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Loreley

Kai Meyer

LORELEY

ERSTER TEIL

Der Faden im Labyrinth

Prolog

Anno Domini 1319

Frage sie, welche Sprache der Mond spricht. Oder warum Gottes Wort Leben erschafft, aber deinem keiner zuhört. Frage sie, ob die Welt wirklich eine Scheibe ist oder vielleicht nur eine Münze, die jemand zum Spaß in die Luft geworfen hat; frage sie, was geschehen wird, wenn der Kopf oben und die Menschen unten landen. Frage sie dies und all die anderen Dinge, die du wirklich wissen willst.

Sie werden dir keine Antwort geben. Denn sie wissen es nicht.

Sie nennen sich erwachsen, dachte das Mädchen Ailis, aber sie wissen nichts. Rein gar nichts.

Ailis saß mit angezogenen Knien auf einem Findling und beobachtete eine Ameise, die mit einer Last, größer als sie selbst, über das poröse Gestein balancierte. Ein Erwachsener, überlegte sie, hätte das kleine Tier wohl zerdrückt, so wie sie alles zerdrückten, das sie nicht verstanden.

Und niemanden, dachte Ailis finster, verstehen sie weniger als mich. Weil sie erst vierzehn war, glaubte sie wirklich daran.

Hinter ihr erhob sich der Wald wie eine Heerschar von Wächtern, starr und düster und flüsternd im Wind. Wie die Wachtposten am Burgtor verstummten auch die Bäume, sobald man sich nach ihnen umschaute. Sie blieben mit ihren Gedanken unter sich, sie drängten sie niemandem auf, und so sollte es, zum Teufel nochmal, jedermann machen! Ganz besonders Väter, die nichts von dem begriffen, was in den Köpfen ihrer Töchter vorging.

Ailis’ Vater hatte vor Sonnenaufgang die Tür ihrer Kammer im Weiberhaus der Burg aufgestoßen. Er hatte an ihren Schultern gerüttelt und verlangt, dass sie aufstünde. Gefälligst aufstünde. Als ob ihr das nicht bereits klar gewesen wäre, als sie seine Schritte im Treppenhaus gehört hatte. Ailis hörte mehr als jeder andere, ihr Gehör war das beste dies- und jenseits des Rheins, daran zweifelte keiner. Sogar der Graf, der in letzter Zeit wahrlich andere Sorgen hatte, gestand ihr das zu. Ailis fand allerdings, dass dies eher eine Last denn ein Segen war. Ihr Vater aber, der Leibjäger des Grafen, war stolz auf das Talent seiner Tochter – immerhin ein Gefühl, das er für sie aufbrachte.

Du tust ihm unrecht, ihm und auch deiner Mutter, hätte wohl ein Erwachsener gesagt, wenn Ailis ihm davon erzählt hätte. Aber sie sprach nie darüber, und ganz gewiss nicht mit jemandem, der älter war als sie; deshalb blieb sie von all diesem Unsinn verschont. Du tust ihm unrecht. Liebe Güte! Wen kümmerte es denn, wenn ihr Unrecht widerfuhr?

Ihr Vater hatte sie geweckt, damit sie an einer Treibjagd teilnahm, und das, obwohl er wusste, wie sehr sie die Jagd verabscheute. Noch vor Tagesanbruch war der Tross aufgebrochen, hatte mit der Fähre ans andere Rheinufer übergesetzt und sich dort zu Fuß ins Dickicht geschlagen. Ailis’ Gehör sollte den Männern helfen, die Richtung zu bestimmen, in die ihre Beute floh. Es war erst Ailis’ zweite Jagd, die erste lag mehrere Jahre zurück. Damals hatte ihr Vater ihren Wunsch respektiert, sie fortan nicht mehr am Töten von Tieren zu beteiligen. Weshalb er dieses Abkommen gerade heute gebrochen hatte, wusste sie nicht. Es hatte keine Erklärungen gegeben, nur stumme Gesichter im Mondschein und Blicke wie das Schimmern eines gefrorenen Wintersees. Bereits kurz nach dem Aufbruch hatte niemand mehr ein Wort gesprochen. Die fünf Männer an der Seite des Grafen schienen zu wissen, was von ihnen erwartet wurde. Ailis fühlte sich in ihrer Mitte fremd und unwillkommen, und zum ersten Mal seit langem kam sie sich wieder wie ein Kind vor. Sie wollte nicht hier sein, wollte nicht zusehen, wie Tiere getötet, gehäutet und ausgenommen wurden.

Aber niemand scherte sich um das, was sie wollte. »Spitz die Ohren«, hatte ihr Vater gesagt. Und das hatte sie getan. Eine Weile lang. Dann war sie fortgelaufen, hinauf auf den Berg, zu diesem Findling, von dem aus sie nun hinab auf den Rhein schaute.

In der Ferne hörte sie gelegentlich die Jäger durch Unterholz und Buschwerk brechen, sie vernahm Flüche, einmal sogar den Ruf »Da ist es!«

Das Ende der Jagd stand kurz bevor, auch ohne Ailis’ Hilfe. Die Aussicht auf die Schläge ihres Vaters änderte nicht das Geringste an ihrer Überzeugung, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte; richtig, weil es allein ihre Entscheidung war. Ihr Vater hatte kein Recht, über sie zu verfügen wie über einen seiner Jagdhunde.

Überhaupt, warum nahmen an dieser Jagd keine Hunde teil? Der Gedanke kam ihr jetzt zum ersten Mal. Das alles hatte sie offenbar weit mehr durcheinander gebracht als sie es sich bislang eingestanden hatte.

Und dann, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, regte sich etwas in ihrem Rücken, und eine Stimme flüsterte: »Hilf mir.«

Als Ailis erschrocken auf die Füße sprang und herumfuhr, entdeckte sie am Waldrand ein kleines Mädchen. Es war strohblond, fast weißhaarig, und es konnte kaum älter als fünf Jahre sein. Es trug ein zerrissenes Kleid, so schmutzig und ausgefranst, dass nicht mehr auszumachen war, ob es einmal schön oder schlicht, wertvoll oder armselig gewesen war.

»Wer bist du?«, fragte Ailis und horchte in den Wald. Das Mädchen schien allein zu sein.

»Ich habe Angst«, sagte die Kleine.

»Ist niemand bei dir?«

»Nein.«

»Wie heißt du?«

Das Mädchen runzelte die Stirn, als sei dies eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gab. »Ich bin … nur ein Kind«, sagte es schließlich, als sei das Erklärung genug.

Ailis fand die Erwiderung der Kleinen sonderbar, gewiss, doch zugleich hatte sie Mitleid mit ihr. Vielleicht war sie von zu Hause fortgelaufen, wie Ailis selbst es oft genug tun wollte – tun würde, irgendwann –, und natürlich brauchte das Mädchen Hilfe, das war nicht zu übersehen.

Ailis stand immer noch am Findling, hinter sich die weite Aussicht über das Rheintal. Vom Waldrand und dem Mädchen trennten sie nur wenige Schritte. Das Einzige, was sie davon abhielt, auf die Kleine zuzugehen und ihr schmutziges Gesicht in näheren Augenschein zu nehmen, war der schlechte Geruch, der von ihr ausging. Kein Wunder, wahrscheinlich irrte sie schon seit Tagen allein durch die Wälder.

Das Mädchen streckte eine Hand nach ihr aus. »Hilfst du mir?«, fragte es.

»Sicher.« Ailis machte einen Schritt nach vorne. »Was ist passiert? Wo sind deine Eltern? Jemand sollte dich waschen.« Lieber Himmel, jetzt redete sie schon wie ihre eigene Mutter. Insgeheim aber war sie ein wenig stolz darauf. Sie war eben doch kein Kind mehr, mochte ihr Vater auch noch so oft versuchen, ihr das einzureden.

Das weißblonde Haar der Kleinen unterschied sich kaum von Ailis’ eigenem. Es war lang, glatt und unordentlich. Seltsamerweise schien es nicht ganz so schmutzig zu sein wie der übrige Körper des Mädchens.

»Waschen«, wiederholte die Kleine Ailis’ letztes Wort, als gelte es, sorgfältig darüber nachzudenken. »Sauber sein ist gut. Ich bin dreckig. Aber sauber sein ist gut. Machst du mich sauber?«

Ailis zögerte. War das Mädchen nicht richtig im Kopf? Ach was, dachte sie, die Kleine ist nur verwirrt. Und wer konnte ihr das verübeln, bei dem, was sie augenscheinlich durchgemacht hatte?

Ailis tat noch einen Schritt auf das Mädchen zu. Der Geruch war schlimm, aber allmählich gewöhnte sie sich daran. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Kleinen, die Schmutzkruste um ihre Mundwinkel splitterte, zerstob. Ailis lächelte zurück und streckte den Arm aus, um das Haar des Mädchens zu berühren.

Im selben Moment ertönte jenseits der äußeren Bäume ein Brüllen. Dann schienen die Schatten selbst Gestalt anzunehmen, unförmig auf Ailis und das Mädchen zuzuflattern wie riesige, flügellahme Vögel.

Doch das, was auf sie zukam, war kein Vogel und auch kein Schatten. Es war ein Netz, dessen Ränder mit Steinen beschwert waren. Einer davon streifte Ailis’ Stirn, sie taumelte mit einem Keuchen zurück, prallte gegen den Findling. Einen Moment lang trübte sich ihr Blick. Wie durch Wasser sah sie, wie sich das Netz um das Mädchen schloss, eine Faust aus Knoten und Hanf. Die Kleine fiel zu Boden und im gleichen Augenblick stürzten von hinten zwei Gestalten aus dem Wald, packten die Ränder des Netzes und zerrten daran. Als Ailis wieder klar sehen konnte, erkannte sie, dass eine der Gestalten ihr Vater war. Er und der andere Mann zogen das strampelnde Kind im Netz zwischen die Bäume, zurück in den Wald. Ailis sprang auf, lief taumelnd hinterher.

»Was tut ihr denn da?«, brüllte sie die beiden Männer fassungslos an.

Nicht ihr Vater, sondern der andere Jäger rief schnaufend: »Sei still, Kind! Lauf runter zum Ufer und warte, bis wir zurück zur Fähre kommen.«

Sie dachte nicht im Traum daran zu gehorchen. »Vater«, rief sie, ohne den anderen Kerl zu beachten, »ihr tut ihr doch weh!«

Tatsächlich schleiften die Männer das hilflose Kind im Netz über den Waldboden, ungeachtet aller Steine, Wurzeln und Äste in ihrem Weg. Die Gegenwehr des Mädchens war ungebrochen, es zog und zerrte an den Seilen, riss den Mund zu verzweifelten Schreien auf, doch kein Ton drang über seine Lippen, als würde seine Stimme von irgendetwas verschluckt. Ailis bemerkte, dass die Stränge des Netzes mit goldenen Fäden durchwirkt waren. Die Steine, die es beschwerten, waren in der gleichen Farbe mit seltsamen Mustern bemalt – Runen! Aber sie sahen nicht wie andere Schriftzeichen aus, die Ailis bisher gesehen hatte. Feenrunen, dachte sie und wusste selbst nicht recht, wie sie darauf kam. Es schien fast, als sei das Netz nicht von Menschenhänden geknüpft worden.

Entsetzliche Angst packte sie – vor ihrem Vater und vor den anderen Männern. Mit einem Mal waren sie wie Fremde. Wegelagerer, vielleicht Räuber und Mörder. Ailis und das Mädchen waren ihnen vollkommen ausgeliefert.

Nach und nach traten auch die übrigen Jäger aus dem Wald, zuletzt Graf Wilhelm persönlich. Er betrachtete das strampelnde Bündel am Boden ohne eine Spur von Mitgefühl.

»Herr Graf«, flehte Ailis ihn an, »tut doch etwas!«

Er aber schüttelte nur unmerklich den Kopf, wechselte einen besorgten Blick mit Ailis’ Vater, dann eilte er mit weiten Schritten an die Spitze der schrecklichen Jagdgesellschaft und ging voraus.

Ailis schloss bis zum Netz auf und wollte danach greifen, doch einer der Männer hielt sie zurück und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Niemand nahm Anstoß daran, am wenigsten Ailis’ Vater. Er schien den Vorfall nicht einmal bemerkt zu haben.

Der Schmerz in ihrer Wange war nebensächlich. Es war nicht der Schlag, der ihr die Hoffnung nahm. Vielmehr zeigte ihr die Gleichgültigkeit all dieser Männer nur zu deutlich, dass das kleine Mädchen verloren war. Was immer sie mit dem Kind anstellen wollten, sie würden es tun. Keiner konnte sie aufhalten, und ganz gewiss nicht Ailis, selbst noch ein Kind. Hilflos stolperte sie hinter den Männern her.

Bald erkannte sie, wohin ihr Weg sie führen würde: hinauf zum Lurlinberg, einem steilen Felsen hoch über dem Rhein. Dort oben, an seiner äußeren Spitze, befanden sich die Ruinen einer vorzeitlichen Wehranlage, kantige Mauerreste und Gräben im Gestein, zwischen denen Gras und Nesseln wuchsen. Burg Rheinfels, Ailis’ Zuhause, lag nur wenige Bogenschussweiten entfernt, jenseits der Biegung auf der anderen Seite des silbernen Stroms. Einen Atemzug lang überlegte Ailis, ob sie noch einmal um Hilfe rufen sollte, um den Fährmann oder jemanden am gegenüberliegenden Ufer zu alarmieren, doch dann fand sie den Gedanken lächerlich. Der Mann, gegen den sie sich wenden wollte, war Graf Wilhelm von Katzenelnbogen, der Onkel ihrer besten Freundin und, soweit sie dies bisher hatte beurteilen können, ein kluger, weitsichtiger Herrscher. Was aber in dieser Nacht geschah, stellte alles auf den Kopf, was sie bislang geglaubt hatte.

Die Männer blieben kurz vor der Felskante stehen, hinter der das Schiefergestein des Lurlinberges über hundert Schritte tief zum Rhein abfiel. Sie standen rund um ein Loch im Boden, vielleicht ein alter Brunnen, in dessen Tiefe ungewisse Schwärze herrschte. Das kleine Mädchen kreischte noch einmal auf, ohne dass ein Laut durch das Netz drang, dann zerrten die Jäger es über die Brunnenkante. Polternd verschwand der zarte Körper mitsamt dem Netz im Dunkel, der hellblonde Schopf wurde von der Finsternis verschluckt.

Ailis stand da wie versteinert. Die Männer traten geschwind auseinander, zwei von ihnen zogen ein mächtiges Gitter über die Brunnenöffnung. Beim Aufbruch von Burg Rheinfels hatte es auf einem Karren gelegen, der mit ihnen zum anderen Ufer übergewechselt war. Ailis sah das Gefährt jetzt zwischen den Ruinen stehen. Die beiden Lastpferde im Geschirr grasten friedlich am Fuß einiger Mauerreste.

Das Gitter wurde mit Ketten und einem Vorhängeschloss an Ringen im Fels verankert, bis es den Brunnen fest verschloss. Es war das scheußlichste Stück Schmiedearbeit, das Ailis je gesehen hatte: Ober- und Unterseite waren mit armlangen, scharf geschliffenen Stahldornen versehen, die wirr in alle Richtungen abstanden. Von unten war es völlig unmöglich, danach zu greifen, ohne sich zu verletzen. Selbst von oben musste man ungemein vorsichtig sein, wollte man einen Blick in den Brunnenschacht werfen. Ein unüberlegter Schritt, ein Stolpern vielleicht, und man würde unweigerlich von den furchtbaren Spitzen aufgespießt.

Der Graf trat auf Ailis zu. Sie wollte zurückweichen, doch er packte sie fest an den Schultern. Sie hatte entsetzliche Angst vor ihm und seinen Männern und es machte längst keinen Unterschied mehr, dass ihr Vater einer von ihnen war. Sie hatten ein wehrloses kleines Kind getötet und sie würden, wenn es nötig war, das gleiche mit ihr tun.

»Es war ein Fehler, dich mitzunehmen«, sagte der Graf und blickte ihr starr in die Augen. »Du bist fortgelaufen und warst uns keine Hilfe. Wir haben es auch ohne dich geschafft. Aber nun, da du einmal hier bist, sollst du einen Schwur ablegen. Hast du das verstanden, Ailis?«

Sie nickte zögernd und fühlte sich dabei wie gelähmt. Ihre Muskeln schienen ihr kaum noch zu gehorchen.

»Du wirst schwören«, fuhr Graf Wilhelm fort, »dass du nie ein Wort über das verlieren wirst, was du heute mitangesehen hast. Du wirst vergessen, dass du mit uns hier oben warst.«

»Das kann ich nicht«, wagte sie leisen Widerspruch.

Ihr Vater trat vor und holte zu einem Schlag aus, doch der Graf hielt ihn mit einem knappen Wink zurück.

»Ailis«, sagte er eindringlich, »nichts von all dem ist wirklich geschehen. Du wirst niemals, niemals darüber sprechen. Mit keiner Menschenseele. Es wird keine Erklärungen geben, keine Zweifel, nicht einmal schlechte Träume. Sobald wir wieder in der Burg sind, wird jeder von uns abstreiten, dass wir je etwas anderes als Rotwild gejagt haben. Schwörst du das bei Gott, dem Herrn?«

In den letzten Worten des Grafen lagen großer Ernst und eine unausgesprochene Drohung, sodass Ailis abermals nickte und schwieg.

»Wir werden jetzt umkehren«, sagte der Graf. »Kein Wort, keine Silbe, kein Gedanke mehr an all das. Verstanden?«

»Ja«, flüsterte Ailis, »verstanden.«

Und in jenem Moment glaubte sie wirklich, dass sie sich daran halten würde.

1. Kapitel

Ein Jahr später

Von den Zinnen aus schien es, als läge Burg Rheinfels im Halbschlaf. Dichter Nebel dämpfte alle Laute. Kein gleichmäßiger grauer Dunst, sondern scharf umgrenzte Wolken, deren Ränder sich verschoben, verschmolzen und wieder auseinander trieben und dabei eine Vielzahl geisterhafte Formen bildeten.

Fee, die Nichte des Grafen Wilhelm von Katzenelnbogen, stand auf einem der Wehrgänge und blickte zum Rhein hinab. Sie konnte den Fluss im Nebel nicht erkennen, hörte aber, wenn sie aufmerksam lauschte, das Rauschen seiner Strömung. Die wenigsten machten sich die Mühe, einfach nur zuzuhören, dem Raunen der Wälder, dem Flüstern des Windes in den Treppenschächten der Burgtürme oder aber dem Lied des uralten Stroms am Fuß der Felsen. Fee hatte das Zuhören selbst erst erlernen müssen, vor ein paar Jahren, als sie alt genug war, seine Faszination zu begreifen. Ailis hatte es ihr beigebracht. Aber Fee dachte nicht mehr oft an Ailis; wenigstens gestand sie es sich nicht ein.

Burg Rheinfels thronte über dem Westufer des Stroms, hoch über den Dächern des Dorfes, das eingezwängt zwischen den Hängen des Burgberges und der Uferböschung lag. Manchmal ging Fee mit einer ihrer Kammerzofen dort hinunter, sah den Bauern beim Kühemelken zu oder beobachtete, wie die Weinernte aus den Bergen gekeltert wurde. Nicht, dass ihr all das wirklich etwas bedeutete. Sie war fünfzehn und begann allmählich, von einem Leben am Königshof zu träumen, von prachtvollen Festen, von herrlichen Kleidern und Rittern in strahlender Kriegsmontur. Ihr Onkel hatte ihr versprochen, dass er sie bald dorthin schicken würde, damit man ihr den letzten Schliff zur Edeldame gab. Gewiss, Burg Rheinfels war eine mächtige Festung und ihr Onkel, der Graf, ein Mann von großem Einfluss. Und doch besaß das tägliche Leben hier kaum etwas von dem Glanz, den Fee sich erträumte, wenn sie Geschichten von Banketten und Tanz im Thronsaal König Ludwigs hörte.

Ihre Eltern hatte sie nie kennen gelernt. Ihre Mutter war bei Fees Geburt gestorben, ihr Vater bald darauf fortgegangen. Niemand wusste, wohin. Fee hatte ihr Leben unter der Obhut des Grafen und seiner Frau verbracht. Die beiden hatten selbst keine Kinder, und so behandelten sie Fee wie ihre eigene Tochter. Wenn ihr Onkel versprach, sie in naher Zukunft zum Königshof zu schicken, dann glaubte sie ihm. Er war immer aufrichtig und gut zu ihr gewesen.

»Fräulein Fee!«, rief eine Stimme, und bald darauf löste sich eine Gestalt in wehendem Kleid aus den Dunstwolken. Der enge Wehrgang, eben noch der einsame Bug eines Schiffes, das Fee ihren Träumen ein Stück näher brachte, gerann wieder zu massivem Stein, fest verwurzelt in der grauen Wirklichkeit der Burg.

Amrei, Fees Lieblingszofe, trat neben sie und folgte ihrem Blick in den Nebel. »Da gibt es doch überhaupt nichts zu sehen«, stellte sie fest und runzelte die Stirn.

Du sprödes Ding, dachte Fee, teils belustigt, teils mitleidig. Manchmal fühlte sie sich, als wäre sie die einzige hier, die über einen Funken Vorstellungskraft verfügte. »Ich dachte, ich hätte Pferde gehört, die den Berg heraufkommen.«

»Pferde?«, entfuhr es Amrei, und ein Leuchten glomm in ihrem Blick. »Ihr meint, Ritter?« Angestrengt starrte sie in die Tiefe, beugte sich sogar zwischen den Zinnen vor, um zum Fuß der Mauer hinabzublicken. Schließlich aber zog sie den Kopf enttäuscht zurück. »Ich kann nichts erkennen.«

Einen Moment lang überlegte Fee, ob es sinnvoll wäre, Amrei auf den Unterschied zwischen Hören und Sehen hinzuweisen, doch dann ließ sie es bleiben. Zumal sie es vorzog, ihren Schwindel von den Pferdehufen im Nebel nicht noch weiter zu vertiefen. Es geschah ihr ohnehin viel zu oft, dass sie sich in irgendwelchen Notlügen verlor, bis sie schließlich nicht mehr zurückkonnte und die eine Lüge mit weiteren untermauern musste. Sie wusste, dass dies einer ihrer Fehler war. Sie log nicht böswillig, oft nicht einmal bewusst; meist waren es lediglich kleine Schwindeleien, die sie aus der Not heraus zu handfesten Lügenmärchen ausbaute. Sie war nicht stolz darauf, aber sie hatte es längst als Teil ihrer Natur akzeptiert.

»Hast du mich gesucht?«, fragte sie.

Die Zofe nickte und zupfte die Stoffhaube zurecht, die ihr dunkles Haar verbarg. »Ihr wart nicht in Eurer Kammer und auch nicht in der Küche oder im Saal bei den anderen Damen. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Aber wo sollte ich denn schon sein?«, seufzte Fee. »Du bist nicht viel älter als ich und führst dich auf wie eine alte Jungfer, Amrei.«

Die Zofe kicherte verhalten. »Und solange die Ritter, die Ihr im Nebel hört, nur Eurer Einbildung entspringen, werde ich wohl oder übel eine Jungfer bleiben. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich mich mit einem dieser Lausebengel, die sich Knappen schimpfen, zusammentue.«

»Aber sie mögen dich«, sagte Fee. »Du solltest sehen, wie sie sich nach dir umschauen, wenn du über den Hof gehst.«

Amreis Blick war traurig, doch zugleich glomm in ihren Augen ein vager Hoffnungsschimmer. »Ihr wollt mir nur schmeicheln, Fräulein.«

Das wollte Fee tatsächlich, und damit war es wieder einmal soweit: Eine kleine, höfliche Flunkerei, und schon war sie gezwungen weiterzuschwindeln. Alles andere hätte Amrei zu Tode beleidigt. So ersann sie auf die Schnelle eine Geschichte über einen der Knappen, den sie zufällig belauscht hatte, als er einem anderen seine Liebe zu Amrei offenbarte; heimlich, verstand sich, hinter einem Busch versteckt. Und, genau besehen, war es gar keine Lüge. Fee hatte dieses Gespräch tatsächlich mitangehört – mit dem feinen Unterschied allerdings, dass die Liebe des Jungen ihr selbst und nicht der Zofe galt. Aber was bedeutete schon eine so kleine Abweichung von der Wahrheit?

Amrei war mit einem Mal ganz begierig darauf, mehr über den liebestollen Knappen zu erfahren, und bald kam Fee derart in Bedrängnis, dass sie eilig ein neues Ende der Episode erdichtete. Darin erzählte der Junge – von dem sie vorgab, ihn hinter dem Gebüsch nicht erkannt zu haben – seinem Gefährten, er wolle sich seiner geliebten Amrei schon bald erklären. Damit musste sich die aufgeregte Zofe notgedrungen zufrieden geben, und während sie gemeinsam die Treppe zum Hof hinabstiegen, dachte Fee reumütig, dass sie der armen Amrei mit ihrer Flunkerei soeben wohl ein paar schlaflose Nächte beschert hatte.

Fee trug keine Haube wie die Zofe, obgleich es sich für eine junge Dame ihres Alters geziemt hätte. Statt ihr hellblondes Haar hochzustecken und unter feinen Stoffen zu verbergen, ließ sie es offen über ihren Rücken fallen. Lediglich zwei dünne Zöpfe hatte sie aus der Haarflut herausgelöst und um ihre Stirn gelegt wie einen Frühlingskranz. Genau genommen war nicht sie selbst das gewesen, sondern Amrei, denn die Zofe vermochte wundervolle Dinge aus Haar zu formen – um so verwunderlicher, dass sie es nicht mit ihrem eigenen tat.

Sie überquerten den verwinkelten Burghof, verfolgt von manchem Männerblick. In der Mitte des Hofes wuchs eine hohe Linde, deren Same vom Erbauer der Burg vor siebzig Jahren von einem Kreuzzug mit in die Heimat gebracht worden war. Um sie herum saßen einige Frauen und nähten, andere füllten am Brunnen Krüge und Eimer. Ein halbes Dutzend Knappen wurde in einer abgelegenen Ecke im Kampf mit Stock und Beil unterrichtet, während Erland, der Burgschmied, vor der Tür seiner Werkstatt stand und den Hinterlauf eines Pferdes begutachtete; es hatte sich beim Ausritt einen Stein oder Metallsplitter in den Huf getreten. Von dem Nebel war hier unten kaum etwas zu bemerken, ohnehin hing meist eine dünne Rauchglocke über dem Hof, gespeist von Erlands Schmiedefeuer und dem großen Flammenherd in der Küche. Auch deren großes Doppeltor stand offen und erlaubte den Blick ins Innere, wo schwitzende Köchinnen mit Kesseln und Spießen, mit Mörsern, Messern und Formen für Gebäck hantierten. Der Duft von Gebratenem vermischte sich mit dem Geruch der nahen Stallungen.

Fees Fuß stieß gegen etwas, das auf dem strohbedeckten Boden lag, ein winziger Gegenstand aus Metall. Sie bückte sich, um das Ding genauer zu betrachten, und erkannte, dass es ein langer Stahlnagel war, wie Erland sie häufig verwendete. Sie überlegte noch, ob sie ihn aufheben und zum Schmied hinüberbringen sollte, als ihr jemand zuvorkam. Blitzschnell schoss eine schmale Hand vor, legte sich über den Nagel und riss ihn vom Boden.

Als Fee aufschaute, stand Ailis vor ihr und hatte die Hand um den Nagel zur Faust geballt.

»Keine Angst«, sagte Fee, »ich wollte ihn nicht stehlen.«

Ailis verzog die Mundwinkel, doch es sah nicht aus wie ein Lächeln. »Weshalb sollte ein edles Fräulein wie du das tun?«

Amrei besann sich derweil ihrer Pflichten als Fees Zofe und trat zwischen die beiden Mädchen. Sie stützte entschlossen die Arme in die Hüften und blickte Ailis wutentbrannt an. »Du solltest ein wenig mehr Respekt vor der Tochter des Grafen zeigen, Mädchen.«

Ailis schenkte Amrei keine Beachtung, trat nur einen Schritt zur Seite, bis sie über die Schulter der Zofe hinweg in Fees Augen schauen konnte. »Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings seine Tochter bist. Aber um so erfreuter wird Erland sein, wenn er hört, wie besorgt du um seinen Nagel warst.«

»Ailis …«, begann Fee, brach dann aber ab. Die Zeiten, in denen sie als beste Freundinnen die Burg und deren Umgebung erkundet hatten, lagen zu lange zurück. Damals waren sie unzertrennlich gewesen. Erst seit jener sonderbaren Veränderung, die mit Ailis vorgegangen war, hatte sich ihr Verhältnis abgekühlt, um schließlich in offener Abneigung zu erstarren. Damals hatte Ailis sich ihr langes blondes Haar bis auf Fingerbreite abgeschnitten und es seither nicht mehr wachsen lassen. Die harte Arbeit als Erlands Lehrmädchen hatte ein Übriges getan, dass sie mehr und mehr wie ein Junge erschien. Fremde Edelleute hatten sie des Öfteren für einen Knappen gehalten und ihr ihre Pferde anvertraut, eine Aufgabe, der Ailis stets sorgsam nachgekommen war. Die Zofen tuschelten, dass Ailis alles liebte, das sie nach Stall und Schmutz stinken ließ; vor allem, seit ihre Eltern fort waren und Erland der einzige war, der sich um sie kümmerte. Der Schmied war selbst kein glänzendes Vorbild für Sauberkeit und Ordnung.

Ailis’ und Fees Blicke kreuzten sich noch einige Atemzüge länger, ohne dass eine der beiden ein weiteres Wort sprach. Dann wandte Ailis sich ab, ging mit schnellen, aber keineswegs überhasteten Schritten über den Hof und trat an Erland und dem Pferd vorbei in die Schmiede.

»Man sollte sich bei Eurem Onkel über sie beschweren«, fauchte Amrei zornig, doch Fee schüttelte sanft den Kopf.

»Du wirst deinen Mund halten.«

Amrei starrte sie erschrocken an, aus großen, ungläubigen Augen. »Aber …«

»Kein Aber«, sagte Fee beharrlich. »Kein Gerede hinter vorgehaltener Hand über sie, ist das klar?«

Amrei setzte erbost ihre förmlichste Miene auf. »Natürlich, Fräulein. Ganz, wie Ihr wünscht.«

Was weißt du schon von Wünschen, dachte Fee traurig und schaute Amrei nach, als sie mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf zum Haupthaus stolzierte.

Fee drehte sich um und sah zum Tor der Schmiede. Ailis kam gerade wieder heraus und reichte Erland eine eiserne Zange. Das Mädchen mit dem hellen Stoppelhaar erwiderte Fees Blick nicht, obwohl sie spüren musste, dass sie beobachtet wurde.

Das Pferd wieherte schrill, als Erland die Zange ansetzte.

Ailis zog sich ins Innere der Schmiede zurück wie ein Tier, das in den Schutz seiner Höhle flüchtet – Erland hatte diesen Vergleich einmal gewählt. Er hatte wenig Verständnis, dass sie jedes Mal fortlief, wenn er sich einem der Pferde widmete. Sie ertrug es nicht, die Tiere leiden zu sehen, und nicht einmal Erlands berechtigter Einwand, dass er ihnen schließlich helfe und sie von ihrem Leiden erlöse, vermochte sie umzustimmen. Ailis war ihm in allem eine große Hilfe – gewiss weit mehr, als er zu Anfang für möglich gehalten hatte –, doch die Arbeit an den Hufen war ihr zuwider. Sie liebte Tiere viel zu sehr, als dass sie ihren Schmerz hätte ertragen können und Erland hatte gelernt, Ailis’ Eigensinn zu akzeptieren.

Immerhin fragte sie ihn im Gegenzug nicht nach dem Gitter, das innen über dem Eingang der Schmiede hing. Es war rund und maß etwa zwei Schritte im Durchmesser. Erland hatte es mit Hilfe einiger Haken an der Mauer befestigt – als Glücksbringer, wie er einmal gemurmelt hatte, als er bemerkte, dass Ailis das Gitter immerzu anstarrte. Das Ungewöhnliche war, dass etwas die Mitte des Stahlgeflechts zerrissen und aufgebogen hatte, als wären es Streben aus weichen Weidenzweigen. Die Öffnung war groß genug, dass ein Mensch mit schmalen Schultern hätte hindurchsteigen können. Eine Frau vielleicht. Oder ein Kind.

Aber Ailis sprach nicht über das Gitter. Sie sprach überhaupt nicht viel. Das war eine der Eigenschaften, die Erland an ihr schätzte. Er war kein Mann großer Worte, und er konnte keinen Gesellen gebrauchen, der ihn mit Gerede von der Arbeit abhielt.

Der Schmied war groß, größer noch als der hoch gewachsene Graf Wilhelm, und seine Schultern waren so breit, dass die ganze Schmiede im Dunkeln lag, wenn er im Eingang stand. Sein langes, dunkelbraunes Haar hatte er am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, bei Tag wie auch bei Nacht. Ailis hatte noch nie erlebt, dass er die Haare offen trug, und sie nahm an, dass Erland auf das Lederband in seinem Nacken ebenso gut hätte verzichten können, so verfilzt waren die Strähnen an dieser Stelle. Er trug lederne Hosen und eine Schürze, für die wahrscheinlich eine ganze Kuh ihr Leben gelassen hatte. Soweit Ailis wusste, waren dies seine einzigen Kleidungsstücke, abgesehen von einer Fellweste für den Winter. Da Erland an jedem Tag der Woche in seiner Schmiede stand, kam er gar nicht erst in die Verlegenheit, sich für einen anderen Anlass kleiden zu müssen. Er war eben Erland, und jeder wusste, welche Art von Mensch sich dahinter verbarg. Er galt als Sonderling, beinahe so sehr wie Ailis, und wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie zueinander gefunden hatten. Sie lernte von ihm die Schmiedekunst und machte alle Besorgungen, nahm die Zahlungen für seine Dienste entgegen und führte eine Liste über das, was er einnahm und das wenige, das er ausgab. Sie war damals sehr erstaunt gewesen, als sie festgestellt hatte, dass der mürrische Schmied ein reicher Mann war.

Sie reinigte das Werkzeug, bis Erland den Dorn aus dem Huf des Pferdes entfernt hatte, dann lief sie hinaus und ließ sich vom Besitzer des Tieres eine Münze auszahlen. Erland vertraute ihr blind und sie war nur ein einziges Mal in Versuchung gekommen, dieses Vertrauen zu missbrauchen. Am Tag, als ihre Eltern davongezogen waren und sie allein in Erlands Obhut gelassen hatten, da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einige Münzen des Schmiedes und ein Pferd zu stehlen und damit von hier zu verschwinden. Irgendwohin, wo der Schatten des Lurlinberges nicht jeden ihrer Tage bestimmte.

Aber Ailis war geblieben, und sie hatte festgestellt, dass die Lage erträglicher wurde, nachdem ihr Vater fort war. Manchmal sehnte sie sich heimlich nach den beiläufigen Berührungen ihrer Mutter, nach dem verstohlenen Lächeln, das sie ihr manchmal zugeworfen hatte, wenn ihr Vater nicht hinsah. Die beiden lebten jetzt einen halben Tagesritt entfernt, hinter den Wäldern auf der anderen Seite des Rheins. Graf Wilhelm ließ dort eine zweite Festung errichten, Burg Reichenberg, und Ailis’ Vater war als oberster Jäger für die Versorgung der Arbeiter verantwortlich. Neun Monde lag die Abreise der beiden nun schon zurück und seither hatte Ailis ihre Eltern weder gesehen noch von ihnen gehört. Nicht einmal einen Gruß hatten sie ihr von einem der Boten übermitteln lassen, die Tag für Tag zwischen den Burgen pendelten.

Nachdem sie die Münze des Pferdebesitzers in Erlands Truhe gelegt hatte, sah sie zu, wie der Schmied seinen Hammer mit aller Kraft auf eine halbfertige Schwertklinge krachen ließ. Der Stahl hatte die ganze Zeit über in der Esse gelegen und glühte jetzt, als hätte der Schmied einen wahrhaftigen Blitz vom Himmel gepflückt.

»Niemals lassen sie einen in Ruhe seine Arbeit tun«, knurrte Erland, ohne den Blick von dem leuchtenden Stahl zu nehmen. »Andauernd kommen sie« – der Hammer donnerte herab – »und drängen einem Arbeiten auf, die jeder Bettler« – noch ein Schlag – »am Wegesrand verrichten könnte. Und so jemand nennt sich Ritter des Königs!« Sein letzter Hieb mit dem Hammer war zugleich sein kräftigster, und Ailis war einen Moment lang überzeugt, dass der Amboss bersten würde. Das Geräusch war schrill und scheppernd und bohrte sich wie Pfeilspitzen in ihre überempfindlichen Ohren. Noch eine ganze Weile lang hallte ein hohes Pfeifen in ihrem Schädel nach, und als es schließlich schwand, wurde es von einem anderen Laut abgelöst, der ebenso wenig hierher gehörte. Von Musik.

»Brauchst du mich im Augenblick?«, fragte sie den Schmied. Sie wartete, bis er schweigend den Kopf schüttelte, dann lief sie hinaus ins Freie.

In unregelmäßigen Abständen kamen Spielleute auf die Burg, um die Bewohner mit Gesang und Gaukelei zu unterhalten. Was jetzt ertönte, war zweifellos eine Sackpfeife, laut genug, dass sich allmählich auch andere Menschen auf dem Hof zum Tor umwandten und neugierig beobachteten, wer sich dort näherte.

Der Mann war höher gewachsen als die kräftigen Wachtposten, die ihn soeben hatten passieren lassen, aber von einer stattlichen Erscheinung konnte dennoch keine Rede sein. Er war dürr wie der leibhaftige Tod, mit langen Armen und Beinen wie ein Grashüpfer. Sein Gesicht lag im Schatten einer bunten Mütze, doch die Kinnpartie, die darunter hervorschaute, war spitz wie eine Messerklinge. Er lachte, was einigermaßen seltsam aussah; er war der erste Erwachsene, dem Ailis begegnete, der makellose Zähne besaß, weiß und ebenmäßig gewachsen. Der wundersame Kerl trug Kleidung aus roter und grüner Seide, die ihn deutlich von manch anderem armen Schlucker mit einer schönen Stimme unterschied.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer und Frauen im Hof, und schon eilte ein Wachmann ins Haupthaus, um Graf und Gräfin von der Ankunft des Gecken in Kenntnis zu setzen.

Ailis kannte ihn. Der Spielmann kam nicht zum ersten Mal auf Burg Rheinfels. Wie sein wahrer Name lautete, wusste sie nicht, wohl aber, dass jedermann ihn den Langen Jammrich nannte. Jammrich, weil er es wie kein anderer verstand, seine Stimme schlagartig von den tiefsten in die höchsten Töne emporzuschrauben.

Während sich aus vielen Fenstern der Burgbauten Köpfe reckten, um den Neuankömmling zu betrachten, bezog der Lange Jammrich breitbeinig Stellung unter der alten Linde im Hof. Ohne ein Wort der Ankündigung oder Begrüßung begann er zu spielen. Eine leise, beinahe zaghafte Melodie ertönte, die innerhalb weniger Augenblicke jedermann in ihren Bann zog. Als der Lange Jammrich sicher war, dass alle sein Spiel verfolgten, wurden die Klänge schneller, wilder, turbulenter. Mit einem Nicken ließ er seine Mütze vom Kopf gleiten; sie kam mit der Spitze am Boden auf, wo sie liegen blieb, weit offen für Gaben aller Art.

Die Menschen im Hof ließen endgültig von ihren Arbeiten ab und näherten sich dem Spielmann. Sogar Erland trat in die Tür seiner Schmiede und blickte stirnrunzelnd ins Freie. Das Doppeltor des Haupthauses wurde geöffnet und heraus traten Graf Wilhelm und seine Frau, gefolgt von Fee und einigen Edeldamen und Dienern. Alle lauschten dem Spiel des Langen Jammrich, manch einer wog sich gedankenverloren im Rhythmus der Melodie. Bald schon war die Mütze des Musikanten unter Silberlingen und anderen Geschenken begraben. Kräuterbeutel, süßes Gebäck, sogar ein lederner Weinschlauch häuften sich vor den wippenden Füßen des Spielmanns.

Mit Ailis geschah derweil etwas Sonderbares: Es war, als würden ihre feinen Ohren etwas aus der Musik des Langen Jammrich herausfiltern, eine zweite, leisere Melodie unter der wildbewegten Oberfläche seines Spiels. Vordergründig blies er auf seiner Sackpfeife einen exotischen Tanz, ein heißblütiges Klangspektakulum, bei dem sonst die jungen Mädchen und Knechte in den Schänken umeinander wirbelten. Doch jenseits dieser vergnügten Schelmenmelodie war noch etwas anderes, etwas, das niemand außer Ailis wahrnahm. Es war ein Gefühl, als hätte sie sich versehentlich in den Traum eines Fremden verirrt, dem wahren Leben verwandt und doch unendlich anders. Die Umgebung verlor an Tiefe, wurde flach wie die gemalte Kulisse eines Gaukelspiels. Sogar die Bewegungen der Menschen wirkten mit einem Mal falsch, das hölzerne Gezappel von Handpuppen. Die Burg und ihre Bewohner verschwammen, entfernten sich. Ailis hatte das Gefühl, als würde die Melodie des Spielmanns zu einem Wegweiser in Regionen jenseits der Wirklichkeit, zum rettenden Faden im Labyrinth der Beliebigkeiten.

Dann, auf einen Schlag, brach die Musik des Langen Jammrich ab, die Konturen der Menschen und Gebäude wölbten sich Ailis von neuem entgegen und sie fand zurück in ihre vertraute Welt. Alles war wieder wie vorher, und doch schien ihr, als hätte die Umgebung eine hauchfeine Schicht ihrer Farbigkeit verloren – als wäre sie angesichts dessen, was dahinter lag, ein wenig bleicher, unbedeutender geworden.

Ailis starrte den Langen Jammrich eindringlich an, weniger ängstlich als voller Neugier. Sie fürchtete sich vor dem, was sie gerade erlebt hatte, doch viel größer noch war ihr Verlangen, mehr darüber zu erfahren, zu begreifen, wie der Spielmann es vollbracht hatte, ihr diesen Blick nach – wohin eigentlich? – zu ermöglichen.

Während der Darbietung des mysteriösen Musikanten musste mehr Zeit verstrichen sein als Ailis angenommen hatte, denn der Gabenberg vor seinen Füßen war zu beträchtlicher Höhe angewachsen. Zudem hatte, wie sich jetzt herausstellte, der Graf befohlen, einen gewissen Gastwirt aus dem Dorf herbeizuholen, der dem Langen Jammrich einen beträchtlichen Münzbetrag schuldig war. Aus dem Gerede der Umstehenden erfuhr Ailis, dass der Musikant bei seinem letzten Besuch in dieser Gegend im Schankraum des Wirtes aufgespielt hatte, von dem Geizkragen jedoch um seine Bezahlung geprellt worden war.

Nun galten im ganzen Land für fahrende Spielleute andere Gesetze als für gewöhnliche Bürger, meist wurde ihnen rundheraus jedes Recht auf Genugtuung abgesprochen. Graf Wilhelm aber schien es mit dem Langen Jammrich gut zu meinen; er hatte in den Gesetzbüchern des Königs nachgeschlagen und entdeckt, dass es für solch einen Fall eine festgeschriebene Regel gab. Zwar konnte man den Wirt von Rechts wegen nicht zwingen, einem dahergelaufenen Spielmann Geld auszuzahlen – »Wo kämen wir denn auch hin!«, bemerkte einer der Zuschauer –, doch für eine derart verzwickte Lage hatte König Ludwig in seiner Weisheit eine ganz besondere Möglichkeit der Buße ersonnen. Und so war der Lange Jammrich zurückgekehrt, um sein Recht einzufordern und den betrügerischen Wirt mit des Grafen Absolution zu bestrafen.

Es traf sich gut, dass der Nebel über Burg Rheinfels schon vor geraumer Weile aufgerissen war und einige Sonnenstrahlen ihren Weg über die Zinnen hinab in den Haupthof fanden. Die Schaulustigen wichen zur Seite, als der weinerliche Gastwirt dem Grafen vorgeführt wurde und dieser ihm seine Bestrafung verkündete. Der Wirt beklagte lautstark die Schande, die ihm von der Hand eines streunenden Gauklers widerfahren sollte, und so sah sich Graf Wilhelm bemüßigt, obendrein eine Münzstrafe auszusprechen, zahlbar an den gräflichen Schatzmeister.

Zwei Wächter führten den Wirt so lange im Hof umher, bis sie eine Stelle gefunden hatten, von der aus der Schatten des Mannes scharf umrissen auf die Mauer neben dem Küchentor fiel. Unter dem Gelächter der Umstehenden wurde ein Hocker herbeigebracht und vor der Wand aufgestellt. Der Lange Jammrich erhielt ein Schwert und stieg mit geckenhafter Gebärde, stets auf Beifall und Hochrufe bedacht, auf den Schemel. Dort beäugte er prüfend den riesigen Schatten des Wirtes und gab den beiden Wächtern mit einem Wink zu verstehen, dass ihr Gefangener sich vornüber beugen sollte. Schließlich schaute er noch einmal zum Himmel empor, versicherte sich, dass die Sonne kräftig genug schien, dann hob er mit gewichtiger Geste das Schwert, packte es mit beiden Händen, holte aus und ließ es mit aller Macht auf den Hals des Schattens krachen. Funken sprühten, als Stahl auf Stein schlug. Zugleich hob unter den Zuschauern tosender Jubel an. Jammrich verbeugte sich grinsend, als hätte er soeben ein besonderes Bravourstück vollbracht, stieg vom Hocker, verneigte sich noch einmal vor dem Grafen und seiner Gattin, dann nickte er den Wächtern zu. Jene ließen den beschämten Gastwirt laufen, der unter viel Spott und Hohn der Burgleute über den Hof eilte und wortlos durch das Tor verschwand.

Ailis hatte schon früher von Schattenköpfungen gehört, wie das königliche Recht sie Spielleuten und Gauklern zugestand; mitangesehen aber hatte sie noch keine. Sie war nicht sonderlich beeindruckt von dem lächerlichen Schauspiel. Vielmehr fragte sie sich, wie viel Narretei sich die Menschen noch einfallen lassen würden, um die Ödnis ihres Daseins zu bereichern.

»Jammrich!«, rief da der Graf und übertönte den Lärm der Menge. »Ich wünsche dich umgehend im Burgsaal zu sehen.«

»Zu Euren Diensten, Herr«, erwiderte der Spielmann lautstark, als gelte es, eine Botschaft zu verkünden. »Was kann ich für Euch tun?«

»Später«, sagte der Graf gedämpft. »Wir wollen drinnen darüber reden.«

Jammrich verbeugte sich abermals, dann fiel sein Blick auf Fee. »Wird Euer bezauberndes Mündel mit dabei sein, Herr?«, fragte er mit neckischem Grinsen und so deutlich, dass jedermann es hören musste. »Ich will mich der schönsten Verse aus dem Orient entsinnen, um vor so viel Liebreiz zu bestehen.«

Ein Knecht rief vergnügt aus der Menge: »Das gleiche hast du zum Weib des Wirtes gesagt, du Lump! Hat er nicht deshalb die Bezahlung verweigert, weil seine Frau beim Klang deiner Lieder vor Scham die Humpen fallen ließ?«

Sogleich tobte ausgelassenes Gelächter über den Burghof. Ailis sah nicht ohne Genugtuung, dass Fee puterrot wurde.

Der Graf lächelte, aber es wirkte gezwungen, keineswegs belustigt. »Komm, Spielmann! Sei Gast in meinem Haus und höre, was ich dir zu sagen habe.« Damit drehte er sich um und ging. Seine Frau und Fee folgten ihm geschwind. Zwei Wächter warteten, bis der Lange Jammrich seinen Lohn vom Fuß der Eiche aufgesammelt und in einem Sack verstaut hatte, dann nahmen sie ihn höflich, aber bestimmt in ihre Mitte und traten mit ihm ins Haupthaus. Im Türrahmen drehte der Spielmann sich noch einmal um und winkte der Menge ausgelassen zu. Ein paar Knechte ließen ihn stürmisch hochleben, und als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandten, pfiffen sie fröhlich die Melodie seines Spiels.

Der Graf bat den Spielmann in den Rittersaal, während die Wächter, aber auch Fee und die Gräfin, zurückbleiben mussten. Was immer er mit dem Langen Jammrich zu bereden hatte, musste für ihn von äußerster Wichtigkeit sein. Fee zog sich unter dem Vorwand zurück, sie wolle sich in ihrer Kammer einer Näharbeit widmen.

Oben, im ersten Stock des Gebäudes, eilte sie auf Zehenspitzen in eines der Gästezimmer, das genau über dem Rittersaal lag. Schon seit Jahren wusste sie, dass sich unter einem der Betten ein kleines Loch im Boden befand, von dem aus man geradewegs auf die Tafel im Zentrum des Saales blicken konnte. Ein neugieriger Besucher musste die Öffnung einst geschaffen haben, und sie war bis heute keinem der Erwachsenen aufgefallen. Nur Fee und Ailis kannten sie. Sie waren vor Jahren beim Versteckspiel darauf gestoßen, als eine von ihnen sich unter dem Bett verkrochen hatte.

Die Decke des Saales bestand aus hölzernem Sparrenwerk. Die Balken waren mit Wappen und feiner Schnitzerei, mit christlichen Sprüchen, Jahreszahlen und Heiligenfiguren verziert. Von hier oben konnte Fee nichts davon erkennen, doch sie kannte die meisten Inschriften auswendig und hätte jedes der Wappen aus dem Kopf aufzeichnen können. Während der Mahlzeiten mit ihrer Tante verbrachte sie viel Zeit damit, an die Decke zu starren. Nur wenn die Zeit ihres Onkels es gestattete, dass er sich zu ihnen gesellte, verliefen die Tischgespräche weniger trostlos. Genau genommen gab es überhaupt nur dann Gespräche, wenn ihr Onkel anwesend war. Fee und die Gräfin hatten sich selten mehr zu sagen als das Tischgebet.

Die lange Tafel stand auf einem Boden aus gestampftem, mit Schafhaaren verhärtetem Lehm. Graf Wilhelm nahm Platz und forderte den Langen Jammrich auf, es ihm gleichzutun. Bald darauf saßen sie sich an den äußeren Enden der Tafel gegenüber. Von ihrem Aussichtspunkt unter dem Gästebett hatte Fee sie gerade noch im Blickfeld, den einen am rechten, den anderen am linken Rand des Gucklochs.

»Lass mich gleich zur Sache kommen. Spielmann«, begann der Graf, nachdem Jammrich seine Sackpfeife auf dem Tisch abgelegt hatte. Das Instrument erhob sich zwischen den Männern wie ein unförmiges Tier, aus dem die Pfeifenrohre wie Knochenfortsätze hervorragten.

»Ich weiß deine Kunst zu schätzen«, fuhr Graf Wilhelm fort, »jeder hier hält dich für einen großen Musikanten.«

»Ihr schmeichelt mir, Herr«, sagte der Lange Jammrich, klang aber keineswegs beeindruckt. Fee hatte das Gefühl, als brenne der Spielmann darauf, endlich den eigentlichen Grund seines Hierseins zu erfahren. Er wäre nicht der Erste seiner Zunft gewesen, der sich unvermittelt im Kerker irgendeines Landesherren wiedergefunden hätte. Wahrscheinlich überlegte er fieberhaft, ob es etwas gab, das der Graf ihm zur Last legen konnte, und er schien nicht ernsthaft mit einem erfreulichen Fortgang des Gesprächs zu rechnen.

»Deine Kunst wird überall gerühmt, Spielmann. Ich habe an vielen Orten von dir reden hören. Und wenn auch so manches Mal Unmut über einen deiner … nun, Streiche darin mitschwang, äußerten sich die meisten doch höchst angetan über dein Talent.«

»Seid versichert, Herr«, sagte der Lange Jammrich, »wer Schlechtes über mich zu erzählen hat, der hat verdient, was ihm widerfahren ist.«

Fee wunderte sich. Wenn der Graf dem Spielmann tatsächlich einen Handel vorschlagen wollte, warum tat er es dann nicht ohne all den Honig, den er dem Langen Jammrich ums Maul schmierte? Wilhelm von Katzenelnbogen war ein mächtiger Mann, sein Einfluss reichte bis zum Thron, und doch verhielt er sich dieser ungebildeten, sittenlosen Vogelscheuche gegenüber wie ein Bittsteller. Was immer ihr Onkel vorhatte, ihm musste wahrlich eine Menge daran liegen.

»Ich will dir ein Angebot unterbreiten, Spielmann«, sagte der Graf und machte eine Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Doch falls er erwartet hatte, dass der Lange Jammrich ihn mit neugierigen Fragen bedrängen würde, so sah er sich getäuscht. Der Musikant saß gelassen am Ende der Tafel und runzelte nicht einmal die Stirn.

»Ihr Spielleute liegt oft im Streit mit Soldaten, Bürgermeistern und –«

»Mit Männern wie Euch«, führte Jammrich den Satz zu Ende. »Mit Verlaub, Herr.«

Der Graf schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Mit Männern wie mir, in der Tat. Aber das könnte für dich ein Ende haben. Niemand würde dir mehr etwas anhaben können.«

Der Lange Jammrich hob eine Augenbraue. »Ihr bietet mir einen Freibrief an?«

»Mit dem Siegel meines Hauses. Mein Name ist nicht unbedeutend. Dem Leibmusikanten eines Grafen von Katzenelnbogen würden alle Türen offen stehen, meinst du nicht auch?«

»Einem … Leibmusikanten?« Der Spielmann räusperte sich. Fee sah ihm an, dass er sich trotz des verlockenden Angebots keineswegs wohl in seiner Haut fühlte. »Nun, Herr, wie stellt Ihr Euch das vor?«

»Das weißt du sehr wohl, denke ich«, entgegnete der Graf und beugte sich vor, bis sein breiter Brustkorb seine verschränkten Hände auf der Tischkante berührte. »Es ist nicht ungewöhnlich für einen Spielmann, sich an ein bestimmtes Haus zu binden. Und ganz gewiss nicht ehrenrührig, wenn es das ist, was du befürchtest. Auch würde ein solches Abkommen deine Freiheiten nicht einschränken, du könntest weiterhin gehen, wohin du willst.«

»Zu bestimmten Zeiten im Jahr, nicht wahr, Herr? So lauten doch derlei Abkommen. Einige Monde im Jahr zieht der Spielmann durch die Lande und kündet vom Ruhm und der Tapferkeit seines Herrn, und während des Rests sitzt er daheim am Feuer und reimt neue Heldengesänge, in denen sein Meister es mit Drachen und Muselmanen aufnimmt.«

Der Graf lächelte erneut, nun ein wenig unsicher geworden über die harsche Reaktion des Spielmanns. »Sicher könnte man es freundlicher ausdrücken, aber das ist der Handel, ja.«

Der Lange Jammrich holte tief Luft, als wolle er Zeit gewinnen, um nach den richtigen Worten zu suchen. »Ihr ehrt mich sehr durch Euer Angebot, Herr Graf. Es erfüllt mich mit Stolz, dass gerade ich von Euch erwählt wurde –«

»Es heißt, Ihr seid der Beste«, unterbrach ihn den Graf, und es gelang ihm, die lobenden Worte wie eine Drohung klingen zu lassen.

Auch der Spielmann hatte den gefährlichen Wechsel im Tonfall seines Gegenübers bemerkt. Seine Wortwahl wurde noch förmlicher. »Gerne würde ich Euch die Hand reichen, um den Handel zu besiegeln, und, glaubt mir, in so mancher Winternacht habe ich mir ein warmes Feuer und ein Dach über dem Kopf mehr gewünscht als den Seelenfrieden meiner Mutter.«

»Aber?«, fragte Graf Wilhelm.

»Ich kann Euer Angebot nicht annehmen, Herr.«

Die Augen des Grafen verengten sich lauernd. »Natürlich bedauerst du diese Entscheidung zutiefst, nicht wahr? Du willst nämlich nicht undankbar sein. Ist es nicht so?«

»Herr«, sagte der Lange Jammrich eilig, »wenn es scheint, als wüsste ich Eure Großzügigkeit nicht zu würdigen, so bitte ich Euch um Verzeihung. Aber ich bin für Aufgaben, wie Ihr sie mir zugedacht habt, nicht geschaffen.«