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Titelseite

Kapitel 001

Das Thermometer vor dem Wohnzimmerfenster zeigte fünf Grad plus. Anstatt zu schneien, regnete es. Nur verschwommen konnte Lilli die Bäume am anderen Ende des Gartens erkennen. Das Sternentuch aus Seide, das sie gestern um eine der Tannen geschlungen hatte, war nur ein sinnloser gelber Fleck in all dem Grau. Lilli hauchte gegen die Scheibe und malte mit dem Fingernagel dünne Spiralen auf das beschlagene Glas. Ihre Gedanken versanken im Nebel. Jetzt war Lilli eine Eisprinzessin. Die Kufen ihrer Schlittschuhe sangen eine unhörbare Melodie, Lillian Holiday schraubte sich in die Luft, ihr Kostüm glitzerte, ihre Locken wirbelten … Da klingelte es. Lillian Holiday plumpste aus ihrem Tagtraum und war wieder Lilli Holler, die vergeblich auf den ersten Schnee wartete.

Sneaker, der vor dem Sofa auf dem Teppich döste, hob den Kopf und bellte.

»Machst du mal auf?«, rief Lillis Vater aus der Küche.

Es klingelte erneut. Diesmal energischer.

»Lilli!« Die Stimme aus der Küche klang ebenfalls energischer. Es roch nach verbrannten Plätzchen.

Hoffentlich nicht Luisa, dachte Lilli und öffnete die Haustür.

Bob und Very grinsten Lilli ins Gesicht.

»Avanti, Oberküken!« Bob schnappte sich Lillis Anorak von der Garderobe.

»Bandentreffen auf der Eisbahn«, ordnete Very an. Über ihrer Schulter hing ein ziemlich neues Paar Schlittschuhe aus weißem Leder.

»Passwort?« Lilli verschränkte abwartend die Arme.

Very verdrehte die Augen. »Kannst du dir das nicht mal abgewöhnen?«

»Sind wir eine Bande oder nicht?«, fragte Lilli.

»Es war Eiszapfen, oder?«, grübelte Very.

»Nein, Schneeball!« Bob warf Lilli den Anorak über den Kopf. »Jetzt komm, wir waren gestern schon ohne dich da!«

»Es war Schneeflocke«, sagte Lilli. »Und außerdem hab ich gar keine Schlittschuhe.«

»Na und, ich auch nicht.« Mit ihrem Hinterteil drückte Bob die Haustür auf. »Wir leihen uns welche bei Gelatino. Vielleicht müssen wir nicht mal was bezahlen.«

Das Regenwetter vor der Tür sah nicht gerade einladend aus.

Widerwillig schlüpfte Lilli in ihre Stiefel. »Papa, ich geh mit den Mädels zur Eisbahn.«

Aus der Küche kam nur ein »Mmh«.

Bob rümpfte ihre Knubbelnase.

»Papa backt für deine Tante Luisa Zimtsterne«, erklärte Lilli und fand die Vorstellung, dass die Freundin ihres Vaters ihm zuliebe verbrannte Plätzchen hinunterwürgte, eigentlich ganz reizvoll.

Lilli hielt mit beiden Händen den großen grauen Herrenschirm ihres Vaters über sich und ihre Freundinnen. »Luisa nervt echt total. Wieso muss Papa sich auch ausgerechnet in unsere Lehrerin verknallen? Wenn sie auf einer Bohrinsel arbeiten würde, dann wäre sie weit weg und nicht jeden Abend bei uns.«

»Eigentlich ist Bobs Tante doch ganz in Ordnung«, meinte Very.

Eine Windbö trieb ihnen Regentropfen ins Gesicht.

Bob duckte sich tiefer unter den Schirm. »Stell dir vor, dein Dad hätte sich in die Schley verliebt.« Frau Schley war die Mathelehrerin der Wilden Küken und eine echte Katastrophe.

»Du bist doch nur froh, dass deine Tante jetzt mich als Opfer für ihre Nachhilfe auserkoren hat.« Lilli patschte in eine Wasserlache und redete drauflos, wie sehr sie die Weihnachtsferien herbeisehnte und den ersten Schnee. Lilli erzählte, was Sneaker in letzter Zeit alles angestellt hatte und welche Kinofilme sie gerne sehen würde, bis sie endlich Luft holte und das sagte, was ihr am meisten auf der Seele lag. »Und außerdem kann ich überhaupt nicht Schlittschuh laufen. Deshalb wollte ich gestern nicht mit.«

Very hakte sich rechts bei Lilli ein. »Es ist genauso wie Inlineskaten!«

»Außerdem halten wir dich!« Bob nahm Lillis linken Arm und dann hoben die beiden Lilli ganz leicht hoch, sodass ihre Füße kurz über dem regennassen Gehweg schwebten.

Die Eishalle war erfüllt von Musik, Stimmengewirr und Gelächter. Am Rand der Eisfläche war mit einer rotweißen Flatterleine ein kleines Gebiet für eine Gruppe Kindergartenkinder abgesperrt, die kreischend und johlend hin und her rutschten oder auf dem Bauch übers Eis robbten. Lilli kam es vor wie eine verkehrte Welt, draußen regnete es, aber hier drin war der herrlichste Winter. Auch wenn sie noch nie Schlittschuh gelaufen war, angesichts des bunten Treibens auf dem Eis klopfte ihr Herz jetzt voller Vorfreude.

»Komm, da hinten ist Gelatino.« Von der Treppe zwischen den Tribünen aus winkte Bob ihm zu.

Lillis Augen suchten die Eisfläche nach bekannten Gesichtern ab, da raste auch schon Mitch in ihr Blickfeld. Mit hoch-rotem Gesicht jagte er dem Puck nach, den er mit seinem Eishockeyschläger vor sich hertrieb. Lilli musste unwillkürlich lächeln, als sie Little entdeckte, der vorsichtig einen Stuhl vor sich her schob. An dessen Lehne geklammert, machte er so vorsichtige Schritte, als befände er sich auf dünnstem Eis und würde jede Sekunde damit rechnen, einzubrechen.

Lilli legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Wo ist denn Ole?«

Little blickte nicht mal auf.

Lilli war sich nicht sicher, ob sie den allgemeinen Lärm übertönt hatte. Mitch jedoch drehte sich um, aber anstatt zu antworten, richtete er den Eishockeyschläger wie ein Gewehr auf Lilli und ballerte drauflos, als wäre er einer der Helden aus seinen Actionfilmen.

Genau wie Lilli, Bob und Very waren auch Mitch, Little und Ole eine Bande: die Grottenolme. Die Jungs hatten ihnen schon so manchen Streich gespielt, aber die Wilden Küken waren den Olmen nichts schuldig geblieben.

Derzeit herrschte allerdings Waffenstillstand zwischen den Banden.

Very streckte Mitch, der ihr durch die gläserne Sicherheitswand vor den Tribünen hindurch Grimassen schnitt, kurz ihre spitze Zunge raus und zog Lilli am Ärmel weiter Richtung Schlittschuhverleih.

Gelatino half gerade einer Eisläuferin aus den Schlittschuhen. »Omeiomei, de san ja eiskoid!« Gelatino begann, der jungen Frau die Füße zu massieren.

Gelatino hieß eigentlich Georg Hadersdorfer, hatte seit Kurzem den Führerschein und kam nicht etwa aus Italien, sondern aus Bayern, genauer gesagt aus Rosenheim. Im Sommer jobbte er als Eisverkäufer in der Eisdiele von Bobs Mutter. Im Winter half er ab und zu im Schlittschuhverleih der Eisbahn aus.

Bob durchstöberte die Regale nach passenden Schlittschuhen für sich und Lilli.

»Wir können die doch gratis leihen?«, sagte sie in Gelatinos Richtung und drückte Lilli ein Paar Schlittschuhe in die Hand. Aber Gelatino ließ nicht mit sich handeln und verlangte den vollen Preis. Weil Lillis Geld schon für den Eintritt draufgegangen war, legte Very ihr den Betrag aus. Very bekam pro Woche so viel Taschengeld wie Lilli und Bob zusammen im Monat.

Very legte das Geld neben ihn auf die Sitzbank, aber Gelatino hatte nur Augen für die Eisläuferin.

Da tauchte hinter ihm Giulia, Bobs ältere Schwester, auf und zwinkerte den Wilden Küken erst verschwörerisch zu, dann räusperte sie sich. »He, Gelatino, wird deine Freundin da nicht eifersüchtig?«

Gelatino hatte überhaupt keine Freundin. Das wussten er und Giulia und die Wilden Küken, aber nicht die Eisläuferin. Leicht pikiert zog sie ihren Fuß aus seinen Händen und machte sich aus dem Staub.

Giulia lachte frech und lief zu ihrem Freund Justin, der schon ungeduldig auf sie wartete. Missmutig schaute Gelatino zu, wie Giulia Justin zur Begrüßung einen langen Kuss gab.

Bob schob Lilli vor sich her Richtung Eisbahn. »Meine Schwester will zu Justin ziehen, und wenn das klappt, dann krieg ich Giulias Zimmer!«

Lilli und Very waren beide Einzelkinder. Für sie war ein eigenes Zimmer eine Selbstverständlichkeit. Aber Bob schlief noch immer zusammen mit ihrem kleinen Bruder in einem Etagenbett.

Wie versprochen, hakten sich die Freundinnen bei Lilli links und rechts unter, sobald sie auf dem Eis waren. Die drei Wilden Küken summten die Musik aus den Lautsprechern mit und setzten, dem Rhythmus folgend, im Gleichschritt Fuß vor Fuß. Immer schneller glitten sie übers Eis und immer sicherer fühlte sich Lilli.

Mitch kreiste um sie herum und versuchte immer wieder, seinen Puck gegen die Kufen der Wilden Küken zu schießen.

»Lass das, du Knallkopf«, rief Very. »Bis zum ersten Schnee herrscht doch Waffenstillstand.« Aber schon wieder musste Very dem Puck ausweichen. »Na, warte.« Sie ließ Lilli los und nahm wutschnaubend Mitchs Verfolgung auf.

Ein paar wacklige Schritte fuhr Lilli, auf Bob gestützt, weiter, bis Bob sie einfach auf Littles Stuhl absetzte und ebenfalls hinter Mitch herjagte.

Little hüstelte und stellte in sachlichem Ton fest: »Du bist zwar etwas schwer, aber ich schiebe dich trotzdem.«

»Das ist aber lieb von dir«, sagte Lilli mit leisem Spott.

Little schob immer langsamer und ächzte. »Die Schwerkraft setzt sich aus der Erdanziehung abzüglich der durch die Erdrotation bewirkten Zentrifugalkraft zusammen.« Little war Oles Zwillingsbruder. Sein richtiger Name war eigentlich Linus, aber alle nannten ihn nur Little, manche auch Professor Little. Die Brüder waren keine eineiigen Zwillinge, und weil sie sich ziemlich unterschiedlich kleideten und Ole viel längere Haare hatte, konnte man die beiden gut auseinanderhalten. Lilli legte den Kopf zurück und blickte in Littles Augen. Sie waren genauso tiefblau wie die von Ole. »Wo ist denn dein Bruder?«

»Die vom Eishockeyklub haben noch eine Besprechung.«

Lilli zog die Füße hoch. Haarscharf sauste erst Very mit vollem Karacho vorbei und gleich hinter ihr Mitch.

»Gib her, Very, oder ich …« Mitch keuchte. Er war ziemlich aus der Puste.

Very hatte sich seinen Eishockeyschläger geschnappt, fuhr jetzt elegant rückwärts und wedelte dabei mit dem Schläger vor Mitchs Nase herum, als würde sie einen Hund mit einem Knochen locken. »Fass, Hundi, fass!«

Hinter den beiden her lief Bob mit dem Puck in der Hand.

Je erschöpfter und plumper sich Mitch auf dem Eis bewegte, desto graziöser schwebte Very. Genau in dem Augenblick, in dem Mitch die Hand nach seinem Schläger ausstreckte, drehte Very eine Pirouette und Mitch griff ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, drehte die Arme wie Windmühlenflügel und landete auf seinem Hinterteil.

»Die Gravitation bewirkt beispielsweise, dass Gegenstände zu Boden fallen«, beendete Little gerade seinen Vortrag über die Schwerkraft.

»In diesem Fall wohl eher Olme.« Lilli versuchte gar nicht erst, ihr schadenfrohes Lachen zu unterdrücken. Little schob den Stuhl mit der lachenden Lilli darauf noch einen Meter weiter und hielt direkt vor dem sich aufrappelnden Mitch. Gleichzeitig bremsten auch Very und Bob mit knirschenden Kufen.

Mitch warf sich heldenhaft in die Brust. »Toller Stunt, was?«

»Das muss genäht werden«, sagte Little in sachlichem Tonfall.

Mitch tastete erschrocken seine Stirn ab und murmelte ängstlich: »Was muss genäht werden?«

»Deine klaffende Wunde …« Bob biss sich auf die Lippen und drehte Mitch herum. Und da sah es auch Lilli. Zwischen den Gesäßtaschen seiner Jeans klaffte ein kaum zu übersehender Riss. Mitch fasste sich ans Hinterteil und lief noch röter an, als er schon war. Fast tat er Lilli jetzt leid. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lachen. Und Bob erst recht nicht.

»Hübsche Boxershorts«, sagte Very und hielt Mitch ihre ärmellose Daunenweste hin. Sie war einen Kopf größer als er, und die Weste war lang genug, um Mitch aus der Patsche zu helfen.

Erleichtert, von sich ablenken zu können, deutete Mitch auf den Verkäufer, der eben seinen Wagen auf die Eisbahn schob. »Wer will einen Donut?«

»Wir!« Very und Bob folgten Mitch.

Little fuhr ihnen auf unsicheren Beinen hinterher.

Nur Lilli blieb auf dem Stuhl zurück. Sie hatte keinen Hunger, und jetzt, wo keiner mehr auf sie achtete, probierte sie das mit dem Stuhl aus. Sie stellte sich wie Little hinter die Lehne und setzte sich in Bewegung. Der Stuhl gab ihr Halt und Sicherheit und tatsächlich bekam sie allmählich ein Gefühl fürs Eislaufen.

»Hey, Eisprinzessin.« Lilli riss den Kopf herum. Ole rauschte an ihr vorbei. Erst sah es so aus, als würde der Boss der Grottenolmbande sich nicht weiter um die Anführerin der Wilden Küken kümmern, aber Ole setzte seine Füße in flinken Schritten so voreinander, dass er eine enge Kurve beschrieb und jetzt direkt auf Lilli zuglitt.

Sofort ließ sie den blöden Stuhl los und gab sich Mühe, möglichst locker zu wirken. Aber ihre Füße fuhren wie von selbst immer weiter auseinander. Schnell drehte sie die Kufenspitzen nach innen, dann wieder kurz nach außen und wieder nach innen und zeichnete dadurch eine Art Zwiebelmuster aufs Eis. Rückwärts vor Lilli herfahrend, machte Ole es ihr nach. Lilli wurde mutiger und hob die Schlittschuhe abwechselnd kurz an. Dadurch gewann sie deutlich an Fahrt. Immer schneller musste sie ihr Gewicht von einem auf den andern Fuß verlagern, um nicht zu straucheln.

»Mach lieber langsam«, warnte Ole noch, aber da überholte Lilli ihn auch schon. Immer schneller raste sie auf die Kindergartengruppe hinter der rotweißen Flatterleine zu.

Lilli versuchte, eine Kurve zu fahren. Es war, als liefe sie den eigenen Füßen hinterher, während das Eis unter ihr immer rutschiger wurde. Mit schweren Schlägen setzte sie die Kufen immer rascher auf den Boden und merkte gleichzeitig, wie sie immer weiter nach hinten kippte. Sie suchte im Fallen nach Halt und erwischte einen Jackenärmel neben sich, an dem sie sich festklammerte. Für eine Sekunde schien der Sturz gebremst, aber dann riss sie Ole mit sich und knallte auf den Boden. Erst mit dem Po hart aufs Eis, dann mit dem Kopf auf Oles Arm. Lilli wurde schwarz vor Augen. Sie blinzelte ein paarmal, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Oles dunkelblaue Augen schwebten über ihrem Gesicht. Ihre Finger waren noch immer in seine Fleecejacke gekrallt. Sofort ließ sie los und drehte den Kopf zur Seite. Durch all das Gewirr von Schlittschuhen und Beinen sah sie Mitch und die anderen am Donutwagen anstehen. Anscheinend hatten sie nichts gesehen.

Gleich würde Ole sich über ihre Ungeschicklichkeit lustig machen. Lilli versuchte, sich aufzurappeln, da geschah es. Lilli vergaß zu atmen. Als würde sie erneut hinfallen, fuhr ihr der Schreck erst in den Magen und dann in die Gelenke. War das jetzt wirklich passiert? Hatte Ole sie eben wirklich geküsst? Auf den Mund? Mit einer Sekunde Verzögerung stießen ihre Hände gegen seine Brust. Fast wäre Ole hintenübergekippt.

»Scheiße, Lilli …« Ole rappelte sich hoch und half auch ihr auf die Beine. »Hast du dir wehgetan?«

Noch immer hielt er sie am Arm fest. Lilli riss sich los und wie von selbst schlug ihre Hand in Oles Gesicht.

Er drückte den Rücken durch, lief energisch auf den Kufen los und verschwand in der Menge der Eisläufer.

Wütend zerrte Lilli an ihren Schnürsenkeln, zog sich die Schlittschuhe von den Füßen und lief auf Strümpfen über das Eis.

Sie musste hier raus und allein sein.

Kapitel 002

Wortlos knallte Lilli Gelatino die Schlittschuhe hin, schlüpfte in ihre Stiefel und rannte an den Garderoben vorbei durch das Foyer der Eishalle. Sie stieß die Glastür auf und kollidierte mit einem bunten Regenschirm.

Mist, Papas Schirm, schoss es Lilli durch den Kopf, den hatte sie vollkommen vergessen.

»Hallo, Lilli.«

Erst jetzt erkannte Lilli die Neue aus ihrer Klasse. Anders als in der Schule hatte sie ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten.

Das Mädchen zeigte auf die Hühnerfeder, die Lilli an einem Lederband um den Hals trug, und reckte ihren Schirm Richtung Himmel. »Wilde Küken sind wohl wasserfest, was?«

Lilli schob ihren Federanhänger unter ihren Anorakkragen.

»Wenn du willst, begleite ich dich, mein Schirm ist groß genug für uns beide.« Die dunklen Augen des Mädchens schimmerten, als wäre eine Winzigkeit Gold hineingemischt. »Oder ich leih ihn dir einfach. Hier, Oberküken!«

»Nicht nötig.« Lilli trat unter dem Vordach der Eishalle heraus auf den Gehsteig und stand im Regen.

»Ist irgendwas mit dir?«, fragte das Mädchen. »Du siehst irgendwie … fertig aus.«

Kann ja nicht jede aussehen wie eine indianische Schönheit, dachte Lilli. Aber, was sie sagte, war: »Ich muss los. Wir sehen uns ja dann in der Schule …« Lilli zögerte, da ihr der Name des Mädchens plötzlich nicht mehr einfiel.

»Enya. Ich heiße Enya.« Enya lächelte. »Ich hab hier noch nicht viele Freunde.«

Lilli zog sich die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf und überquerte die Straße.

Lilli sparte sich den Weg bis nach vorne zur Haustür und flankte gleich über das Schiebetor mit dem Schild Schreinerei Holler. Zwischen Werkstatt und Holzlager parkte Luisas roter Kleinwagen hinter dem großen Auto und dem Anhänger von Lillis Vater.

In der Werkstatt brannte kein Licht. Vergeblich drückte Lilli die Klinke der hinteren Haustür. Sie war abgeschlossen. Also probierte Lilli es an der Terrassentür, aber der Griff innen zeigte nach unten.

Einen ratlosen Augenblick lang blieb Lilli auf der Terrasse stehen. An dem Haltebügel, mit dem das Thermometer am Fensterrahmen festgeschraubt war, hing ein Regentropfen. Sollte sie sich den Hausschlüssel aus dem Versteck hinter der Regenrinne der Werkstatt holen oder doch lieber klingeln? Lilli fühlte sich plötzlich so erschöpft und leer – wenn jetzt einfach die Zeit stehen geblieben wäre, hätte sie es wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Aber die Zeit blieb nicht stehen.

Aus dem Haus hörte sie erst Sneaker bellen und kurz darauf öffnete Lillis Vater ihr auch schon die Terrassentür. Er hatte einen Pinsel und einen Lappen in der Hand. »Hallo, Lilli! Willst du Schinkennudeln essen oder Pfannkuchensuppe?«

»Ich hab keinen Hunger.« Lilli wollte nur rauf in ihr Zimmer, sich die Decke über den Kopf ziehen und hoffen, dass das alles nur ein blöder Traum gewesen war.

Mit den Stiefeln in der Hand folgte sie ihrem Vater durchs Wohnzimmer in den Flur. Jede zweite Stufe der Treppe glänzte hellgelb.

»Vorsicht, frisch gestrichen!«, sagte ihr Vater. »Allerdings nur jede zweite, damit man sie noch benutzen kann.« Er pinselte weiter an der untersten Stufe.

»Die anderen machen wir morgen«, rief Luisa von oben herunter. Sie hielt ebenfalls einen Pinsel in der Hand und trug eines der karierten Arbeitshemden von Lillis Vater. »Keine Angst, heute Abend hast du dein Refugium wieder.«

Lilli verstand nicht sofort, was Luisa meinte, aber dann sah sie die ausgehängte Tür ihres Zimmers, die quer über zwei Arbeitsböcken lag.

»Wenn Luisa weiter so fleißig hilft, schaffen wir alle Türen bis Weihnachten.« Lillis Vater tauchte den Pinsel in die Farbe. »Bio-Acryl. Riecht fast gar nicht!«

»Geht’s dir nicht gut?« Luisa trat auf die oberste nicht lackierte Stufe und musterte Lilli.

Lilli machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich brauch nur was zu trinken.«

Luisa predigte immer, möglichst drei Liter Flüssigkeit pro Tag zu trinken. Lilli trank lieber, wenn sie Durst hatte und nicht, wenn die Freundin ihres Vaters ausrechnete, dass sie noch einen halben Liter zu wenig intus hatte. Aber jetzt war Lilli dankbar, sich in die Küche verdrücken zu können.

Sneaker stupste ihr seine nasse Schnauze ins Gesicht. Normalerweise machte Lilli das nichts aus, aber jetzt schob sie den Hund genervt von sich weg, ließ an der Spüle ein Glas voll Wasser laufen und trank es in einem Zug leer.

Dann zog Lilli eilig ihre Schnürstiefel wieder an und nahm den Regenmantel vom Garderobenhaken. »Ich fahr zum Weiher, die Hühner füttern.« Sie war schon fast zur Tür hinaus, da hörte sie Luisa rufen: »Nimm Sneaker mit, der war heute noch gar nicht an der Luft!«

Lilli klickte die Leine in Sneakers Halsband und war endlich draußen. Sie drückte auf den Knopf fürs Schiebetor. Quietschend schob es sich auf und Lilli radelte raus auf die Straße. Sneaker lief freudig neben ihr her. Der Freilauf ihres Fahrrads surrte friedlich und es hatte aufgehört zu regnen. Lilli bemühte sich, an etwas anderes zu denken, aber immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zur Eisbahn.

Bereits an dem Schild mit der Aufschrift Privatgrundstück begann Sneaker, aufgeregt zu bellen. Und auch Lilli erfasste noch immer jedes Mal ein freudiger Schauder, wenn sie sich dem schwimmenden Bandenquartier der Wilden Küken näherte.

Sie ließ Sneaker von der Leine und schob ihr Rad durchs Gras.

Der Boden war weich und feucht. Ein viel zu warmer Wind trieb graue Wolken über den Keltenwald. Lillis Füße sanken tief in die regengetränkte Wiese, hin und wieder gab es ein schmatzendes Geräusch unter ihren Sohlen.

Die kahle Weide spiegelte sich dunkel auf dem Wasser und die Mystery lag fest vertäut am Steg.

Lilli, Very und Bob hatten das Schiff vor ein paar Monaten von ihrem selbst verdienten Geld bei einem Schrotthändler unten am Fluss gekauft. Mithilfe ihrer Eltern hatten sie den maroden Kahn hierher transportiert und gemeinsam wieder auf Vordermann gebracht. Gut, dass Lillis Vater Schreiner war. Noch besser, dass Verys Opa Hinsgen der Besitzer der Weiherwiese war. Und zu allem Glück war Bobs Vater Jens Elektriker, und schon bald würden sie in ihrem schwimmenden Bandenquartier sogar Strom haben. Der blecherne Anschlusskasten stand schon in der Nähe des Stegs auf einem Betonsockel. Lilli bückte sich und strich die welken Weidenblätter von den Abdrücken im Beton. Deutlich waren die Hände von Very, Bob und Lilli zu erkennen, daneben Sneakers Pfote und die beiden Hühnerkrallen. Die Abdrücke sahen aus wie eine Geheimschrift. Die sollten wir fotografieren und in unser Bandenbuch kleben, dachte Lilli, da brummte das Handy in ihrer Jackentasche. Very ruft an stand auf dem Display. Lilli ging ran und wimmelte Very mit der Notlüge ab, ihr wäre in der Eishalle plötzlich schlecht geworden.

Sneaker stellte die Ohren auf und bellte. Es sah aus, als würde er sich mit der Galionsfigur des Schiffes unterhalten. Das hölzerne Huhn am Bug hatte Lilli vor einiger Zeit selbst geschreinert und zusammen mit den anderen beiden Wilden Küken bemalt.

Lilli kletterte die Leiter hoch an Bord der Mystery. Birdie gackerte in dem kleinen vergitterten Auslauf hinter der zum Stall umfunktionierten Kajüte. Lilli öffnete die blau gestrichene Tür und hielt die Hände auf. Birdie zwängte sich durch die kleine Klappe an der Rückwand und sprang hinein. Bussi hingegen hockte in ihrem Nest und beobachtete ganz ruhig, wie Lilli Birdie in den großen Deckelkorb setzte. Aber als sie an der Reihe war, flatterte sie Lilli mehrmals aus den Händen. Lilli stieß sich den Kopf an der Hühnerstange, griff in Hühnerkacke und Bussi krächzte frech. Aber schließlich erwischte Lilli sie doch und kletterte mit den beiden Junghühnern im Deckelkorb von Bord.

Unten auf der Weiherwiese hob sie die beiden über den Zaun in ihren Hühnergarten. Bussi fing sofort an, im nassen Gras zu scharren, während Birdie sich in ihre Lieblingsmulde kuschelte.

»Du passt auf unsere Hühner auf«, befahl Lilli Sneaker und ließ ihn von der Leine. Dann kehrte sie zurück aufs Schiff und mistete die Kükenkajüte so gründlich aus wie schon lange nicht mehr.

Dumpf gluckste das Wasser des Weihers gegen die Schiffswand. Nach der Anstrengung beim Ausmisten fröstelte Lilli jetzt ein wenig. Hier unten im Bauch der Mystery schien es fast kälter zu sein als draußen. Diffuses Licht drang durch die beschlagenen Scheiben der Bullaugen. Die drei Schlafkojen waren hochgeklappt und die Steppdecken lagen zusammengerollt in der Ecke. Lilli, Bob und Very hatten schon lange nicht mehr hier geschlafen, und ihre letzten Bandentreffen hatten meist nicht viel länger gedauert, als sie Zeit brauchten, um die Hühner zu versorgen.

Inmitten des Raums stand der Radiator, den ihnen Verys Eltern spendiert hatten. Mit etwas Fantasie konnte man darin ein seltsames Tier mit weißen Rippen erkennen: Das Kabel ähnelte einem Schwanz, der Griff einer Schnauze und die beiden Schalter des Heizkörpers sahen aus wie Augen.

Lillis Magen knurrte. Erst jetzt registrierte sie, wie hungrig sie inzwischen war. Kurz tauchte vor ihrem inneren Auge der Donutwagen auf der Eisbahn auf. Schnell wischte Lilli den Gedanken weg und rollte das Rippentier auf seinen vier Rollfüßchen von der Geheimplanke.

Als die Wilden Küken das erste Mal auf der Mystery übernachteten, hatten sie unter dieser losen Planke einen geheimnisvollen Ballettschuh entdeckt. Lilli prüfte, ob die winzige Holzperle noch im Astloch der Planke lag. Das war eine Art Alarmanlage. War die Perle nicht mehr an Ort und Stelle, wussten die Wilden Küken, dass ein Unbefugter die Planke entdeckt und ihr Geheimfach geöffnet hatte.

In der Hoffnung auf Schokoladenvorräte oder zumindest ein paar Kekse hob Lilli die Planke hoch. Aber die Keksdose war leer und außer dem Bandenbuch der Wilden Küken fand Lilli nur eine Flasche Holunderlimonade.

Wochenlang hatten sie damals versucht, das Geheimnis des Ballettschuhs zu lösen. Wem gehörte der Schuh? Und wie kam er auf das Schiff? Lilli öffnete die Limonade und trank einen Schluck. Sie hatten den Schuh sogar ausgependelt. Verys Mutter Ilona hatte schon immer einen Hang zum Esoterischen, und in einem von Ilonas Büchern hatten die Wilden Küken nachgeschlagen, wie das mit dem Auspendeln funktionierte. Aber es hatte nicht funktioniert. Lilli sah es in allen Einzelheiten vor sich: Den Ballettschuh auf der Landkarte liegend, vom Licht des Vollmonds durchs Fenster angeschienen … Sie, Bob und Very hockten auf dem obersten Platz in Verys Haus und drei verschiedenfarbige Kerzen brannten. Alles war, wie es sein sollte. Nur das Pendel tat nichts weiter, als nervös herumzupendeln. Vielleicht lag es am Pendel, vielleicht auch daran, dass Very ständig kichern musste. Und dann passierte es. Very fiel das Pendel aus der Hand, es rollte unterm Treppengeländer hindurch und zerschlug ein Stockwerk tiefer eine der kostbaren chinesischen Vasen.

Bald danach hatten es die Wilden Küken aufgegeben, das Rätsel des Ballettschuhs lösen zu wollen.

Über sich hörte Lilli Sneaker winseln und auf und ablaufen.

Sie passte die Planke in den Schiffsboden ein und versenkte die Holzperle wieder im Astloch.

Dann schleppte sie, den Bauch voller Holunderlimo, die letzten Reste Heu und Stroh aus ihrem Vorratslager im Bug des Schiffes hinauf an Deck. Lilli klappte die Luke zu und wollte das Vorhängeschloss wieder einhängen, konnte es aber nirgends entdecken – bis es klappernd aus Sneakers Maul fiel. Sneaker nahm es erneut zwischen die Zähne, aber anstatt es zu apportieren, ließ er es über die Reling plumpsen. »Schönen Dank, Sneaker!«, schimpfte Lilli. Aber als er seinen Kopf auf den Boden drückte und die Pfote so unschuldig auf seine Schnauze legte, konnte sie nicht anders, als ihn zwischen den Ohren zu kraulen.

Kaum hatte sie sich im Hühnergarten auf die kleine Holzkiste gesetzt, hopste ihr Birdie auch schon auf den Schoß. Lilli streichelte sanft Birdies Hals und hielt ihren Fuß so lange still, bis Bussi es geschafft hatte, das Schuhband aufzupicken.

Lilli fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie fühlten sich kalt und fremd an. Es war unmöglich, nicht an Ole zu denken. Kurz wurde es in Lillis Gedanken wieder spätsommerlich warm. Die Sonne war schon hinterm Keltenwald untergegangen. Es war der Abend nach der Schiffstaufe der Mystery. Lilli stand neben Ole, er flüsterte ihr etwas ins Ohr und gab ihr dann die Igelhaarspange zurück, die sie damals so lange gesucht hatte. Wenn er ihr da einen Kuss gegeben hätte … Aber das heute? Die Ohrfeige hatte er sich echt verdient.