1

Warum nicht mit einer Straße beginnen. Jener Straße und Strecke, die ich zwei Jahre fast täglich hin und zurück gegangen bin. Die Bjørnsonsgaten, viel befahren und schmutzig, Arbeiterwohnungen in Reihen zu beiden Seiten des Schattens, der einem Weg gleicht, einer Verkehrsader, blutarm und kalt, ein schmaler Bürgersteig, an Fabrikgeländen, Tankstellen vorbei, zum Danmarksplass, dem finstersten Lichtkreuz der Stadt. Eine schäbige Straße, durchzogen von entmutigenden Spuren: ein sterbender Baum, das halb verfallene Holzhaus und eine abgasstaubige Hecke, das Fenster, hinter dem sie steht und ihren Wollpullover auszieht.

Eine schäbige Straße, meine Adresse und Lieblingsroute in die Stadt. (Heute – ich wohne inzwischen auf der anderen Seite der Stadt, in einer hellen, sauberen Wohnung mit Terrasse und Blick aufs Meer – nehme ich zuweilen den Bus zur Bjørnsonsgaten, um wieder auf dieser Straße und der alten Strecke in die Innenstadt zu gehen.) Die Straße öffnet sich rechter Hand zur Berufsschule und zum Sportplatz Krohnsminde, linker Hand zu Hochhäusern und dem Wasser der Solheimsviken, ich schlendere an den Kochlehrlingen auf der Steintreppe zur Schule vorbei, sie rauchen im Stehen unter ihren luftigen weißen Kochmützen, als hielten sie mit den Mützen die Wolken in die Höhe; sieben, acht angehende Köche neben den Friseurlehrlingen aufgereiht, die man unschwer an ihren Frisuren erkennt, roten, grünen Mähnen in allen Längen und Richtungen (eine der jungen Frauen hat sich die Haare in einer Schiene von der Stirn bis in den Nacken abrasiert, als führte die Straße über ihren Kopf), und ich gehe geradeaus, zum Danmarksplass. Unter den Verkehrsknotenpunkt. Rechts oder links im Tunnel der Unterführung? Er gabelt sich, heute gehe ich nach rechts, und im Nachhinein muss ich froh sein, nicht nach links gegangen zu sein, denn kurze Zeit später, auf der rechten Route, gleich hinter dem Forum Kino, nach dem Hang zum Store Lungegårdsvann hinunter, auf der Brücke, wo auf dem Asphalt Fische liegen und sterben, treffen die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild und ein Glücksgefühl übermannt mich überraschend. Es sagt nichts weiter als: Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein, bin verkatert und deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße, schlafe auf einer Matratze, keine Möbel, bin verlassen worden von ihr, mit der ich es schaffen zu können glaubte. Ich bin auf dem besten Weg, mich zugrunde zu richten, es ist eine harte und ernste Untergangsarbeit, ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? Weil die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild treffen? Es verschlägt mir den Atem, ich muss stehenbleiben. Mein Körper ist von warmer und jubelnder Klarheit erfüllt. Die Gedanken erwachen und verlieren an Gewicht, es ist eine ganz konkrete Erfahrung, meine Gedanken werden leichter, und ich gehe, nun leichter, weiter Richtung Nygårdshøyden und Innenstadt. Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst.

2

Auf den Hund kommen, zu Boden gehen: kriechen, auf allen vieren, den Bauch auf dem Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, eine Narbe in den Augen, das Licht, es schlägt wie ein Stock, eine Wunde, in der jemand pfeift, sie pfeift im Blut, es pfeift im Kopf, wer ist das, der da pfeift, sich dem nähern, über den Boden kriechen, unter den Tisch, eine Alkohollache, sie auflecken, sich herumwälzen und unter dem Tisch zusammenrollen, du siehst die Hälfte oder weniger von allem, die Taille, vielleicht, die nackten Füße, und am Abend den Saum des Nachthemds. Die Tischkante verdeckt das Gesicht, es ist dein Vater, dein Herr und Meister, der schöne Rücken, der Schweiß und das Hemd, wir ziehen wieder um. Das leere Zimmer, so befreiend nackt, eine Lampe, ja, etwas zum Lieben, eine Lampe lieben, zieh dich aus, lösch das Licht und geh zu Bett, wenn du nur wüsstest, woher willst du das wissen, was weißt denn du, er findet die Zigarette, kriecht unter den Tisch, wie schön es doch ist, zu kriechen, in sich selbst zu ertrinken. Wie schön es doch ist, zu trinken, sich mit Vergessen zu füllen, vor die Hunde und heim zu gehen.

Die sinkende Dunkelheit unter dem Tisch, als wohnte man in einem Haus im Haus, Montag, Dienstag, Donnerstag, eine Hundehütte, du kriechst heraus, rollst zur Wand, steckst den Dorn der Gürtelschnalle in die Steckdose, jetzt!, fühlst du das Licht, fühlst du die Kraft, nun kannst du sehen, wie er sich aufrichtet, zur Tür vortastet, kämpft und springt, einen Satz zur Türklinke macht und sie mit der Schnauze erreicht, sie herunterbeißt, das Metall an der Zunge, die Tür aufbellt und in den Flur hinausläuft, lärmt und all die Laute von sich gibt, die erforderlich sind, damit jemand kommt und ihn fortholt.

3

Ehe ich gehe: Lasst uns die Freuden aufzählen, die wir kennen! Zu trinken, an der Theke zu stehen und zu schwanken, das Glas zu erheben, die Zigarette anzuzünden, zu reden, ohne zu wissen, was gesagt wird, ein unaufhaltsamer Strom des Vergessens, aufgenommen von einem beliebigen Mund.

Am Tag danach, zu kriechen, durch die Stadt zu kriechen, die Treppen hinauf, zur Tür herein, über den Teppich, zum Fenster aufzuschauen, mit den Kindern zu spielen, zu den Kleinen zu sprechen wie ein Irrer.

Zu lieben, will sagen, mich auf sie zu stürzen, sie anzuziehen, Slip und Strumpfhose, Unterhemd, Pullover, ihr die Mütze aufzusetzen und die Jacke überzustreifen und sie abzuliefern, anschließend zu rennen, jetzt rasend schnell, vom Kindergarten kommend, die Kurven und Treppen hinab, in die Wohnung zu stürmen und mich auf sie zu stürzen, ihr Pullover und Strumpfhose, Slip und Unterrock auszuziehen, sie ins Bett zu zwingen, will sagen, hier hast du mein Leben. Eine reine Freude, zu schlafen.

Eine ernste Freude, zu erwachen, jeden Morgen zum Ernst des Lebens zu erwachen. Es ist eine Freude, dass das Leben ernst ist. Du erwachst, das ist eine Freude, du erwachst zum Ernst, das Leben erwacht, nicht nur du, sondern auch der Nachbar und das Geschäft, die Straßen und Geräusche und die Luft, die sie nicht mehr atmet.

Die Freude am Leben. Ich liebe das Leben. Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich über das Leben. Ich habe immer größere Angst vor dem Tod. Das erstaunt mich. Ich werde mit den Jahren nicht klüger, im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass ich auf eine reine und allumfassende Dummheit zusteuere.

Die Freude, sich Ruhe zu gönnen, längere Zeit, zu Hause zu bleiben, eingesperrt in der Wohnung, die Tür abzuschließen, das Licht zu dämpfen, im Lampenschein am Schreibtisch zu sitzen, zu schreiben oder nicht zu schreiben.

Die Freude über den Schreibtisch, über die Dinge, den Aschenbecher und die Lampe, das Fenster, die Stühle, den Teppichboden und die Türen. Die Freude an den Dingen. Von Menschenhänden erschaffen. Das Haus, die Treppen, der Aufzug, all die Türen und Quadrate, Bücher und Briefe, dieser Schreibtisch, dieser Stift, aus Sprache erschaffen.

Es ist Dienstag, und erst heute, an diesem Tag, denke ich über die Freude nach, sprechen zu können. Ich freue mich, denken zu können, gerade heute freue ich mich, schreiben zu können, es ist Dienstag und ich bin froh, dass Dienstag ist.

Ich habe auch die Freude am Reisen nicht vergessen. Die erregende Freude daran, sich fortzubewegen, in einem Auto zu sitzen und loszubrausen, regungslos und in rasendem Tempo, ich liebe es, schnell zu fahren, schnell und weit, aus der Stadt raus, in der Dunkelheit, nachts zu fahren, aus der Stadt raus und wieder zurück. Oder die kurzen Strecken, mit Bus oder Boot, die gleiche Strecke hin und zurück; am liebsten sind mir die Fähren, oder Züge, sie weichen nicht von ihren ursprünglichen Plänen ab.

Wir vergessen. Wir vergessen das Fundamentale, die Freude darüber, aufwachen, in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken zu können.

Ein Glas kaltes Wasser!

Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst … Dieser Triumph, sich aufzurichten, vom Fußboden, und stehen zu bleiben und zu wanken, diese plötzliche Befähigung und kindliche Freude darüber, von Zimmer zu Zimmer gehen zu können.

Ja, am meisten freut es mich, zu gehen.

Es ist Dienstag und ich gehe aus. Ich gehe aus und trinke. Eine idiotische Freude. Die Freude darüber, zu schwanken und die Worte und das Gleichgewicht zu verlieren, zu torkeln und zu kriechen, es ist fast, als würde man wieder zum Kind.

4

Direkt gegenüber von dem Haus in der Vestre Torggate, in dem ich als Kind lebte, liegt eine Gaststätte. In dieser Gaststätte befindet sich eine Theke. An dieser Theke habe ich zwei Jahre fast jeden Abend gesessen und getrunken. Von meinem Tisch am Fenster aus habe ich zu jenem Fenster hinaufschauen können, an dem ich als Kind stand und zu den Lampen hinter der Glasfront hinabstarrte, unter denen ich jetzt sitze.

Gut möglich, dass sich unser Leben im Umkreis weniger entscheidender Orte abspielt und ich zu einem dieser Orte zurückgefunden habe. Eine Straße. Sie führt aufwärts, steigt steil an und kreuzt eine Stichstraße, ehe sie in Treppen übergeht; die Stufen zur Johanneskirche hinauf. Die Gaststätte liegt links, mein Elternhaus rechts; vor dem Hauseingang gibt es ein viereckiges Fleckchen Garten und einen Baum, ich glaube, es ist eine Buche, ich schreibe, dass es eine Espe ist, und hinter dem Eingang, in der Gaststätte, steht eine hufeisenförmige Theke, und hier sitzt meine neue Familie. Ja, das Lokal erinnert wirklich an ein Wohnzimmer. Hier sitzen mein Trinkbruder und meine Trinkmutter und mein Trinkvater, und dort sitzt meine Trinkschwester, sie gibt mir Bier und Zigaretten. Aber ich möchte allein sitzen. Ich möchte die ersten Biere allein mit den Gläsern und der Theke und dem Wirt trinken. Lauschen und schauen. Die immergleichen alten Geschichten hören, die gleichen Gesichter sehen und ein Anderer werden.

Wer wirst du sein? Wem wirst du begegnen? Wo wirst du landen? Was wird geschehen? Sich an die Theke zu setzen ist, als bräche man zu einer Reise auf. Trinken ist wie reisen, ohne sich vom Stuhl zu rühren.

Die Dunkelheit ist ein Ort, das Licht ist ein Weg, schrieb Dylan Thomas. Ich befinde mich in der Dunkelheit, habe meinen Stammplatz an der Theke gefunden und bestelle ein Bier. Das erste ist gut. Das zweite am besten. Das dritte ist besser als das erste, das vierte ist ganz ausgezeichnet, das fünfte auch, bei den restlichen geht es nicht mehr um den Geschmack, sondern ums Trinken, es geht um den Rausch. Ein gutes, langsames Vergessen. Nicht wie bei Wein oder Schnaps, nicht so ungeduldig, nicht so beflissen; wir werden hier lange sitzen, das ist die Kunst, zu sitzen und zu trinken, einen ganzen Abend bis in die Nacht hinein, darin besteht die Kunst: so lange ruhig sitzen zu bleiben, bis du dich bewegst. Sachte und unbeschwert reist du fort von dir selbst.

Man muss sich diesem Gedanken einmal stellen: Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen, eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du dich nie von dir selbst trennen können.

Es gibt Phasen im Leben, da sagst du dir: Du bist eine ungeduldige Person. Es gibt Phasen im Leben, da hast du Lust, auf den Hund zu kommen. Vor die Hunde und heim zu gehen. Du trinkst und gehst zu Bruch, du sinkst. Du arbeitest hart daran, bis zum Grund zu sinken. Du bist auf dem Weg nach unten, und das Gute an dieser Zerstörungsarbeit ist, dass du sie genießt.

Es gibt simplere Gründe dafür, dass ich trinke. Ich liebe Alkohol. Ich mag diese Theke. Hier fühle ich mich zu Hause. Es ist eine gute Theke. Die Theke ist ein guter Ort, ein Trinkort. Die Theke ist ein perverses Zuhause, ein unmögliches Wohnzimmer.

Es ist Dienstag, der beste Abend. Das Lokal ist voll, ich mag Gedränge. In eine niedrigere Einheit zu fallen, in eine Art untere Gemeinschaft; eine betrunkene Gesellschaft. In diesem Moment hat die Uhr zwölf geschlagen, es ist weder Dienstag noch Mittwoch, es ist Trinkzeit. Es ist Zeit, zu verschwinden, hier, inmitten deiner Freunde und deiner neuen Familie und all jener, die du nicht kennst. Du sitzt an der Theke und trinkst. Du hast dich in die Menge geworfen, und ohne dass es jemandem auffallen würde, sinkst du bis zum Grund hinab und bist fort.

5

Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren.

Der Traum, ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abzuschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden.

Sich einen Bart stehen und die Haare wachsen lassen, seine Augen verbergen, eine Brille, zerschlissene Kleider, ausgelatschte Schuhe tragen, das Gesicht aufquellen, die Hände schwarz werden lassen, sich in seiner gewohnten Umgebung bewegen, unter seinen alten Bekannten, und beobachten, welchen Eindruck das alles auf einen macht, wenn man selbst fort ist.

Der Traum von einer Verwandlung.

Als wachtest du eines Morgens im Bett neben einem Gesicht auf, das du nicht kennst. Als spräche sie deinen Namen aus, und dein Name erschiene offen. Als würdest du aus dem Bett steigen, durchs Zimmer gehen und den Lichtschalter nicht dort finden, wo er sein sollte: Der Nachttisch ist fort, die Wände sind verändert, die Decke ist abgesenkt worden, und die Tür, einen Spaltbreit offen, ist links vom Bett und nicht rechts wie sonst. Und wo ist das Fenster? Das Fenster zum Hinterhof, es bietet Aussicht auf eine Landschaft, die du noch nie gesehen hast, aber dennoch erkennst, vielleicht aus einem Traum oder früheren Leben, oder die Landschaft gehört zu einem Leben, von dessen Kommen du wusstest, zu einem Ort, von dem du wusstest, du würdest ihn finden, und nun bist du hier, stehst am Fenster, siehst hinaus und bist für einen Moment glücklich; du hast vergessen, wer du bist.

Oder die geträumte Verdoppelung, ein Albtraum; du stehst an einer Straßenecke und siehst auf der anderen Straßenseite jenen Mann, den du von allen am meisten fürchtest; du siehst dich selbst. Du kannst dem Drang nicht widerstehen, ihm zu folgen, und kommst nicht umhin zu bemerken, dass er einen Weg und eine Route nimmt, die du kennst und deine eigene nennst. Dein Name steht auf seinem Briefkasten. Er liest deine Briefe. Deine Gewohnheiten scheinen ihm vertraut zu sein. Er hat ganz offensichtlich deinen Platz eingenommen. Was sollst du tun? Was wirst du tun? Du wolltest verschwinden, kannst aber jederzeit ersetzt werden, bist schon ersetzt worden, und erkennst nunmehr schmerzlich und klar, wie sehr du an dich und deine Eigenart gefesselt bist.

Oder die Kehrseite dieses Traums, der schwarze Spiegel, du blickst in die Dunkelheit und willst sterben. Wie bist du hierher gekommen? Du trittst einen Schritt vor, zum Bett oder Fenster; sollst du dich hinausstürzen, auf die Straße, der harte Schluss, oder dich ins Bett legen und ein Glas Tabletten schlucken, was willst du? Wie bist du hierher gekommen? Eine Stimme schreit in deinem Kopf, eine andere in den Ohren, eine dritte in der Brust, eine vierte im Bauch: Tu es nicht! Du aber gehst zum Fenster, schaust hinunter, auf die Straße hinab, die Straßenlaternen brennen, es ist Nacht. Du trägst deine besten Kleider, das Hemd ist gebügelt, die Haare sind gekämmt, das Gesicht ist rasiert, als wolltest du zu einer Reise aufbrechen, einer letzten Reise. Wie leid ich es bin, zu reisen. Wie leid ich es bin, daheim zu sein, wie leid ich das alles bin. Ja, wie bin ich hierher gekommen, zu diesem Fenster oder Bett, und zu dem Gedanken, aufzugeben? Ich will nicht auf der Straße gefunden werden, so feucht und offen, so entblößt und zerstört. Ich wähle das Bett und gehe zum Bett, liege im Bett, es schreit im Mund und im Hals, in den Händen und der Hand: Tu es nicht!

Oder der Traum, nicht mehr zu sein, allerdings nur, um als etwas Neues wiederaufzuleben, nicht als Käfer, nicht als Blume, nicht als etwas Höheres oder Niederes, nicht als Nichts, sondern wie im christlichen Traum von Lazarus: zu einem neuen Leben zu erwachen. Wiedererkennbar für sich und andere, gleichwohl verändert. Ein neuer Mensch.

Ein alter Traum. So alt wie der Mensch, wie der Überdruss am Sein. Wie die Unzufriedenheit darüber, man selbst zu sein. Nein, jetzt habe ich genug. Nein, jetzt kann ich nicht mehr. Und dann diese Lüge, die allmählich zu Stumpfsinn, zu einer lebensmüden Wahrheit geworden ist; ich habe alles gesehen, alles gehört, alles getan.

Die Langeweile. Nicht die gute, stille, sondern die quälende, erstickende, angstvolle Langeweile. In das große, allumfassende, leere, sinnlose Nichts zu starren.

Heute habe ich meinen Glauben verloren. Den Glauben an etwas Neues.

Es bleibt einem nichts, als sich zu wiederholen.

Was wurde aus den Freuden?

Der Freude, sich zu wiederholen?

Aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen, sich im Spiegel zu betrachten, sich anzuziehen, zu frühstücken und sich an den Schreibtisch zu setzen. Alltägliche Verrichtungen: sich abmühen, um etwas Neues zu finden, ein neues Wort, einen neuen Satz, ein neues Buch.

Ist dir nie eine Stunde gekommen,

Ein jäher, göttlicher Funke, der

diesen ganzen Schwindel,

Mode und Reichtum, diese geschäftigen Ziele

voll Eifer – Bücher,

Politik, Liebesaffären –,

in völliges Nichts zersprengt?

Schrieb Walt Whitman, und heute, Donnerstag, den neunzehnten August, um acht Uhr dreiundvierzig, ist diese Stunde ein zweites Mal zu mir gekommen. Was tat ich beim ersten Mal? Ich hörte auf zu schreiben. Es währte vier Jahre. Ich zog aufs Land, heiratete und bekam Kinder, versuchte einen Kleinbauernhof zu bewirtschaften, es wollte mir nicht gelingen.

Es gelang mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden. Ich vermisste mein früheres Leben. Ich wollte allein sein. Wollte Bücher schreiben. Ich isolierte mich. Ich schrieb. Ich nahm mein altes Leben wieder auf. Meine alte Geschäftigkeit. Neue Beziehungen. Neue Träume, neue Reisen, neue Begegnungen, neues Geld, neue Bücher. Neue Zusammenbrüche. Aber niemals ein neues Leben. Was meinst du, ist es möglich, ein neues Leben anzufangen? Ich weiß es nicht. Heute ist alles zusammengebrochen, zum reinen Nichts, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Liebste.

Ich gehe, ich verlasse dich heute.

6

Aus einer Beziehung gehen. Pentti Saarikoski schreibt in Brief an meine Frau: »Sicher, ich mochte diese Frau, mit der ich hier zusammenwohnte. Dennoch wollte es mir nicht gelingen, mit ihr zusammenzuleben. Sie ging so langsam. Auf der Straße ging ich stets zwei Meter vor ihr. Und sie war nie wütend auf mich.«

Es stimmt schon, du warst immer wütend, wir gingen stets Seite an Seite, Hand in Hand, dennoch wollte es uns nicht gelingen, zusammen zu sein, oder doch?

Ich gehe zur Tür hinaus, schließe sie hinter mir, es ist Morgen. Wohin soll ich gehen? Nach rechts oder nach links? Das Einfachste wäre jetzt, auf direktem Weg zur Gaststätte zu gehen, aber ich will nicht das Einfachste, ich will etwas anderes, etwas Schwierigeres und Neues. Aber was genau ist das? Ich will allein sein. Ich will nicht allein sein. So gehe ich und denke, wende mich nach rechts, nicht nach links zur Stadt, wie ich es sonst zu tun pflege, nein, ich nehme den Weg, der aus der Stadt herausführt. Ich habe Geld in der Tasche. Ich bin ein freier Mann. Ich vermisse dich bereits. Ich gehe in die falsche Richtung, aus der Stadt heraus, kann jederzeit auf die Idee kommen, kehrt zu machen, zurückzugehen, gehe jedoch geradeaus. Aus wie vielen Beziehungen bin ich schon gegangen? Aufbruchblauer Himmel, leichte Wolken, wie kleine Buchstaben, wie Abschiedsbriefe, ich schreibe: geh. Der Tag beginnt, die Wärme kommt, ein leichter Gegenwind, und in mir macht etwas kehrt. Ich habe Lust auf ein Bier. Die Gaststätte öffnet in einer Stunde. Sie ist ein guter Ort. Meine Gewohnheiten sind allseits bekannt. Ich überrasche in aller Regel niemanden. Ich gehe aus der Stadt heraus, auf dem Asphalt auf die Festung Bergenhus zu, durch den Park, die Sonne scheint. Das Gras ist frisch gemäht, der gute Duft, plötzliche Freude. Ein Windstoß, die Bäume, die zu einer Allee gereiht stehen; sie geben Acht, dass der Park seine Form, die Welt ihren Sinn behält. Die Blätter der Bäume verfärben sich, es geht auf den Herbst zu. Ich gehe dem Winter oder Frühling entgegen. Es ist Sommer, Spätsommer, jemand schreibt August. Aber ich will keinen Brief schreiben, verschwinde in aller Stille, wortlos, ohne Erklärung; ich habe keine.

Ich liebe dich.

Und dort führen die Steintreppen zur Festung hinauf, die kleine Holzbrücke an der Außenseite der Mauer und der Weg zum Nye Sandviksvei hinunter. Zwei Kampfhunde hinter einem Zaun, ich spüre die Bereitschaft erwachen, die Lust, einem dieser Vernichtungstiere an die Kehle zu springen und seinen Hals zu zerfetzen. Ich spüre die Angst. Den spontanen Hass; meinen eigenen und den des Tiers, ich hasse den, der hasst. Doch als ich an den Hunden vorbei bin, bessert sich meine Laune, ich pfeife. Tirili, Tirila. Ich gehe die Straße hinab, und hier beschreibt sie eine Kurve, die so scharf ist, dass ich zurückblicken und die Stadt sehen kann, die ich soeben verlasse.

Eine Kurve. Der schöne Bogen zwischen dem, was war, und dem, was kommen wird.

Ich liebe diese Kurve.

Ich bin sie viele Male gegangen. Aber heute gehe ich sie zum ersten Mal. So fühlt es sich an. Vielleicht, weil ich sie nicht zurückgehen werde, vielleicht, weil ich so wach bin; heute sehe ich diese Kurve, folge ihr getreu, mit jedem Meter, mit jedem Schritt. Es ist meine Kurve. Ein zertretenes Blatt, Steinchen, eine ausgetrocknete Schnecke, eine plattgefahrene Kröte, kleine Spuren; du bist auf dem richtigen Weg. Du bist auf dem Weg zu etwas Vertrautem und Neuem. Als träte man rückwärts durch eine Tür ein, es ist dein Haus, dein Zweifel, dein Weg. Du folgst mir wie ein Schatten. Wir gehen Seite an Seite, Hand in Hand, jeder an seinem Ende der Stadt. Du fehlst mir. Nun aber endet die Kurve, und die Straße verläuft gerade und gabelt sich wie ein allzu mächtiger Fluss; sie will etwas. Ich weiß nicht, was ich will, folge jedoch der Straße aufwärts, nicht abwärts, ich gehe nach rechts und nehme den Amalie Skrams vei. Hier wohnte ich ein Jahr bei dem Philosophen, er war es, der mich lehrte zu gehen. Er lehrte mich, in einem Haus zu wohnen. Ich hatte Häuser nie gemocht, sie waren mir zu groß und zu widerspenstig. Ein Haus ist fordernd, schwierig. Man muss lernen, ein Haus zu bemeistern. Man muss lernen, darin zu wohnen. Ich lernte es, wollte es aber nicht, ich wollte in keinem Haus wohnen. Wir stritten uns darüber, denn du fandest Gefallen daran, in großen Häusern zu wohnen. Ich habe keine Zeit, in einem Haus zu wohnen, sagte ich, außerdem macht es mir Angst; all diese Türen, die überflüssigen Zimmer, die vielen unnützen Möbel, die unfreundlichen Fenster. Ich bin in einer kleinen Wohnung aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in einer modernen Wohnung, weil sie ihre Zeit arbeitend verbrachten. Wenn sie nicht arbeiteten, mussten sie sich ausruhen. Zentralheizung, Linoleumboden, Holztäfelung und Hausmeister, das sind Errungenschaften, die es einem ermöglichen, sich auszuruhen. Die es einem ermöglichen, keinen Gedanken an das Wohnen zu verschwenden. Man wohnt. Man arbeitet. Man ruht. Ich war in dieser Wohnung glücklich, sagte ich. Du aber wolltest in einem Haus wohnen. Und es kam, wie nicht anders zu erwarten; ich musste Holz hacken, den Ofen anfeuern, eine Wand einreißen, eine andere hochziehen, den Fußboden abschleifen, eine Tür reparieren, ein Fenster austauschen, ich musste das Haus streichen. Ich arbeitete im Garten. Ich stellte die Möbel um, das Haus war groß, wir wussten nicht, wohin mit uns. Ich schrieb kein einziges Wort in diesen Jahren. Was ich brauche, sagte ich, sind ein paar Stunden Frieden und Ruhe, ein paar Tage hintereinander ohne Pläne und Tatendrang. Was ich brauche, sagte ich, ist ein kleines Zimmer, am liebsten eine Kleiderkammer. Ein kleines, kühles, unberührtes und ungestörtes Zimmer, in dem ich schreiben kann. Doch etwas Derartiges gab es in unserem Haus nicht. In dieser Phase, als ich in einem großen Haus wohnte, bot mir der Philosoph ein Zimmer in seinem Haus an, er wohnte allein in einem freistehenden Haus. Jemand hätte mir sagen sollen, dass ich einer falschen Fährte folgte, ich hätte bei einem Schloss enden können, fast so wie jener unglückselige Landvermesser bei Kafka, aber der Philosoph hatte es vor allem darauf abgesehen, mich über das gute Leben aufzuklären. Ganz auf mich selbst gestellt, entdeckte ich, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Qualität des Denkens und Schreibens und der Größe des Hauses, das man bewohnt. Eher umgekehrt. Große Häuser führen möglicherweise zu großen Gedanken, aber gut sind sie deshalb noch lange nicht. Nun ja. In meinem Fall führen große Häuser unweigerlich zu kleinen Gedanken. Wo soll man den Salontisch platzieren? Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Fassade zu streichen? Welche Farbe soll man wählen? Wer wird die Rechnung bezahlen? Welche Bücher muss ich schreiben, um das Haus abzuzahlen? Einen Kriminalroman? Die Handlung war zum Greifen nah. Ich hatte große Lust, die Frau zu ermorden, mit der ich zusammen war. In dieser Phase lernte ich, zu gehen. Gehen ist in gewisser Hinsicht das genaue Gegenteil davon, in einem Haus zu wohnen. Zumindest gilt dies für die Wanderung, die eine erweiterte freiwillige oder unfreiwillige Geherfahrung ist, eine Wanderung ist erwünschte oder unerwünschte Heimatlosigkeit. Hatte ich mir nicht schon seit langem gewünscht, mich auf den Weg zu machen, ohne Kurs und Ziel, und nur zu gehen, in eine einzige, beliebige Richtung, fort von diesem mörderischen Haus? Der Philosoph ging täglich, zu seinem Büro und wieder zurück. Das schärfe sein Denken, behauptete er. Das Gehen bringe das Denken in Schwung, und die Gedanken, die einem beim Gehen kämen, seien besser als jene, die man denke, wenn man stillsitze, beispielsweise in einem Büro. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in seinem Büro. Ich saß am Schreibtisch des Hauses, das er bewohnte. Ich hatte Lust, zu gehen. Nicht hin und her, sondern geradeaus und fort, so weit ich kommen konnte. Nun, jetzt gehe ich hier, nach vielen kleinen Umwegen, an seinem Haus vorbei, geradeaus, den Anstieg hinauf, am Krankenhaus Sandviken und dem vorbei, was einst Dr. Martens Krankenhaus hieß, hier arbeitete meine Mutter, als Arztsekretärin, für Doktor Madland und Doktor Lieb, und manchmal auch für Doktor Ose. Von meiner Mutter habe ich den Respekt vor Ärzten geerbt, insbesondere vor Psychiatern, von ihr habe ich zu schreiben gelernt. Sie schenkte mir meine erste Schreibmaschine, es war eine Arztsekretärinnenmaschine, und ich weiß nicht, wie viele Krankenblätter und Berichte sie darauf getippt hatte, aber es steckte eine ganz eigene Verrücktheit in dieser Maschine. Als meine Mutter starb, drehte ich wirklich beinahe durch, ich flog nach London, nahm den Zug nach Swansea und ging zu Fuß nach Laugharne, wo ich mich im Brown Hotel auf einen Barhocker setzte, um mich in Grund und Boden zu trinken. Es war eine mythische Reise. Es war eine verzweifelte Reise. Auf der Beerdigung meiner Mutter hatte ich Dylan Thomas’ Gedicht Do not go gentle into that good night gelesen. Ein paar Tage später saß ich im Flugzeug; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aus reiner Verzweiflung ging ich in den Fußstapfen eines Dichters. Vom Krankenhaus führt ein Weg zum Skytterveien hinauf. Am Fußballplatz vorbei. An der alten Genossenschaft vorbei. Flache Wohnblöcke in zwei Reihen, ein Spielplatz, ohne Kinder. Geparkte Autos, frisch gemähtes Gras, Asphalt, Treppenaufgänge, Stille, es herrscht eine ganz eigene Stille zwischen diesen Mietskasernen. Eine schattenhafte Gestalt mit Stock, der Mann steigt die Treppe wie jemand hinauf, der seine Frau verloren hat, die Treppe zum Hochhaus, es ist der Hausmeister, er heißt Osberg, ich erkenne ihn. Er wohnt im fünften Stock, wir wohnten im elften, in der Wohnung, an deren Tür heute Familie Larsen steht. Joakim Larsen, der Vater von Rune, dem mit den Fernsehprogrammen. Rune Larsen ist mir als recht guter Boxer in Erinnerung geblieben, obwohl sein Vater besser war, jedenfalls behauptet das mein Vater, der ebenfalls Boxer war, allerdings nicht besser als sein Sohn, das habe ich schwarz auf weiß. Unter dem Hochhaus verläuft eine Unterführung zum Hinterhof, von dort aus führen Treppen am Heizungskeller und an den Wäscheleinen vorbei zu dem steilen Hang, der sich am Jomfrudammen teilt. Der Weg führt wieder bergab zum Langevannet und folgt der alten Poststraße nach Åsane. Nur an zwei Punkten berührt dieser Weg die Verkehrsader, die sich bis in die Vorstadt zieht. Man geht über eine Brücke. Man passiert einen Bauernhof. Man denkt nicht besser, wenn man geht. Man denkt anders. Woran denke ich? Ich habe Hunger und muss mir etwas zu essen besorgen. In Åsane mache ich am Geschäftszentrum Halt, um einzukaufen. Ich besorge mir einen Rucksack, gute Bergstiefel, Toilettenartikel und eine Ausgabe von Julie oder die neue Héloïse; ich habe beschlossen, weit zu gehen.

7

O ja, warum nicht mit Rousseau, Jean-Jacques, beginnen, der in seinen Bekenntnissen schreibt: »Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen. Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen. Das freie Land, die Aufeinanderfolge so vieler freundlicher Anblicke, die frische Luft, der große Hunger und die Gesundheit, die ich mir stets beim Gehen erwerbe, die Ungezwungenheit des Gasthauses, die Entfernung alles dessen, was mich meine Abhängigkeit fühlen lässt und mich an meine wahre Lage erinnert, befreit meine Seele, verleiht mir eine größere Kühnheit des Denkens […].«

Rousseau ist nicht der Erste, der eine Verbindung zwischen Gehen und gutem Denken herstellt, aber er ist der erste bedeutende Autor, der darüber reflektiert, was es eigentlich heißt, zu gehen; er schreibt dem Gehen einen romantischen Wert zu: Man kommt der Natur näher; dem Ursprünglichen, und empfindet sogleich Wohlbehagen, ein reines Glücksgefühl, außerdem ist man frei. Der Gehende fühlt sich frei. Er kann seine Wege selbst wählen. Außerdem ist es gut für das Denken und die Gesundheit, sich zu Fuß fortzubewegen. Am besten gehen wir aus der Stadt heraus, ins Freie, aufs Land und in die Natur; das befreit die Gedanken und wirkt appetitanregend. Aber was sollen wir essen? Jean-Jacques war ein Freund und Fürsprecher der Natur, ein Vegetarier war er jedoch nicht. Wir finden ein Wirtshaus im Text und stellen uns eine wohlschmeckende Mahlzeit mit ausgesprochen köstlichen Getränken vor. Wir sind folglich nicht in der Gewalt der Natur, wir halten uns noch in einiger Entfernung zur Wildnis auf: Wir befinden uns mit anderen Worten an einem Ort dazwischen. Und dieses Dazwischen ist der Ort der Romantik. Wir haben einen hübschen Spaziergang aus der Stadt hinaus gemacht und sind noch ein ganzes Stück von der Wildnis, von unberührter Natur entfernt. Wir befinden uns an einem Ort zwischen der Stadt und ihrem Gegenpol, dem Wildwüchsigen. Hier ist der Mensch von der Forderung nach Wissen und Bildung befreit. Wir haben Theater und Museen und Kunst hinter uns gelassen, mit denen die Hässlichkeit des modernen Lebens überpudert wird. Doch wir sind nicht so weit entfernt, dass wir nicht mehr zur Wärme des heimischen Herds und den abendlichen Notizen zurückkehren können. Wir halten uns in einer Idylle auf, einer Landschaft, in der ein angenehmer Ausblick den nächsten ablöst. Wir können die Stadt nicht sehen. Wir haben Aussicht auf eine Kulturlandschaft mit Ackerbau und kleinen Bauernhöfen. Hier steht ein Wirtshaus, eine Kirche mit Glockenturm. »Absolute Stille indes«, schreibt Rousseau, »macht traurig. Sie bietet ein Bild des Todes.« Nein, wir können die Vögel und den Bach hören, der zwischen den Feldern in Gräben geleitet wird. Dort hinten grast eine Schafherde, und in passender Entfernung erblicken wir Pferde und Kühe. Am schönsten ist jedoch die Aussicht auf einen kleinen See, in dem das Boot des einsamen Wanderers liegt. Hier rudert er allein, mit einem Ruder hinaus, und liegt stundenlang rücklings auf dem Boden des Boots, bis er ekstatisch ausruft: »Oh, Natur! Oh, meine Geliebte!«

Jean-Jacques schwärmt für die Natur. Sie ist, wenn man so will, seine Geliebte. Er liebt die Natur wie eine Frau. Bei Rousseau ist die Natur in erster Linie eine Vorstellung. Sie ist sauber und unproblematisch, bereinigt von Konflikten und Schlacke. Natur ist bei Rousseau eine Vorstellung von einem besseren und ursprünglicheren Ort für die Menschen. Es scheint, als nähme Rousseau die Natur als eine Abwesenheit von Stadt wahr, von allem, was er verachtet: Diskussionen und Eitelkeit. Gesellschaftliches Leben und Kunst. Fort sind die Straßen und der Lärm, die Hetze und alles Falsche; die Krämer und Anwälte, die Journalisten und Künstler. Fort sind Industrie und Technologie. Hier in dieser Abwesenheit ist der Mensch natürlich: »Er durchstreift die Wälder, ohne Industrie, ohne Reden, ohne Heimstatt, ohne Krieg und Verbindungen. Er braucht die anderen nicht und hat auch nicht den Wunsch, ihnen zu schaden.«

Der Wanderer ist also, Rousseau zufolge, ein einfacher und friedlicher Mensch. Er ist frei. Er hat die Stadt zurückgelassen, Familie und Verpflichtungen verlassen, seiner Arbeit Lebewohl gesagt. Lebewohl der Verantwortung. Lebewohl dem Geld. Er hat Abschied genommen von seinen Freunden und der Geliebten, von Ambitionen und Zukunft. Er ist ein wahrer Rebell, doch nun hat er auch der Rebellion Lebewohl gesagt. Er wandert allein im Wald, ein Herumtreiber. Er geht die Wege, ohne allzu viele Habseligkeiten, er hat sich die Welt und ihre Möglichkeiten zu eigen gemacht. Was er benötigt, trägt er in einem Sack auf dem Rücken.

Jean-Jacques verlässt das Wirtshaus. Der rebellische Mann und Naturliebhaber ist einfach gekleidet, trägt ein langes hellbraunes Baumwollgewand über einer kurzen Hose mit langen Wollstrümpfen. Er trägt dünne, aber feste Schuhe. Er verlässt das Wirtshaus. Jetzt muss er sich entscheiden, ob er umkehren und heimgehen oder noch ein Stückchen weiter gehen soll. Jean-Jacques kehrt um, er will zu seinem Haus und zum Schreibtisch zurück. Sobald er daheim ist – es ist ein kleines Schlösschen, eine reiche Freundin hat es ihm überlassen –, setzt er sich an den Schreibtisch am Fenster. Hier schreibt er in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers: »Ich plante also, die allgemeine Befindlichkeit meiner Seele in der jetzigen Situation zu beschreiben – der absonderlichsten wohl, die einem Sterblichen widerfahren kann –, und am besten, glaubte ich, gelänge mir dies, wenn ich getreulich die Träumereien protokollierte, die meine einsamen Spaziergänge beleben, kaum dass ich meinen Kopf gewähren und meine Gedanken sich völlig ohne Zwang und Steuerung entwickeln lasse. Nur in diesen Stunden der Einsamkeit, da ich Gelegenheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört, bin ich ganz und gar ich selbst und gehöre mir allein; nur in diesen Stunden kann ich ehrlicherweise von mir behaupten zu sein, wie die Natur mich wollte.«

8

Voltaire schreibt über Rousseau: »Er scheint gewillt, auf allen vieren zu gehen.«

Zurück zur Natur? Der Naturzustand, ein Tier, nein, das ist nicht komisch, kein Scherz, es ist Ernst: Wir wollen hinab. Auf allen vieren gehen, auf den Hund kommen. Das Aufrechte vergessen, alles, was wir hochhalten, wir wollen hinab und nicht hinauf.

Es gibt in Åsane ein Lokal, eine sogenannte Spelunke, in der einfache Gerichte und billige Getränke serviert werden, vier Tische auf einem abgetretenen Parkettboden, Lampen, die eher verdunkeln als erhellen; es ist ein Ort, an dem man schwerlich vorbeigehen kann.

Der Kellner, ich kenne ihn, Christian, ein Chilene, ich habe ihm vor vielen Jahren Norwegisch beigebracht, ein schöner Mann, an nichts anderem als Mädchen interessiert und zu nichts zu gebrauchen, glaubte ich, damals, aber hier steht er nun vor mir und hat einen Beruf. Einen Stolz. Er setzt das Bierglas unnötig hart auf meinem Tisch ab: »Und was ist aus dir geworden?«, fragt er.