnlich, dass wir hier Besuch bekommen. Quasi neutrale Personen hatten wir hier noch nie. Und so unangemeldet! Kein Wort vom Reichssicherheitshauptamt, oder vom Wirtschaftshauptamt, nichts! Aber Heimlichkeit ist ja immer das beste Mittel, um große Pläne umzusetzen, das hat der Reichsführer SS selbst gesagt. Ich war dabei! – Obersturmführer, Sie sind in diesem Lagergrau eine wirkliche Attraktion, wissen Sie das? Mein Telefon stand gar nicht mehr still. Ich weiß, dass Sie Punkt elf Uhr am Tor waren, dass Sie sich sieben vor elf die Uniform zurechtgerückt haben, dass Sie sich den Bärenzwinger angesehen haben, dass Sie über den Zaun und besonders über das Tor gestaunt haben. Dass die Haarfarbe unter Ihrer Mütze da dunkelblond ist. Sie sollen sehr verwundert gewirkt haben, als Sie die Türme gemustert haben, Obersturmführer! Warum, wenn ich fragen darf? – Hängen doch keine Zigeuner dran, oder? – Kleiner Lagerwitz!“

„Ich bin nur beeindruckt, Standartenführer, sehr beeindruckt, aber um ehrlich zu sein, ich habe nicht über das Tor gestaunt, sondern über die Worte, die eingeschmiedet sind. ‚Jedem das Seine‘, was soll das?“

„Ein Scherz von Standartenführer Karl Koch, als er das Lager bauen ließ. Nichts Wichtiges, wenn Sie mich fragen.“

Schmelz nickte nur, um nicht schon jetzt durch ein Nachfragen seine wahren Absichten zu verraten. Immerhin, Koch schien Bildung zu haben. Das zeigte doch einen ganz anderen Koch als jenen, welcher in den wenigen Akten zu finden war. Schmelz beschloss, die Richtung zu wechseln, räusperte sich, streckte die Brust heraus, ganz so, als stünde er vor Gericht und hielte ein Plädoyer. Sich in diese Rolle hineinzudenken, hatte ihm schon immer geholfen, auch die schwierigsten Situationen zu meistern. Er räusperte sich noch einmal und sagte: „Ich bin gewiss keine neutrale Person, wie Sie formulierten, Standartenführer! Ich weiß auch, dass so ein KL streng geheim ist. Ich weiß, es ist dermaßen gesichert, dass es heißt, in den Tower von London komme man leichter rein als aus einem KL raus, aber ich bin gewiss nicht neutral. Im politischen Sinne durchaus, wenn mit Neutralität die Treue zum Reich gemeint ist, aber nicht im juristischen. Im juristischen Sinne stehe ich absolut auf der Seite des Gesetzes, da kenne ich kein Wenn und erst recht kein Aber! Gesetz ist Gesetz, und da rücke ich nicht von ab! Keine Macht der Welt bringt mich dazu, das Gesetz zu verraten. Verstanden? Ich bin als SS Richter zuständig für Verbrechen innerhalb der SS und als Beamter der Kripo Berlin bin ich zuständig für alle Verbrechen außerhalb der SS. Sie sehen, es gibt kein Entrinnen vor meinen Untersuchungen. Nur um das klarzustellen, mich interessiert hier alles, alles und jeder. – Entschuldigen Sie, Standartenführer, aber mir liegt daran, ganz zu Anfang direkt und offen zu sein. – Schließlich sind wir Männer, was, Pister, und keine Weiber!“

„Und Witz haben wir auch! – Schon gut, schon gut“, sagte Pister und dachte: Die Ehrlichen sind die Gefährlichen. Was will der hier, was putzt der mich herunter, als sei ich ein verdammter Wehrmachtsgefreiter? Bleib nett, Pister, bleib nett, erst schauen, dann schießen! – Am Ende wird er ein gutes Wort für dich beim Reichsführer einlegen, ohne dass du groß etwas hattest tun müssen. Also akzeptiere diesen jungen Schnösel mit seinem Juradiplom und fertig. Da gab es doch schon ganz andere Kanalarbeiter hier! Wie alt mag der sein? Zehn Jahre jünger als ich, fünfzehn? – Ein Jüngerer, ein Untergebener, der mit mehr Machtbefugnissen als man selbst ausgestattet ist, alter Pister, da musst du auf der Hut sein. Der ist nicht umsonst in dieser Stellung. Sei ihm Freund, und alles wird gut! Sei ihm Freund, und nimm ihn ernst, dachte Pister, ehe er fortfuhr: „Bauen Sie auf mich, Obersturmführer, Offenheit und Treue, das sind Prinzipien unserer Organisation, für die auch ich einstehe.“

„Umso besser, dann ist das also geklärt?“

„Auf jeden Fall. Ich unterstütze Sie, Sie unterstützen mich“, sagte Pister und wartete auf eine Bestätigung, die von Schmelz jedoch nicht kam. Nicht einmal ein Nicken, verdammter Bastard! Standartenführer Pister musste kurz die Augen schließen und sich zusammennehmen, um nicht doch noch loszubrüllen. Anscheinend wusste dieser Ermittlungsrichter ja gar nichts vom geheimen Ehrenkodex der SS, du gibst mir und ich gebe dir. Dieses ungeschriebene Gesetz war es doch, was die ganze Organisation zusammenhielt, und dieser Schnösel da, dieser Trottel!

„Ich bin im Hotel ‚Elephant‘ in Weimar einquartiert“, sagte Schmelz: „Also brauche ich einen Wagen, und als Fahrer nehme ich den Sturmmann da vorne, den Heinze.“

„Den Heinze? Sind Sie sicher? Den plumpen Heinze? Der wurde schon seit Monaten nicht befördert!“

„Dann befördern Sie ihn. Bis morgen, zehn Uhr. – Morgen kommen auch noch zwei Mitarbeiter von mir an. Doktor Tarnat und Michael Liebig von der Kripo Berlin.“

„Gut. Noch was?“

„Alles andere hat noch bis morgen Zeit. Morgen fange ich richtig an! Sie sollten sich aber überlegen, diesen Spruch hier aus dem Gitter entfernen zu lassen. Ich verstehe den Witz zwar nicht, vermute aber, er ist äußerst geschmacklos, oder?“

„Nicht so geschmacklos wie Koch selbst. Er soll immer gesagt haben, als er hier noch Lagerleiter war: ‚Jedem das Seine, und mir das meiste.‘ Das finde ich, mit Verlaub, geschmacklos.“

Schmelz, der schon den Koffer gehoben und sich zum Gehen umgedreht hatte, fuhr herum und sah Pister fest in die Augen: „Wann hat dieser Koch das gesagt, wie oft und zu welchen Gelegenheiten? Sagen Sie schon, sagen Sie schon! Wann zum ersten Mal, Mann, antworten Sie! Wann zum ersten Mal?“

Zum Ende der Frage hin milderte er zwar den scharfen Ton, und schnell fügte er noch an, ihn interessiere eben alles und jeder, warum nicht dann auch dieser Koch, aber Schmelz war sich sicher, Pister habe Lunte gerochen. Wie er schon schaute! Schmelz nannte sich einen Narren. Jetzt konnte der sich seinen Reim machen! Wie der grinst, und wie befreit er wirkt, dachte Schmelz, als wolle er sagen, ach, aus dieser Richtung weht der Wind! Mann! So etwas Blödes wie dich, Schmelz, gibt es auch nur einmal auf der Welt! Scheiß Emotionen! Gefühle müssen vereitelt werden, halt dich gefälligst daran! Gefühle bringen nur alles durcheinander, halte sie raus, Mann, halte sie endlich raus!

„Keine Ahnung“, sagte Pister endlich: „Das müsste ich nachprüfen lassen. Wenn es Ihnen so wichtig ist, Obersturmführer?“

„Das weiß man nie, was am Ende wichtig und was unwichtig ist, also prüfen Sie das! Lassen Sie es bis morgen früh, zehn Uhr, prüfen. Ich hoffe, Sie gegen zehn hier anzutreffen?“

„Aber immer!“, sagte Pister und lachte heiser auf: „Das ist mein Wohnzimmer hier!“

Schmelz nickte, drehte sich um und ging zum Tor zurück, das ihm Sturmmann Heinze bereitwillig aufriss, wobei dieser aber vergaß, zu seinem Vorgesetzten zu schauen.

Pister wollte den Obersturmführer erst zurückpfeifen, schließlich habe er den höheren Dienstgrad und beende somit das Gespräch, wann er es für nötig halte, unterließ es dann aber doch, während Schmelz zuerst mit klopfendem Herzen zum Tor ging, sich dann aber schnell beruhigte, als er sich sicher war, der Standartenführer akzeptiere ihn als gleichwertig. Schmelz war klar, er hatte alles auf eine Karte gesetzt, es hätte auch gründlich schief gehen können, und atmete erst einmal tief durch, während er davonmarschierte.

Der Standartenführer hätte auch auf die Rangordnung bestehen können, doch der Test sei geglückt, die Fronten seien geklärt. Auch für Pister, meinte Schmelz. Er fragte sich zwar, als er das Tor des Schutzhaftlagers hinter sich ließ, ob er den Standartenführer zu fest angepackt habe, ob er zu heftig mit ihm umgesprungen sei, schließlich sei auch er auf diesen Pister angewiesen. Ohne Pisters Hilfe werde seine eigene Mission scheitern, darüber war Schmelz sich im Klaren, und jetzt erst merkte er, wie dünn das Seil gewesen war, auf dem er sich bewegt hatte.

Noch einmal atmete er tief durch und dachte: Ich darf die Schraube nicht überdrehen: ‚Nach fest kommt locker und nach locker kommt Anschiss!‘

V

Fünf vor halb zehn, das muss kurz vor halb gewesen sein, stand ich am nächsten Morgen im Lager, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz. Während Bochum von der Luft aus bombardiert wurde, stand ich auf dem Appellplatz von Buchenwald und genoss den Anblick der geraden und geharkten Wege.

Zwischen den Wegen befanden sich Unmengen von Blumenbeeten. Ein einziges Blühen an diesem schönen Junimorgen. Die Sonne schien, ohne zu drücken oder zu stechen, und ein milder Wind wehte. Ich streckte mich, vermied es aber, die Arme zu heben, und labte mich an der Sauberkeit und Ordnung des Lagers. Die geraden Wege führten im Halbkreis zum Appellplatz, wobei der Platz selbst gerade erst geharkt worden war. Keine Spuren im Sand. Er lag ein wenig erhöht. Von ihm aus konnte man den Hang hinunter sehen, die Wege entlang. Links und rechts dieser Wege standen sich die Baracken mit den Eingängen gegenüber. Paarweise, gute fünf Kilometer weit. Wie viele Baracken, und an diesem Morgen nicht ein einziger Mensch! Alle waren zur Arbeit. In der Produktion der Gustloff Werke zwei oder der Deutschen Ausrüstungswerke oder im Steinbruch. Nicht einmal aus den Werkstätten, die sich direkt neben dem Platz befanden, drang ein Geräusch. Eigenartig. Oder waren da Geräusche gewesen, an die ich mich jetzt nur nicht mehr erinnere?

Arbeitsgeräusche, die ich gar nicht mehr gehört hatte, weil ich ja direkt aus dem bombardierten Berlin kam?

Jedenfalls, hinter den Baracken standen dicht nebeneinander im kräftigsten, glänzenden Grün die Buchen, und hinter den Bäumen erstreckte sich ein weites Tal mit Wäldern und abgemähten Feldern, und hinter dem Tal waren am Horizont Hügel und Bergketten zu sehen. Der Wind wehte warm und einige Schönwetterwolken durchzogen den blauen Himmel.

„Schöner Blick, was?“, sagte Standartenführer Pister, woraufhin Schmelz zusammenzuckte und fragte, ob der Lagerchef sich immer so anschleiche, bevor dieser fortfuhr: „Was ist eigentlich so geheim an den Konzentrationslagern, dass niemand hinein darf?“

Pister zeigte mit weit ausholender Geste auf die Umgebung und sagte: „Nun schauen Sie sich doch nur diese Schönheit an! Lassen Sie sie wirken! Uferlose Natur, in die ordentlich und korrekt die Baracken gesetzt sind. Haben Sie bemerkt, dass sie alle frisch gestrichen sind? Riechen Sie mal! Naturlack. Den zu bekommen, das war eine Büroarbeit, das kann ich Ihnen sagen, nichts als Anträge, Anträge, Anträge, aber man hat ja schließlich so seine Kontakte, was Obersturmführer? So ganz allein steht man ja nun auch nicht da, was?“

„Antworten Sie mir!“, sagte Schmelz, der jetzt erst bemerkte, dass sie das Tor im Rücken hatten, über dem sich eine Wachstation befand, in der Waffen SS konzentriert das Gelände des Lagers überwachte. Dass es sich dabei um einen abfallenden Hang handelt, dachte Schmelz, muss den Männern die Arbeit sehr erleichtern. Wie oft hatte er in den zwei Jahren an der Ostfront nicht selbst angestrengt gelauert! Um sein Leben gelauert.

„Schöner Blick, was?“, sagte Pister leise: „Da möchte man gar nicht wissen, was hinter den Bergen und Meeren ist, was?“

„Könnte schon sein, aber meine Fragen beantworten Sie jetzt besser. Hier und jetzt! Und nicht hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, Kamerad!“

„Und diese Ruhe hier oben! Kein Laut! Nur Vögel und Bäume, und ab und an brüllen die Bären da drüben, falls es ihnen mal wieder zu langweilig ist“, sagte Pister, der sich vorgenommen hatte, die Durchsetzungskraft des jungen Richters zu testen, um festzustellen, wie zuverlässig er sei. Pfister wollte ihn aus der Reserve locken und sehen, ob er sattelfest bliebe, wenn er unbeirrt weitermachte und fragte: „Das muss doch für Sie sehr ungewöhnlich sein, diese Ruhe hier? Sie kommen doch direkt aus Berlin, oder? Wie geht es denn da draußen so zu? Hier ist ja nur Einöde und Stille. Man bekommt gar nichts mit.“

„Ja, die Unruhe wächst. Die Fliegenden Festungen machen einen nervös. Man beginnt in Berlin schon, sich nach ihrem Rhythmus zu richten, aber das ist ja alles nur vorübergehend. Die letzten Tests der Wunderwaffe laufen ja schon. Also! Ich war jetzt geduldig genug! Raus mit der Sprache, was ist so geheim an den Konzentrationslagern? Antworten Sie! Meine Geduld ist begrenzt.“

Unwillkürlich drehte Pister den Kopf nach rechts und blickte zu einem mannshohen, schwarzen Bretterzaun, der von den Baracken der Deutschen Ausrüstungswerke nur halb verdeckt wurde und der Doktor Schmelz erst jetzt auffiel.

Pister bereute seine Reaktion sofort, aber Schmelz hatte das flache Gebäude, das sich hinter dem Zaun befand, entdeckt. Erstaunt musterte er den kurzen, dicken Schornstein und zog die Stirnhaut in Falten. Was sollte das denn? Er sah Pister mit großen Augen an. Wieso qualmte der denn? Was ist hier los?

„Wieso qualmt denn der Schornstein?“, fragte er: „Mitten im Juni? Bei dem Wetter? Nun los!“

„Und wissen Sie, wie viel Wild es hier gibt. Thüringen gilt ja mit Abstand als das …“

„Was ist so geheim an Buchenwald? Was wird hier veranstaltet? Muss ich Sie erst in eines Ihrer eigenen Verhörzimmer schaffen lassen?“

„Was an den Lagern geheim ist, wollen Sie wissen? Sie wollen, dass ich es ausspreche?“, fragte Pister und lachte, um Zeit zu gewinnen, ehe er sagte: „Es tut mir leid, ich muss leider an den Führerbefehl Nummer eins erinnern, der für alle gilt: ‚Jeden darf nur das interessieren, was ihn unmittelbar betrifft. Alles andere darf er nicht wissen.‘ “

„Ich kenne den Befehl, und ich habe Ihnen erklärt, mich interessiert alles und jeder. Mich betrifft alles! Muss ich Ihnen meinen Geleitschein vom Reichsführer SS noch einmal vor die Nase halten, oder was? Mann, was soll das Theater? – Ich lasse Ihre Mannschaft hier antreten und putze Sie vor allen runter! Das ist für mich ein Kinderspiel, kapiert, Mann? Kapiert? Antworten Sie, Kamerad!“

„Verstehen Sie doch, diese Lager betreffen nicht das deutsche Volk, und also auch nicht Sie! Hier ist nur der Abschaum, verstehen Sie jetzt endlich? Der Propagandaminister hat selbst ausgerufen, es gibt im Tausendjährigen Reich keine Verbrecher mehr. Das setzen wir hier um. Mehr nicht. Es gibt im Tausendjährigen Reich keine Verbrecher mehr, weil sie alle hier sind. Die sind alle in Lagern. Verstehen Sie doch! Und das dürfen wir dem deutschen Volk doch nicht zeigen, Obersturmführer, ich meine, dass es so viele sind. Oder sind Sie da anderer Meinung? Aber irgendwohin müssen sie ja. Wir können sie ja nicht einfach verbrennen, diese ganzen Mörder, Schwulen und Zigeuner! Oder doch?“, fragte Pister und lachte gekünstelt auf.

Schmelz schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und stemmte die Fäuste in die Hüfte, ehe er leise sagte: „Ich rate Ihnen, sich auf meine Seite zu stellen, Standartenführer! Ich mache Ihnen das Angebot noch genau ein einziges Mal. Sie entscheiden, was Reichsführer SS von Ihnen zu halten haben wird. Zeigen Sie mir jetzt und hier, wo Sie stehen. Erklären Sie sich, warum qualmen die Schornsteine im Juni? Oder ich gehe, jetzt und hier, persönlich da rüber, reiß den schwarzen Zaun ein und schaue mir das Gemauschel dahinter selbst an. Wenn ich das aber tun muss, dann haben Sie Ihre Chance vertan, Standartenführer! Beförderung oder Ostfront, entscheiden Sie selbst, aber entscheiden Sie schnell! Sein oder Nichtsein, das ist jetzt tatsächlich die Frage für Sie, die Frage aller Fragen!“