Vorwort
von Marcel Reich-Ranicki
Nie wollte er aufhören zu glauben, dass die Menschen besser werden könnten, »wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht«. Er, der Autor düsterer und resignierter, bissiger und bitterer Gedichte, war in Wirklichkeit Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist und der deutschen Literatur positivster Negationsrat. Er gehört zu den Moralisten, die zugleich Spaßmacher sind. Er ist ein Conférencier, der keine Hemmungen hat zu predigen. Und er ist ein Prediger, der gern und stolz die Narrenkappe trägt. In allem, was er geschrieben hat, dominiert unmissverständlich und dennoch unaufdringlich das Pädagogische. Mithin ein Schulmeister gar? Aber ja doch, nur eben Deutschlands amüsantester und geistreichster.
Er war witzig. Also nahm man ihn nicht ganz ernst. Aber er hatte Anmut und Charme. Also hielt man ihn für etwas unseriös. Er war sehr erfolgreich, ja, er wurde – wie seine Zeitgenossen Tucholsky und Ringelnatz, Fallada und Zuckmayer – ein typischer Volksschriftsteller. Also misstraute man ihm. Während andere das Bedürfnis hatten, sich einzureihen, bei einer politischen Organisation Schutz zu suchen oder sich mit ihr ganz zu identifizieren, blieb Kästner zwischen den Fronten und Parteien. Seine beharrliche Ablehnung der ideologischen Rezepte traf logischerweise in allen Parteien, gelinde gesagt, auf wenig Gegenliebe. Aber damit hat es auch zu tun, dass viele seiner Gedichte aus der Weimarer Zeit bis heute überlebt haben und einige sogar überraschend aktuell sind.
In den zwanziger Jahren, als es darum ging, den Lesern, die von Trakl’scher Trauer, vom Rilke’schen Rhythmus und vom George’schen Gepränge begeistert und betört waren und vom expressionistischen Schrei genug hatten, eine Dichtung schmackhaft zu machen, die deutsch und dennoch nützlich wäre, damals, als Poesie für den Alltag das Gebot der Stunde hieß, da war Kästner einer von jenen »Gebrauchspoeten«, die »Gebrauchslyrik« zu liefern entschlossen waren. Gedichte sollten, meinte er 1929, »seelisch verwendbar« sein, er verstand sie als Notizen »im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart«, wogegen ihm »die Bekanntgabe persönlicher Stimmungen« geradezu verwerflich schien. »Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung, / doch um zu dichten, schrieb er nie.« Er meinte Lessing, aber es gilt auch für ihn selber.
Was seine Protokolle aus dem Leben der modernen Großstadt zunächst auszeichnet, ist ihre vor dem Hintergrund der deutschen Lyrik gar nicht so selbstverständliche Unmittelbarkeit und Deutlichkeit. Der Lyriker Kästner wagte es, gleich und immer zu sagen, worauf es ihm ankam. Unzählige Leser waren ihm dafür dankbar; nur dass viele Kritiker es ihm nicht verzeihen wollten. Die kunstvolle Machart dieser melodischen und oft einschmeichelnden Verse ist nie recht anerkannt worden. Gewiss, die formale Erneuerung der Poesie war seine Sache nicht. Meist verließ er sich auf die herkömmlichsten und populärsten Formen der deutschen Lyrik, zumal auf die vierzeilige und sechszeilige Strophe mit Reim und regelmäßigem Rhythmus. Doch die alten Schläuche füllte er mit neuem Wein. In der traditionellen, oft volksliedhaften Strophe tauchte die saloppe Umgangssprache der späten zwanziger Jahre auf: Alltagsphrasen, Zeitungswendungen und Reklameslogans, auch der Behördenjargon, auch der Slang der Militärs. In dieser Poesie ist die Rede von Schreibmaschinen und Schinkenbroten, von Krediten und Bilanzen, von Bardamen und Abtreibungen. Das von Kästner am häufigsten angewandte Prinzip war die Übernahme des Konventionellen für die (möglichst überraschende) Mitteilung des Aktuellen.
Und das Aktuelle – das ist die Krise. Dieses Lebensgefühl artikulieren die Gedichte Kästners aus den Weimarer Jahren: Sie lassen die allgemeine Unsicherheit spürbar werden, sie registrieren die Symptome sowohl der politischen als auch der persönlichen, sowohl der wirtschaftlichen als auch der sexuellen Krise. Daraus ergeben sich die wichtigsten Motive seiner Lyrik: die Hilflosigkeit des Individuums und die Enttäuschung der missbrauchten Generation, Arbeitslosigkeit und Kulturmüdigkeit, Resignation und Abschiedsstimmung. Der Titel Falladas, Kleiner Mann – was nun?, ist zugleich das Motto der Lyrik Kästners. Er, der Sänger der kleinen Leute und der Dichter der kleinen Freiheit, gehört mittlerweile zu den Klassikern der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die jetzt durch den Atrium Verlag ermöglichte Neulektüre der Montagsgedichte führt vor Augen, wie Kästner arbeitete. Wach, mitten im urbanen Berliner Leben, mit dem genauen, oft schonungslosen Blick für Zeittrends und Zeitgenossen und mit dem unbedingten Willen, die Modernität und Liberalität der Weimarer Republik zu verteidigen. Es war nicht sein Stil, sich in den Gegner zu verbeißen, Kästners bevorzugte Mittel waren Spott und Ironie. Wo die Gegner standen, das wusste er freilich genau: Ein ums andere Mal entblößt er den Militarismus, die Macht der Großindustrie, dumpfen rechten Nationalismus, die Neureichen, das Spießertum im kulturellen Leben.
Es ist der typische Kästner-Ton, der uns in diesen Gedichten entgegentritt, verbunden mit vertrauten Sujets: Bahnreise, Klatsch und Tratsch, die Einsamkeit des Städters (und immer wieder Selbstmord), die Geistlosigkeit der Massenvergnügungen, Touristik, die Erotik des Alltags. Natürlich tritt die geliebte Mutter immer wieder in Erscheinung, und wir erhalten einen kleinen Einblick in Kästners Reisen und Urlaube, zum Beispiel in Paris und Dänemark, an der Ostsee oder in den Alpen.
Kästner war einer der besten Kenner der Berliner Theater- und Literaturszene. Seine vielen Theaterkritiken und Buchrezensionen, aber auch seine Veranstaltungsberichte und Reportagen bilden den Erfahrungshintergrund für zahlreiche der hier versammelten Gedichte. In den Jahren 1928 bis 1930 sind wir Zeuge eines rastlos produktiven und ambitionierten Schriftstellers, der sich auf dem Weg zum Ruhm befindet. Der junge Kästner der Weimarer Jahre ist immer noch nicht vollständig erschlossen; er verbleibt bislang im Schatten des Kinderbuchklassikers und des Moralisten. Es ist an der Zeit, das zu ändern und ihm seine Lebendigkeit zurückzugeben. Diese Gedichte tragen dazu bei.