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Inhalt

EINLEITUNG

1. Zweimal bekehrt

2. Geistliche Kinderstube

3. Es geht um ALLES

4. Kopf und Herz

5. … und das als Frau

6. Allein für alles – und das für immer?

7. Ruhen in der Wüste

8. Kostbare Perlen gefunden

9. Neues beginnt

10. Es wächst

11. Zum Schluss kein Ende

12. Fünf Jahre später

Nachwort

Fußnoten

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EINLEITUNG

Dies Buch soll eine Einladung und eine Ermutigung sein, vielleicht auch eine Korrektur.

Gott hat mich auf meinem Weg reich beschenkt. Es ist ein Weg, von dem ich die meisten Teilstrecken wirklich nicht noch mal erleben möchte. Aber es ist ein Weg, auf dem ich Gott immer besser kennen lernen und immer mehr von IHM empfangen konnte. Davon erzähle ich und lade damit ein, auf dem Weg mit IHM nicht aufzugeben. Es lohnt sich dranzubleiben!

Vielleicht dauert es manchem Leser zu lang: »Wann kommt endlich der Durchbruch, das Happyend?« Ich habe versucht, sehr ehrlich zu schreiben. Ich schaue zurück auf einen langen, manchmal sehr mühsamen Weg, auf viele schmerzliche Prozesse. Da ging nichts im Schnellverfahren; aber es ging auch nicht im Kreis. Gott ging mit mir Schritt für Schritt weiter. Oft war mir, als ob ER mich frage: »Astrid, bist du bereit?« Für die Antwort hat ER mir immer wieder Zeit gelassen.

Oft war mir, als ringe Gott mit mir wie damals mit dem heimkehrenden Jakob (vgl. Gen. 32). Und wie damals: Das Beste ist, ER hat gewonnen.

ER geht immer noch weiter mit mir. Wie gut! Schon jetzt gibt es viele Fortsetzungen der hier erzählten Geschichten.

Als Christen leiden wir oft an Gleichgewichtsstörungen. Auf meinem Weg war das wörtlich genommen eine schwere Erfahrung, eine Krankheit, die mir sehr zu schaffen gemacht hat und mich zeitweise ins Aus beförderte.

Ich denke, dass Gott mit unseren geistlichen Gleichgewichtsstörungen oft große Not hat. Und hier könnte Korrektur helfen, damit wir wirklich ganz werden. Dazu brauchen wir den ganzen Gott,

– als VATER, der uns unsagbar liebt und als seine Kinder in seine Arme schließen will,

– als HERRN, der uns gebieterisch in die Nachfolge ruft und alles von uns fordert und

– als leidenschaftlichen LIEBHABER, der mit uns in Partnerschaft leben will, damit in dieser Welt mehr Menschen zu seinen Kindern werden.

IHN so kennen zu lernen, das hat ER mir auf meinem Weg geschenkt. Ich bete, dass dieses Buch Sie ermutigt, dranzubleiben auf dem Weg, den ER mit Ihnen geht, und dass Sie IHN dabei immer besser kennen lernen. Das verwandelt Ihr Leben.

Im Blick auf dieses Buch, danke ich

zuerst meinem HERRN, der mit mir eine solch spannende, herausfordernde und gute Geschichte gemacht hat. Ich erzähle hier ja nur, was durch IHN möglich geworden ist.

Ich danke denen, die mich auf diesem Weg, auf dem ich sehr oft an meine Grenzen gekommen bin, begleitet haben. Ihr wart für mich Engel Gottes. Ich weiß, dass ich ohne euren Dienst vieles nicht hätte bewältigen können. Danke für euer Zuhören und Lesen meiner oft sehr langen Briefe. Danke für euer Beten und Ermutigen. Danke für eure Treue.

Ich wünsche jedem an die Seite solche Freunde und Begleiter, wie ihr es für mich seid.

Ich danke denen, die mich auf meinem Weg gefördert und ermutigt haben zu Diensten, die ich mir nie ausgedacht hätte. Dadurch kam es auch zur Idee für dieses Buch.

Ich danke den treuen Geschwistern in der Buchholzer Kirchengemeinde, die es dulden, die dafür beten und es fördern, dass ich nicht nur Gemeindepfarrerin bin, sondern auch manch anderen Dienst tun kann, zum Beispiel dieses Buch schreiben. Danke für eure Treue und euer Gebet!

Buchholz/Prignitz, Dezember 2002 Astrid Eichler

Erstes Kapitel

Zweimal bekehrt

»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« (Jes. 43,1)

»Astrid, komm mal rüber, ich muss mit dir reden«, ein Telefonanruf meiner Klassenlehrerin an einem Februarabend 1973. Das ist mir ja noch nie passiert. Was sie nur will? Eine Ahnung habe ich schon.

Ich gehe gern zur Schule, eigentlich schon immer, und nun schon im 8. Schuljahr. Mir macht es Spaß zu lernen, und was mir Spaß macht, fällt mir auch leicht. Mathematik ist mein Lieblingsfach. Überhaupt haben es mir die Naturwissenschaften angetan. Mit Kunst und Musik kann ich nicht so viel anfangen, noch weniger mit Sport. Das haben fast alle in unserer Familie gemeinsam. So richtig schnell, beweglich und stark sind wir eben nicht.

31 Schüler sind wir in unserer Klasse. 30 davon sind in der FDJ, eine nicht. Das bin ich. Die Freie Deutsche Jugend ist die kommunistische Massenorganisation für die Jugend in der DDR. Es hat seine Gründe, dass ich da nicht dabei bin. Mein Vater ist Pastor. Das ist schon mal ein Grund für sich. Meine fünf älteren Geschwister sind auch nicht in der FDJ. Für mich ist schon immer klar: »Da machen wir nicht mit, denn wir sind Christen.« Auch bei den Pionieren, der Organisation für die Kinder, war ich nicht dabei. »Mein Vater ist Pastor«, zunächst reichte auch mir diese Begründung. Inzwischen habe ich das Statut der FDJ selbst gelesen, als Einzige aus der Klasse, wie sich später herausstellt.

Ich will mal Medizin studieren. Das ist schon lange mein Wunsch. Auf dem Gelände eines Krankenhauses aufgewachsen, immer mit Krankenhaus und Medizin irgendwie in Berührung, kann ich mir schon seit Jahren nichts anderes vorstellen, als dass ich mal Medizin studieren werde. Dafür brauche ich das Abitur, und dafür muss ich auf die Erweiterte Oberschule gehen. Die 10-jährige Schulpflicht wurde im Allgemeinen auf der Polytechnischen Oberschule, POS, absolviert. Wer Abitur machen wollte, musste mit der 9. Klasse auf die EOS wechseln.

Den Antrag auf Zulassung hatte ich vor einigen Wochen abgegeben.

Meine Vermutung trifft zu. Dies ist das Thema des Gesprächs, zu dem meine Klassenlehrerin mich gerufen hat: »Wenn du eintrittst in die FDJ, dann können wir deine Bewerbung zur Erweiterten Oberschule weiterreichen, dann wirst du das Abitur machen können. Wenn nicht, dann nicht.« Der Sachverhalt ist klar. Da gibt es nichts zu rütteln. Ja oder nein.

Ihr Mann ist bei dem Gespräch dabei. Er ist Arzt. Seit Jahren bin ich bei ihm in Behandlung. Wir mögen uns. »Entscheide dich so, dass du den Hut vor dir selbst noch ziehen kannst«, heißt sein Rat. Damit gibt er mir eine maßgebende Richtlinie mit auf den Weg.

Es geht nicht nur um ein Ja oder Nein für oder gegen die FDJ. Es geht nicht nur um mein Ziel, das Medizinstudium machen zu können, es geht letztlich um grundlegende Werte für mein Leben. Ist das Studium als Ziel der höchste Wert an sich, oder gibt es andere übergeordnete Werte, selbst wenn das Ziel nicht erreicht wird? Was darf mich das Erreichen eines Zieles kosten?

Das Gespräch dauert lange.

Zu Hause sitzen meine Eltern im Amtszimmer meines Vaters und warten. Neben dem Wohnzimmer ist dieses Zimmer das Zentrum der Familie. Als ich sieben Jahre alt war, erbten wir den Fernseher meiner Großeltern. Inzwischen ist es ein anderer Apparat, aber auch er hat seinen Platz im Amtszimmer direkt am Kopfende der Liege, die dort steht. Fernsehen geschieht bei uns Kindern also immer auf dem Bauch liegend und zugleich unter der Aufsicht meines Vaters. Er hat besonders für mich als Jüngste und als Mädchen eine strenge Auswahl im Blick auf das, was mir erlaubt ist. Ich spezialisiere mich in meiner Jugendzeit auf Bundestagsdebatten und Sport, vor allem Fußball – Bundesliga. Es ist ein »offenes Geheimnis«, dass wir Westfernsehen empfangen. Nur mit meiner Schulfreundin, Tochter eines Polizisten, darf ich nie zusammen Fernsehen gucken. Das versteht sich von selbst.

Gespannt, was nun ist und was wird, empfangen mich meine Eltern nach dem Gespräch mit meiner Lehrerin. Ich spüre ihre große Ratlosigkeit. Sie wollen mir nichts verbieten. Es könnte ja sein, dass ich Jahre später vor ihnen stehe und sage: »Ihr habt mir meine Zukunft verdorben. Weil ihr mir die FDJ verboten habt, kann ich nichts werden. Ihr seid schuld.« Sie wollen es mir nicht verbieten. Aber dass ich jetzt als die Jüngste von sechs Kindern die Erste sein sollte, die da mitmacht, das können sie sich auch nicht so recht vorstellen. »Fünfmal haben wir es durchgestanden, widerstanden … und jetzt bei der sechsten … Soll es da anders sein?«

Mein Vater ist seit 1955 Pastor und Vorsteher des Stiftes Bethlehem in Ludwigslust. »Stiftspropst« ist sein Titel. Es ist eine wohl ziemlich seltene Berufsbezeichnung. Als Kind erfüllt mich das mit Stolz. Das Stift Bethlehem ist ein großes Diakonissenmutterhaus und evangelisches Krankenhaus. Mit über 400 Patientenbetten hat das Krankenhaus die Funktion eines Kreiskrankenhauses. Drei Schwesternschaften leben und arbeiten in diesem Haus. Da gibt es die Diakonissen Kaiserswerther Prägung, die ehelos leben und ganz für den Dienst zur Verfügung stehen. Sie werden immer weniger, und die wenigen, die noch da sind, werden immer älter. Da sind die Diakonischen Schwestern, die inzwischen weithin den aktiven Dienst tragen, und außerdem noch die Schwestern des Zehlendorfer Diakoniever-bandes. Alle drei Schwesternschaften haben ihre eigene Prägung und Ordnung. Darin geht mein Vater auf. Wenn er von diesen Schwesternschaften spricht und von den Möglichkeiten eines evangelischen Krankenhauses mitten im sozialistischen Staat, ist zu merken, wie sehr da sein Herz schlägt.

Sein Dienst beansprucht ihn sehr. Ein tiefer Ernst ist ihm abzuspüren. So manches Mal am Mittagstisch schlingt er sein Essen förmlich in sich hinein. Sein Blick, seine Gedanken sind »irgendwo«, und meine Mutter fragt suchend: »Hermann, wo bist du?«

Doch hinter seinem Ernst und seinem Engagement liegt ein tiefer Humor. »Beten und boxen«, heißt es bei ihm, wenn es zum Beispiel darum geht, im Gegenüber zu staatlichen Stellen etwas zu entscheiden und durchzusetzen. Und als die klassischen Werkzeuge für seinen Dienst nennt er »Bohrer, Taschenlampe und Bügeleisen«. Wozu? Den Bohrer, um immer mal nachzubohren, wenn es irgendwo nicht weitergeht, die Taschenlampe, um in alle dunklen Ecken zu leuchten, und das Bügeleisen, um viele »Igel« zu glätten. Das ist seine Art, einen Betrieb zu leiten.

An diesem Februarabend gehe ich in den Garten. Ich will allein sein. Es ist dunkel und kalt. Ich bin ratlos, aber doch entschieden: Der Wille Gottes soll in meinem Leben geschehen.

Langsam, ganz zart kommt Klarheit in mein Herz: »Ich kann das nicht zusammenkriegen. Es geht nicht.« Es ist nicht die wilde Entschlossenheit, gegen irgendwas zu sein, sondern eher ein Unvermögen, unvereinbare Widersprüche in meinem Herzen zusammenzubringen.

Der Glaube an Gott ist mir seit meiner Kindheit selbstverständlich. Die FDJ aber ist eine atheistische Organisation. Ich krieg das in meinem Herzen nicht zusammen.

»Mit leidenschaftlichem Hass gegen den imperialistischen Klassenfeind«, steht in der Satzung der FDJ. Klar, dass ich das nicht zusammenbekomme: »Liebet eure Feinde«, steht in meiner Bibel. Das Bibelwort hat sich inzwischen tief in mein Herz geprägt.

Meine Eltern nehmen meine Entscheidung erleichtert, dankbar zur Kenntnis, ja, auch ein bisschen stolz, merke ich. Ich rufe meine Lehrerin an. »Ich kann das nicht. Ich weiß, das hat Konsequenzen, ich werde sie tragen.« Ihrer Reaktion ist Bedauern anzumerken. Mehr bleibt ihr auch nicht.

In den folgenden Monaten kriegen einige meiner Klassenkameraden mit, was im Hintergrund gelaufen ist. Einer kommentiert: »Du bist ja schön blöd, lässt dir die ganze Zukunft verbauen.« Verblüfft hört er von mir: »Der, um dessentwillen ich das tue, der hat eine Zukunft für mich.«

Christsein ist eine Entscheidung und hat Konsequenzen, das liegt tief im Boden meines Herzens verankert. Ich habe mich entschieden, die Konsequenzen zu tragen. Und, so glaube ich, langfristig werde ich davon Gewinn haben.

Von klein auf ist der Glaube an Gott für mich selbstverständlich, eine positive Selbstverständlichkeit. Ich bin dankbar für diese gute Ausgangsposition für mich, für die Saat, die von klein auf in mein Leben hineingelegt worden ist. Aber zunächst ist das Selbstverständliche etwas, worüber »man« nicht redet. Glauben gehört eben dazu, das Tischgebet, das Gebet beim Schlafengehen, alles selbstverständlich, aber »nicht der Rede wert«.

Mit 15 habe ich Orgelunterricht. Mittags übe ich in der Stiftskirche. Von draußen höre ich den Krankenhausbetrieb. Es klappert, lacht und ruft. Die Schwestern fahren auf kleinen Wagen die Töpfe und Kannen zurück zur Küche. Trotz der Geräusche von draußen ist es in der Kirche ruhig. Und warm ist es hier, wohl weniger durch die Heizung – diese alte Gasheizung gibt nicht mehr so viel her – als durch die Backsteine, die die Atmosphäre des Raumes bestimmen. Vorn leuchten die bunten Glasfenster. In der Mitte ein Weihnachtsbild, die Krippe mit einer Christrose darunter. Das ist ein Hinweis auf die Gründungsgeschichte des Stiftes.

Am Weihnachtsabend 1841 ist Helene von Bülow in großer Trauer um ihren Bruder. Nachdem sie Trost in der Bibel gefunden hat, geht sie sinnend durch den Garten. Da sieht sie mitten im Schnee eine Christrose. Dieses Bild wird für sie zum Ruf, ein Krankenhaus für Kinder zu schaffen. Deshalb auch der Name »Bethlehem«, ein Hinweis auf Weihnachten und zugleich die Botschaft »Haus des Brotes«. Sie beginnt 1851 mit neun Kinderbetten. Das ist ein kleiner Anfang für ein großes Werk der Diakonie.

Schülerinnen aus der Krankenpflegeschule kommen auf die Empore zum »Mittagsgebet«. Als staunende Zuhörerin erlebe ich meine erste Gebetsgemeinschaft. »Einfach so« gemeinsam und laut zusammen beten, das hab ich ja noch nie erlebt. So was kenne ich nicht. Warum machen die das? Und überhaupt, ist denn das nötig und gut?

Ich komme mit diesen jungen Mädchen näher in Kontakt und ins Gespräch.

Sie sind im 1. oder 2. Ausbildungsjahr zur Krankenschwester. Die meisten kommen aus christlichen Elternhäusern. Zum Teil sind sie welche wie ich, sie waren nicht in der FDJ, haben deshalb kein Abitur und konnten nicht studieren. Bei einer fange ich an, Gitarrenunterricht zu nehmen. So gibt es jede Woche mindestens eine Begegnung.

Bisher kannte ich das Stiftsgelände nur von außen und zu feierlichen Anlässen. Jetzt bekomme ich einen Einblick in den Alltag, der sich in den roten Backsteingebäuden abspielt. Ich lerne ihre Welt kennen, die Welt von Krankenpflege-Schülerinnen. Das Internat ist verteilt auf viele Gebäude. Meistens auf den Dachböden der verschiedenen Häuser, dort sind Schülerinnenzimmer eingerichtet. In der Regel gibt es Vierbettzimmer mit Doppelstockbetten.

Im Zusammensein mit einigen von ihnen lerne ich kennen, was ihnen wichtig ist. In den Gesprächen mit ihnen kommt Jesus ganz selbstverständlich vor. So selbstverständlich wie es für mich ist, nicht über den Glauben zu sprechen, so selbstverständlich ist es für sie, genau dies zu tun.

In den folgenden Monaten verlagert sich der Schwerpunkt meines Lebens weg von der Schule hin zu freundschaftlichen Beziehungen zu ihnen. Besonders viel Zeit verbringe ich mit Friedegard. Sie ist zwei Jahre älter als ich. In vielem, was mich bewegt, kann sie mich gut verstehen.

Ein Jahr lang gehe ich jede Woche zu diesem Bibelkreis im Internat. Ich komme, sitze, schweige und gehe. Für die Verantwortlichen eine ziemliche Zumutung. Für mich eine wertvolle Zeit. Ich bin gern Zuhörerin. Ich muss nicht zu allem was sagen. Und das, was dort gesagt, gelehrt und gebetet wird, wird mir wichtig.

Hinter mir liegt im Blick auf die FDJ eine klare Entscheidung für einen Weg im Willen Gottes. Das ist ein sehr praktisches und folgenreiches Geschehen für mich. Dem aber, was andere »Bekehrung« nennen, stehe ich eher kritisch gegenüber. Das ist mir fremd, fast unheimlich. Wollen die was Besseres sein? Besonders fromm, besonders gut? Die Frage bei einer Jugendrüstzeit »Bist du bekehrt?« empfinde ich mehr frech als hilfreich.

Vieles ist mir fremd, das fromme Gerede, der Ruf zur Entscheidung, das »Zeugnisgeben«. Das erste Mal, als ich jemanden höre, der ein Zeugnis geben will, warte ich doch tatsächlich auf seine Zensuren.

Als Ergebnis von manchen Erlebnissen und Gesprächen ergibt sich für mich: Ich will nicht so sein wie die typisch »Frommen«. Trotzdem versuche ich, mehr über das Christsein rauszukriegen, denn es muss mehr geben als das, was ich so kenne.

Und das gelingt mir durch die Freundschaft zu den Krankenpflegeschülerinnen. Da finde ich Antworten auf meine Fragen. Ich merke, sie wollen nichts Besseres sein. Sie sind nicht die »besonders Guten« oder Frommen. Das gemeinsame Gebet erlebe ich als Bereicherung. Und dass man von seinen Erfahrungen mit Jesus spricht, leuchtet mir auch immer mehr ein.

Dann findet das, was schon in meinem Herzen an Klarheit und Entschiedenheit ist, wertvolle Ergänzung durch Fragen, die nicht mehr ich, sondern die Gott an mich stellt.

Beim Lesen eines Buches von Werner de Boor ist mir, als ob Gott mich fragte: »Wie steht es mit deiner Liebe zu MIR?« Das erste Gebot: »ICH bin der HERR, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir« und dazu Luthers Erklärung: »… Du sollst Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen«, werden zur Frage schlechthin; das ist die Anfrage an meine Liebe und an mein Vertrauen zu Gott. Ich fühle mich ertappt.

Meine »klassische« Bekehrung geschieht am Ende meiner Schulzeit, ein »klassisches Sündenbekenntnis« und das Ja zur totalen Abhängigkeit von Jesus Christus. Ganz »klassisch« mit einer anderen Christin zusammen. Das, was ich praktisch schon einmal vollzogen habe, nämlich Gott das Recht auf meine Zukunft zu geben, das lege ich jetzt grundsätzlich für mein Leben fest, sozusagen in einem juristischen Akt mit Zeugin begebe ich mich in die Abhängigkeit von Gott.

An dem Tag, an dem ich so bete, ist das Wort in den Herrn-huter Losungen aus Jesaja 43,1:

»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.«

Das ist und bleibt Gottes Wort an mich als stabiles Fundament für den Weg, der vor mir liegt.

In dieser Zeit beginne ich mein Erleben, vor allem meine inneren Erfahrungen und Empfindungen, zu notieren. Im Laufe von Jahren füllt sich Buch um Buch. Das Schreiben hilft mir, mich selbst zu finden und mich einzufinden bei Gott. Was mich vorher völlig durcheinander bringt, weil es in mir Kreise zieht, verliert auf dem Papier seine Macht. Das Durcheinander wird durchschaubar. Wenn ich schreibe, werden Erlebnisse, Gedanken, Empfindungen oft schon zum Gebet.

Kurz nachdem ich diese Bekehrung erlebt habe, beginnt für mich die Ausbildung zur Krankenschwester.

Bei dem Versuch, in einem staatlichen Betrieb zu lernen – ich hatte mir ausgerechnet, dass ich dann vielleicht doch noch Chancen hätte, zum Medizinstudium zu kommen –, erfahre ich, dass zu den Bewerbungsunterlagen eine Erklärung gehört: »… allezeit bereit für die Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes …« (oder so ähnlich) zu sein. Als ich das in Händen halte, denke ich: »Wenn ich das jetzt unterschreibe, dann hätte ich vor zwei Jahren gleich in der FDJ mitmachen können.«

Also beginne ich in einer kirchlichen Krankenpflegeschule mit dem Gedanken: »Wenn die mich nicht wollen, dann will ich auch nicht mehr.«

Das war mir durchaus bewusst: Es gab in der DDR eine gewisse »Narrenfreiheit« im sozusagen »staatsfreien Winkel«. Die Diakonie hatte für das Gesundheitswesen in der DDR große Bedeutung und so einen relativ großen Lebens- und Handlungsfreiraum.

Das kommt mir nun zugute. Damit kann ich in den folgenden Jahren gut leben.

Zweites Kapitel

Geistliche Kinderstube

»Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.« (Apg. 2,42)

Seit September 1975 bin ich »Schwester Astrid« im hellblauen Kleid mit Kastenhaube.

Ich wohne im Internat der Krankenpflegeschule am Luise Henrietten-Stift in Lehnin, einem kleinen Ort zwischen Brandenburg und Potsdam. Jeden Tag atmen wir dort konzentriert historische Luft ein. Das Internat ist untergebracht im Mutterhaus des Stiftes in den alten Klostergebäuden eines Zisterzienser-Klosters direkt an der Südseite der Kirche der Zisterzienser. Das Kloster, 1180 gegründet, beherbergt seit 1911 das Diakonissen-Mutterhaus.

Mitten im Ort geht ein Weg ab, der zum Kloster führt. Rechts an der Ecke ein Bäcker, ein wesentlicher Ort für uns. Nicht von ungefähr haben wir in der Internatszeit fast alle eine beträchtliche Gewichtszunahme zu verzeichnen.

Die dicken Backsteinmauern strahlen Ruhe und Sicherheit aus. Die Tür vom Haupteingang öffnet sich schwer. Aus dem Kloster kommt einem in jeder Jahreszeit kühle Luft entgegen. Gleich vorn rechts ist die Pforte. Am Tag sitzt dort meist Schwester Ella, eine kleine, alte Diakonisse, die mit viel Witz und Humor den Bewohnern und Gästen begegnet. Von 20 bis 22 Uhr müssen die Internatsbewohnerinnen den Pfortendienst machen. Wer Ausgang hat (einmal in der Woche), muss sich in ein Heft eintragen. Pünktlich um 22 Uhr muss jede zurück sein. Die Tür wird jetzt abgeschlossen.

Unten links geht es in die Mutterhaus- und Krankenhausküche. Gegenüber neben der Treppe ist die Tür zum Kapitelsaal, eine Perle des Klosters, genutzt für besondere Anlässe. Auch unsere theoretischen Prüfungen finden zum großen Teil hier statt.

Gegenüber vom Haupteingang, sozusagen zwischen Küche und Kapitelsaal, führt eine Tür auf den Kreuzgang. Im Sommer sitzt man hier gut zum Lernen oder, lieber noch, zum Kaffeetrinken. Manchmal fühlen wir uns dabei allerdings wie im Zoo. Das Kloster, so gut erhalten und mit so viel Leben gefüllt, ist eine beliebte Sehenswürdigkeit. Dabei besichtigen die Touristen zwangsläufig nicht nur das Gemäuer, sondern auch die Bewohner.

Die Treppe hoch beginnt der Internatsbereich. Das heißt, in der 1. Etage rechts im Flur sind noch die Büros der wichtigen Leute: Oberin, Vorsteher, Lehrschwester. Links und eine Etage weiter oben ist dann unser Reich mit Vier- und Dreibettzimmern, Teeküchen, Waschräumen, Aufenthaltsräumen und dann noch unterm Dach ein paar kleinere Zimmer.

Der Duft aus der Küche füllt in der Regel das ganze Haus. Schon morgens, wenn wir aus dem Zimmer in den Waschraum gehen, können wir feststellen, was es zum Mittag geben wird.

Das Krankenhaus ist in verschiedene Gebäude verteilt. Direkt am Klostergebäude, noch vor dem Internat, sind die Säuglings- und Kinderstationen. Wenige hundert Meter hinter dem Kloster sind in ehemals landwirtschaftlichen Gebäuden die Inneren und Chirurgischen Abteilungen, OP, Verwaltung, Ambulanzen, Waschküche und Speisesaal.

Der Sommer hat seine besonderen Reize in dieser herrlichen Gegend. Wenn man vom Kloster durch das Krankenhausgelände gegangen ist, an den Altersheimen vorbei, die in Baracken aus dem Krieg untergebracht sind, führt ein herrlicher Weg zum Klostersee, einem der vielen Seen, die Lehnin umgeben. Ein Ruderboot, Stiftseigentum, lädt ein. Wenn wir uns dahin auf den Weg machen, denken wir nach einem anstrengenden Frühdienst ganz schnell: Wir sind im Urlaub.

Auf unserem Stundenplan steht unter anderem das Fach »Berufsethik«.

»Wenn Sie in ein Krankenzimmer kommen, dann stellen Sie sich immer vor, er oder sie, die, die da liegen, sind nahe Angehörige von Ihnen.« Wir haben auf den Stationen zum großen Teil noch große Zimmer mit vier, sechs oder noch mehr Patientenbetten. Vieles ist mühsam und bei weitem nicht schön oder angenehm. Die Vorstellung, Frau XY ist nicht XY, sondern könnte meine Mutter, der Mann dort an der Tür mein Vater sein; oder gar ich selbst könnte da liegen, diese Vorstellung verändert meine Einstellung.

Nachdem ich dann tatsächlich mal 10 Tage selbst auf einer der Stationen gelegen habe, weiß ich sehr gut, was für einen Patienten angenehm und was absolut unangenehm ist. Der Gedanke, selbst in der Situation des Patienten zu sein, ist real geworden. Ich bin »in seiner Haut« gewesen.

»Barmherzigkeit heißt, in die Haut eines anderen zu schlüpfen, mit seinen Augen zu sehen, mit seinem Verstand zu denken, mit seinem Herzen zu fühlen« (W. Barclay). Ich absolviere eine »Sonderschulung«. Was in diesem Bereich gilt, trifft für jeden Bereich unseres Lebens zu: Mich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, verändert das Verhalten.

Die Lehniner Zeit, für mich die Jahre von 17 bis 21, bietet mir viel Raum für vielfältige Gemeinschaft.

Mittwochs treffen sich im Dienstzimmer der Internatsleiterin Schülerinnen und jung examinierte Schwestern. Hier finde ich das wieder, was ich in Ludwigslust mit den Krankenpflegeschülerinnen erlebt habe, einen Kreis zum gemeinsamen Bibellesen und Beten. Es gibt inzwischen nur einen wesentlichen Unterschied: Ich bin nicht mehr die »große Schweigende«.

Die Gemeinschaft weitet sich aus. Oft sind wir bei gemeinsamen Mahlzeiten zusammen, verbringen Zeit miteinander, haben vielfältigen Austausch.

Intensives Bibelstudium, genaues Hinhören auf den Text