Die

Umarmung

des

Präsidenten


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IGK-Verlag, 7100 Neusiedl/Österreich

www.igk-verlag.com

 

 

Die Umarmung des Präsidenten

ROMAN

 

Juli 2012

Imre Kusztrich

Copyright: © 2012 IGK-Verlag

Foto: © Tormentor–fotolia.com, Engel-fotolia.com


 

INHALT

 

Prolog 5

 

1. Kapitel 20. September Donnerstag 6

 

2. Kapitel 12. September Mittwoch 14

 

3. Kapitel 12. September Mittwoch 24

 

4. Kapitel 12. September Mittwoch 30

 

5. Kapitel 14. September Freitag 38

 

6. Kapitel 14. September Freitag 43

 

7. Kapitel 14. September Freitag 47

 

8. Kapitel 14. September Freitag 50

 

9. Kapitel 14. September Freitag 55

 

10. Kapitel 14. September Freitag 61

 

11. Kapitel 14. September Freitag 65

 

12. Kapitel 15. September Samstag 68

 

13. Kapitel 15. September Samstag 73

 

14. Kapitel 15. September Samstag 83

 

15. Kapitel 15. September Samstag 91

 

16. Kapitel 16. September Sonntag 96

 

17. Kapitel 16. September Sonntag 102

 

18. Kapitel 16. September Sonntag 107

 

19. Kapitel 16. September Sonntag 113

 

20. Kapitel 16. September Sonntag 118

 

21. Kapitel 16. September Sonntag 122

 

22. Kapitel 16. September Sonntag 126

 

23. Kapitel 17. September Montag 130

 

24. Kapitel 23. September Montag 136

 

25. Kapitel 17. September Montag 140

 

26. Kapitel 18. September Dienstag 147

 

27. Kapitel 18. September Dienstag 153

 

28. Kapitel 19. September Mittwoch 160

 

29. Kapitel 20. September Donnerstag 163

 

Epilog 20. September Donnerstag 166

 


Prolog

 

Diese Schilderungen betreffen die Ereignisse vom 11. September 2001, beginnend um 5:43 Uhr, und ihre umfassenden Auswirkungen bis zum Donnerstag der Woche darauf, um 21:34 Uhr.

Nach der Rede des dreiundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten im United States Capitol nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Der Tag, der die Welt, wie wir sie kannten, verändert, führt auch zu seltsamen und unerwarteten Reaktionen einer Mitarbeiterin im 403-Köpfe-Team von George W. Bush. In ihrem Ein-Personen-Büro im West Wing des White House eine Etage unter dem Oval Office erkennt Janet McCormack alarmierende Zusammenhänge, die sie zu paralysieren drohen. In der Folge dominieren in der Männerwelt von Washington D.C. ihre Intuition, die Neugierde und der Mut. Am Ende bekennt sie sich unter Schmerzen zu dem, was zu tun ist.

Die Identität dieser Person ist eine freie Erfindung, geprägt vom Wunsch nach mehr Gewicht für den Faktor Frau in Bezug auf die Zukunft unserer Welt.

Janet McCormack ist ein schöner Traum.

Ihre Intuition, ihre Neugierde und ihr Mut sind Realität.


1. Kapitel 
20. September 
Donnerstag

 

Am heutigen Morgen, bedrückt, kraftlos, kriege ich Meister Kung nicht und nicht aus dem Kopf. Sie kennen ihn sicher – vielleicht unter einem anderen Namen: Kong Chiu, Kong Zi, Kong Fuzi, K’ung-fu-tzu oder eher latinisiert als Konfuzius. Jetzt steht ihm zu Ehren auf dem Tisch vor mir eine Tasse brühend heißen Grünen Tees. In Wahrheit ist mir eher nach Margarita zumute, während ich den Bildschirm und das Programm von CNN nicht aus den Augen lasse. Der neunte Tag nähert sich dem Abend. Von Depression und Burn-out plötzlich keine Spur mehr! Ich warte auf das Erscheinen von Laura Bush.

Vor Jahren greife ich bei Walgreens nach einem Schnäppchen: Kaufe zwei, zahle eines. Die beiden Packungen Tee finde ich tatsächlich noch in einer Ecke der Vorratskammer meiner Küche. Entgegen meiner hartnäckigen Gewohnheit erforsche ich nicht das Haltbarkeitsdatum. Ob da unter BEST BEFORE ein Zeitpunkt vor oder nach dem 20. September 2001 steht, interessiert mich diesmal ausnahmsweise nicht im Geringsten.

Mein Insiderwissen sagt mir: Margarita und die First Lady würde nach allem, was ich inzwischen über sie weiß, sogar sehr gut passen. Aber in Hinblick auf den altehrwürdigen Chinesen sind jetzt die fermentierten, getrockneten und zerriebenen Teeblätter angesagt. Allerdings werde ich nicht mein Innerstes nach außen kehren. Noch nicht. Das gilt sogar für meinen Mann. Mit ihm teile ich bis auf eine Ausnahme jedes auch nur irgendwie in Frage kommende Geheimnis. Dieses nicht. Er würde um seine Fassung ringen. Die dramatischsten Tage der Neuzeit ... und was mache ich? Ich orientiere mich hauptsächlich an einem Philosophen aus dem dritten Jahrtausend vor Christus.

„Weiß das dein Boss?“ würde er fragen.

Nein. Natürlich nicht.

Ich gestehe: Verlockend wäre es schon gewesen, sich mit George W. Bush über meine Befürchtung auszutauschen. Aber es gäbe keinen Kompromiss. Triumph oder Tragödie. Sieg oder Niederlage. Das Ergebnis wäre unkalkulierbar. Entweder er kann meine Interpretation augenblicklich uneingeschränkt akzeptieren, also: Er spürt die Wahrheit in ihr so wie ich. Oder meine Strategie verliert mit einem einzigen Wimpernschlag jede Chance auf Verwirklichung. Nur eine Fifty-Fifty-Chance, die fünfte Katastrophe abzuwenden. Das ist zu wenig.

So kennt zur Stunde nur Laura die Quelle meines Denkens und Handelns. Konfuzius. Es ist eine Art Copyright-Klau. Eines Tages werde ich meine Erlebnisse niederschreiben. Und die Welt wird urteilen: Ich bin keine Diebin. Meine Motive sind christlich. Meister Kung müsste sich freuen.

Mein Name lautet Janet McCormack. Ich bin einundvierzig Jahre alt und verheiratet. Meine Position ist auf der Gehaltsliste der mehr als vierhundert im White House Beschäftigten durchaus recht weit oben gelistet – etwa am Übergang vom mittleren zum oberen Drittel des Managements. Links steht die Summe dreiundsiebzigtausendsiebenhundertzwanzig. Rechts: Director Of Media Analyses. Fast die Hälfte meiner Kolleginnen und Kollegen verdient keine fünfzigtausend Dollar im Jahr. Gut: Die Statuten billigen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika auch nur vierhunderttausend und seinem Vize zweihundertfünftausendundeinunddreißig Dollar zu. Aber etwa siebzig Mitarbeiter in einem der prickelndsten Bürogebäude der Welt sind sage und schreibe mit tatsächlich nur dreißigtausend, beziehungsweise einunddreißigtausend eingestuft. Klangvolle Jobs! Reise-Koordinator. Korrespondenz-Analyst. Planungs-Assistent. Forschungs-Beauftragter. Wäre mein Mann nicht Professor für Nahrungszusatzstoffe an der Edison University in Ft. Myers, könnten wir uns den Bungalow 2423 SE 12TH AVE am Nordwestrand von Bonita Springs, FL, nicht leisten.

Weder mein Name, noch mein Wohnsitz sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Trotz Schreibtisch im White House zähle ich keinesfalls in irgendeiner Form zu den Glitterati.

Mit Mühe habe ich heute die Nachmittags-Maschine vom National Reagan Airport in Washington D.C. zum Flughafen South West Florida geschafft. Jetzt sind die Sicherheitsprozeduren absurd. Ich wollte, ich musste nach Hause. Wenn ich ehrlich bin, ist es fraglich, ob ich das Rückflugticket überhaupt noch benutzen werde. Der Job ist getan. Meine Pflicht ist erfüllt.

Nun befinde ich mich in dem kleineren unserer beiden Living Rooms. Mein Blick fällt über den Pool und den kurzen, mit weißen Elementen aus Plastik eingezäunten Rasen auf einen breiten Frischwasserkanal. Am anderen Ufer ragen dichte Mangrovenbüsche haushoch in den Himmel. Im Sommer verraten ab dem ersten Sonnenstrahl und auch am frühen Abend noch Schlaggeräusche und laute Stimmen, dass direkt dahinter, für uns nicht sichtbar, ein Golfplatz angelegt ist. Jetzt dringt kein Ton über den Kanal. Die Sonne ist bereits verschwunden, und selbst hartnäckige Golfer entscheiden sich in dieser historisch bedeutenden Stunde für einen Nachrichtensender anstelle ihres Golf Channels. Die seitlich angrenzenden Grundstücke sind noch unverbaut. Kein Gegenüber, keine Anrainer. So leben wir in einem paradiesischen Refugium. Die nächsten Nachbarn wohnen in Rufweite nördlich von uns, eine Deutsche und ihr amerikanischer Ehemann, von Beruf Builder, Hausbauer.

Halb liegend, mache ich es mir in unserem einzigen Fernsehstuhl mit motorgetriebenem Fußteil bequem. Für gewöhnlich nimmt mein Mann ihn in Anspruch. Er hat meinetwegen sehr einfühlsam seine letzte Vorlesung abgesagt und sitzt links von mir auf dem Sofa, in der Ecke, die eigentlich meine ist. Wir waren uns wortlos einig, welcher Sender: Es ist meine Veranstaltung, die CNN gleich vom Capitol Hill übertragen wird.

Ich frage mich: Wie viele Personen mögen wissen, was der Präsident in den folgenden Minuten verkünden wird? Ich meine: Wie viele haben berechtigten Grund, zu glauben, es zu wissen? Bewusst frage ich mich nicht, wie viele das Tatsächliche kennen, die Quintessenz. Es wäre entsetzlich, sollte ich mich da irren. Nein, ich denke konkret an diese ziemlich klar umrissene, kleine Schar der normalerweise Eingeweihten, die in den letzten Tagen unmittelbar mit der Rede befasst sind, über ihr grübeln, ihre Eckpfeiler bestimmen, ihre Substanz analysieren – und deshalb glauben, informiert zu sein. Dazu jene, die aus irgendeinem Grund ebenfalls Details daraus erfahren. Die Financial Times nennt in einem Bericht über Insider Trading eine hochinteressante Zahl. Selbst bei strenger Limitierung der Informationszugänge erfahren zum Beispiel aus in größter Geheimhaltungsstufe ablaufenden Fusionsgesprächen zweier Konzerne locker am Ende bis zu vierhundert Personen für sie nicht freigegebene Details. Ich glaube, der Artikel listet von ganz oben bis ganz unten dreizehn Kommunikationsebenen mit einem möglichen Leck auf. Eines betrifft – ob man das für wahrscheinlich hält oder nicht - die eine oder andere Stammkneipe, in der dann und wann ein Insider sich irgendwie brüstet. Tiefster Punkt: das professionelle Reinigungsteam unter Vertrag, zuständig für die Papierkörbe neben den Kopiergeräten. Ich denke, bei uns im White House ist es nicht anders.

An der heutigen Rede schreiben und feilen offiziell drei Spin Doctors und mehrere Mitglieder der Regierung Bush, ehe der Präsident mit einem schwarzen Sharpie Pen (er verwendet sie mit Tinte in den Farben Schwarz, Blau, Grün und Rot) die Endfassung redigiert. Die Commission To The President for National Security Affairs – also sein innerer Beraterkreis für Fragen der Sicherheit – umfasst weitere dreiundzwanzig Köpfe. Nicht mitgezählt der Vice President, der White House Chief of Staff und der Security Adviser in Gestalt von Dr. Condoleezza Rice und die für sie alle tätigen Teams. Dazu Ehefrauen, Sekretärinnen, die eine oder andere Geliebte. Also locker an die hundert Personen haben in dieser Stunde dem amerikanischen Volk eines voraus: Insider-Wissen über die Frage, wie die Vereinigten Staaten von Amerika nach der heute zu verkündenden Entscheidung ihres dreiundvierzigsten Präsidenten auf die Terrorakte vom 11. September reagieren werden.

Möglicherweise sind einige unter ihnen nicht auf dem Laufenden und erwarten die Sätze, die gestern erst verworfen werden: „Amerikaner haben bereits Überraschungsangriffe erlebt, aber niemals zuvor einen gegen Tausende Zivilisten. All das wurde uns an einem einzigen Tag angetan, und die Nacht brach herein über eine veränderte Welt.“

Zu literarisch für einen Mann aus Texas.

Eigentlich schade.

Die Zuschauer an den Fernsehgeräten empfinden natürlich, der Präsident spricht in erster Linie zu ihnen. Tut er ja auch. Aber in Wahrheit wendet er sich an die Legislative. Kongress und Senat in gemeinsamer Sitzung sind im politischen Sinne die wichtigsten Empfänger seiner Botschaft. Er braucht grünes Licht für seine Doktrin, seine programmatische Festlegung. Das Kabinett, die in die Hunderte gehenden Abgeordneten, Vertreter des Obersten Gerichtshofs und militärische Befehlshaber in Uniform unterstreichen jetzt auf unserem Flachbildschirm ohne Zweifel die Bedeutung des Augenblicks.

Da! In der Visitors Gallery erscheint First Lady Laura Bush. Im Schlepptau ein New Yorker Polizeioffizier, ein New Yorker Feuerwehrchef, sowie Bürgermeister Rudolph W. Giuliani und der Gouverneur des Staates New York, George E. Pataki. Die Abgeordneten springen auf und schreien „Bravo!“ – ohne dass klar ist, wen genau sie meinen.

Welches Aufatmen für mich, diese Frau zu sehen!

Ich stufe sie als das Alpha-Gehirn des Präsidenten ein. Ein Journalist, der sie wohl sehr schätzt, formuliert seine Anerkennung so: balanciert, pragmatisch, Zen. Ich gehe einen Schritt weiter. Zugegeben, es ist Wunschdenken. Diese Frau könnte seine Errettung bedeuten. Ja, Befreiung aus dem Kreis seiner Berater und Weggefährten. George W. Bush befindet sich nach nicht einmal neun Monaten Präsidentschaft wie ein Süchtiger in gefährlicher Abhängigkeit von ihnen. Es ist das Ergebnis einer raffinierten Umarmung, in der eine positive Gefühlsbindung zu Hardlinern entsteht, die eigentlich gar nicht seinem Wesen entspricht. Sonst wäre er der falsche Ehemann für diese Frau und der falsche Präsident für diese Nation. Aus Entführungen kennen Kriminologen das verblüffende Stockholm-Syndrom. Besonders raffinierte Täter agieren wohlwollend, weil sie ihr Opfer als Vermögenswert ansehen. In der Folge werden selbst kleine Zugeständnisse als große Geschenke empfunden. Es entstehen Sympathie und Dankbarkeit auf Seiten der Opfer. Ich sehe es so: George W. Bush ist dabei, die Erfahreneren, die Entschlosseneren in seinem Umfeld für unverzichtbar zu halten, ja, sie zu mögen. Allen voran den Vice President. Wer ihn aus dieser Verirrung befreien, ja, ihn entwöhnen kann, das ist in erster Linie seine Frau.

Die First Lady hat sich für einen zart-apricotfarbenen Hosenanzug entschieden. Der hochgeschlossene Kragen verleiht ihrem Outfit einen Hauch von Marineuniform. Mich besticht Mrs. Laura Bush durch eine sehr vorbildliche Körperhaltung – während zum Beispiel die Gestalt von Condoleezza Rice durch einen eigenartigen Knick ihrer Wirbelsäule geprägt ist. Das interpretiere ich fast schon symbolisch. Laura Bush erinnert mich mehr und mehr an Nancy Reagan. Jene Frau des vierzigsten Präsidenten wurde zwar mit immerhin schon neunundfünfzig Jahren First Lady, fünf Jahre älter als sie, aber beide tragen in unserer jugendwahnsinnigen Zeit die Last ihres Alters hoch erhobenen Hauptes – zu Recht.

Aber im Augenblick interessieren mich weder Kleider noch Gesten der First Lady so sehr wie der Ausdruck ihres Gesichts. Ich meine, die ziemlich glatte Haut ist ein wenig stärker von Makeup bedeckt als sonst. Heute suche ich die Seele hinter ihrem Gesicht, wie es in einem Song der deutschen Band The Scorpions heißt. Riesige Erleichterung! Ich sehe ein sehr gutes Antlitz. Damit meine ich nicht, dass ihre fünfundzwanzig willkürlich steuerbaren Gesichtsmuskeln einen guten Job machen – was sie übrigens tun. Nein. Keine Spur eines Konflikts ist zu sehen. Ich bin sehr erleichtert.

In den zurückliegenden Tagen habe ich dieser Frau einiges angetan, ich habe ihr ordentlich was zugemutet, ich habe sie enorm belastet. Ich habe sie mit gezielten Informationen in eine Position manövriert, konträr zu der ihres eigenen Ehemannes. Zu meiner großen Freude erkenne ich nicht den geringsten Hinweis auf eine Anspannung, die größer ist, als eine, die jeder ihr in diesen Augenblicken zubilligt. Und ich ahne nichts, was sie je einmal vor ihren Enkelkindern würde verbergen müssen. Und darum geht es doch, ehrlicherweise. Nicht um uns. Wir haben unser gutes Leben gelebt und leben es noch einige Jahre weiter. Es geht um die nächsten, die kommenden Generationen. Und nicht nur um die Amerikas.

Unter schwierigsten Voraussetzungen scheint die First Lady sehr gefasst zu sein. Zusätzlich beruhigt mich eine Erkenntnis: Jetzt spätestens, auf ihrem Platz im Gebäude des United States Capitol, hat sie ihr Mobile ausgeschaltet. Für mich bedeutet das: Eines der ganz wenigen, wirklich hochrangigen Zielobjekte für ein strategisches Störmanöver in letzter Sekunde – ich denke da in erster Linie an den Vice President - hat sich hier durch einen Knopfdruck in Sicherheit gebracht. Mindestens für die nächste entscheidende halbe Stunde. Perfekt.

Jetzt bittet sie eine junge Frau in ihre Nähe. Lisa Beamer. Sie ist die im siebenten Monat schwangere Witwe von Todd Beamer, einem Zweiunddreißigjährigen an Bord von Flug United Airline UAL93. Die amerikanische Nation ist stolz darauf, dass dieser Mann und weitere Passagiere versuchen, die Entführer zu überwältigen, während die riesige Boeing mit zunehmender Geschwindigkeit in Richtung Boden gesteuert wird. Neben Laura Bush nimmt auf der einen Seite Bürgermeister Giuliani Platz. Auf der anderen ist der britische Premierminister Tony Blair zu sehen. Der war gerade erst ihr Gast bei einem frühen Abendessen im White House.

Unmittelbar hinter dem für den Präsidenten am Rednerpult reservierten Standort lässt sich in normalen Zeiten sein Stellvertreter nieder. Doch das ist kein gewöhnlicher Tag. Die Administration beschließt außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen. Der Vice President befindet sich außerhalb des Gebäudes. Die Nation soll nicht ohne Führung da stehen, sollte sich ein Anschlag gegen die hier versammelte Staatsspitze der Vereinigten Staaten ereignen.

Mit wirklicher Spannung fiebere ich nun einzig und allein nur noch einem Augenblick entgegen: Wenn die Fernsehbilder zeigen, dass George W. Bush selbst wohlbehalten das Gebäude des Capitol erreicht und im Plenarsaal erscheint. Dann werde ich wissen: Kein Zwischenfall, kein Kollaps, kein – Gott behüte – terroristischer Akt wird ihn davon abhalten, die wichtigste Rede seiner Amtszeit zu halten.

Und nun ist es soweit: Dreimal stößt der Speaker den Stab in seiner Hand gegen den Marmorboden, ehe vibrierend seine Stimme ertönt: „Ladies and Gentlemen, the President of the United States of America.“

Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen - alle. Es gibt Augenblicke, die bipartisan - wie es das Establishment in Washington bezeichnet - zu sein haben: von beiden großen Parteien getragen. Dies verspricht einer zu werden. George W. Bush betritt, vom Westflügel kommend, das Auditorium. Die erste Beifallswelle des Tages überschüttet ihn.

Ich registriere auch diesen Anblick mit großer Erleichterung.

In der Sekunde, in der ich meinen Vorgesetzten, Arbeitgeber und Präsidenten erblicke, erhebe ich mich und sage sehr zur Überraschung meines Mannes: „Ich mache eine Runde mit Jingles.“

Unser Hund von mittelgroßer Statur, wohl eine Promenadenmischung, trägt den Namen eines Vierbeiners, der – dreißig Jahre vor ihm – den Nobelpreis für Medizin verdient hätte: Jingles und sein Herrchen, ein Schulpsychiater namens Dr. Boris Levinson in Springfield, Illinois, lieferten den ersten Hinweis darauf, dass es so etwas wie eine Pet Therapy gibt: Heilung mittels eines Haustiers oder, besser gesagt, durch Tierliebe. Die meisten Patienten des Dr. Levinson sind Kinder, Jungen und Mädchen im schulpflichtigen Alter, die aus unterschiedlichen Gründen Probleme mit ihrer Umwelt haben. Teils fallen sie durch Aggression auf, teils sondern sie sich ab, teils werden sie von anderen gehänselt. Manche kommen in die Praxis des Psychiaters auf Drängen ihrer Eltern, manche auf Empfehlung der Schule. Alle sind verhaltensgestört. Diese Schwierigkeiten scheinen wie weggeblasen, wenn eines dieser Kinder die Behandlungsräume des Dr. Levinson betritt und dort von Jingles mit aufgestellten Ohren und neugierigen Blicken begrüßt wird. Der Hund, den sie nie berührt oder gestreichelt haben und von dem sie nicht einmal den Namen wissen, entspannt die Situation allein durch seine Anwesenheit. Wie mailt mir neulich ein Bekannter: „Wer noch nie ein Tier geliebt hat, hat einen Teil seiner Seele noch nicht aktiviert.“

Pet Therapy! Das brauche ich jetzt auch.

Jingles begreift rascher als mein Mann und eilt in Richtung Haustüre. Ich ergreife symbolisch seine Leine und sein mit einem Knochen verziertes Halsband. Mein Mann ringt nach Worten. Jetzt? Ja.

Ich trete vor das Haus. Jingles weicht nicht von meiner Seite. Die Straße SE 12th AVE erstreckt sich links von mir etwa dreihundert und rechts von mir etwa vierhundert Meter bis zur jeweils ersten rechtwinkeligen Kurve. Wie immer entscheiden wir uns zuerst für das längere Segment. Was wir Runde nennen, ist ein Viereck, gebildet aus unserer und drei weiteren typischen Vorstadtstraßen. Keine zwei Kilometer, und ich werde wieder vor unserem Bungalow stehen.

Bis zu meiner Ankunft an der ersten Ecke werden etwa sechs Minuten verstreichen. Noch ehe ich sie erreicht haben werde, wird mein Mobile einen Anruf registrieren. Dessen bin ich mir sicher. Diese Handynummer kennt nur der allerinnerste Kreis.

Wer wird der Erste sein?

Ich setze mich in Bewegung. Mir ist bewusst: Ich komme trotz des Hin- und Hertänzelns von Jingles auf meinem Weg rascher voran als zur selben Zeit der Präsident. Die Strecke vom Seiteneingang zum Hauptpodium beträgt vielleicht ein Achtel des Straßenstückes von unserem Haus bis zur ersten Ecke. Das bedeutet jedoch nicht, dass er in weniger als einer Minute das Rednerpult erreichen wird. Sein Gang führt durch ein Spalier von Parteifreunden, Weggefährten, politischen Gegnern, tiefen Bewunderern und bissigen Kritikern. Heute ist jeder vor allem Amerikaner. Ihm streckt sich in diesen Augenblicken mit Gewissheit ein Heer von Händen entgegen. Fast jeder, selbst der abgebrühteste Politiker, und derer haben wir genug, wird versuchen, in dieser historischen Stunde den Präsidenten wenigstens für eine Hundertstelsekunde an einem seiner Arme zu erfassen, ihn zu berühren, zu drücken, hoffentlich sogar ihm die Hand zu schütteln. Er wird schnell mit beiden Händen reagieren, beidseitig die Körperkontakte annehmen und erwidern. Vielleicht wird er sich gleichzeitig aber auch fragen, ob ihm solche Zuneigung und Unterstützung in wenigen Minuten immer noch zufließen werden.

Inzwischen müsste George W. Bush über den Hauptgang an seinem Platz angekommen sein. Wenn das der Fall ist, streckt er in diesem Augenblick die Arme etwas nach vorne, um beide Seiten des Rednerpultes zu ergreifen. Nun der Dompteursblick. Ein trainierter Redner, und das wird der Präsident an seinem zweihundertvierundvierzigsten Tag im höchsten Staatsamt der Vereinigten Staaten allmählich, sammelt mit einer langsamen Drehbewegung des Kopfes von halblinks bis halbrechts noch einmal die gesamte Aufmerksamkeit des Auditoriums ein. Dann erst richtet er die Augen fest nach vorne. Es kann losgehen.

Die ersten Silben sind keinesfalls publikumswirksam. Zwar verkürzt Mr. Bush die protokollarisch vorgeschriebene Anrede auf ein Minimum, „Mr. Speaker, Mr. President Pro-tem“, eine mitreißende Rede beginnt jedoch eigentlich anders. Allerdings, um das Protokoll kann auch ein Präsident sich nicht drücken. Der Speaker of the United States Houses of Representatives ist höchster Vertreter des Repräsentantenhauses und nimmt Rang zwei der Präsidentennachfolge ein, hinter dem Vice President, sollte dem Präsidenten etwas zustoßen. Der President pro tempore of the United States Senate ist zweithöchster Amtsträger im Senat, dessen Vorsitzender für gewöhnlich der Vice President ist. Wohnt dieser wie heute einer Sitzung nicht bei, rückt der Alterspräsident des Senats an seine Stelle. Auch er ersetzt im Notfall den Präsidenten – nach dem Vice President und dem Speaker als Dritter in der Reihe. Gott behüte! Der Jetzige ist dreiundachtzig, sein Vorgänger war achtundneunzig.

Jingles wirbelt um mich herum, als befänden wir uns an einem ganz gewöhnlichen Tag auf unserer ganz gewöhnlichen Runde. Offensichtlich beflügelt die frische Brise ihn ebenso wie mich. Während ich mich an seinen lebhaften Bewegungen erfreue, zähle ich meine Schritte. Zehn. Zwanzig. Dreißig. Vierzig. Fünfzig. Sechzig. Siebzig. Nach meiner Schätzung ist der Präsident in diesem Augenblick am elften Absatz seiner Rede angelangt. Jeder einzelne emotionsgeladen, mitreißend, ohne Aggression. „Heute sind wir ein Land, wachgerüttelt für die Wahrnehmung der Gefahr und aufgerufen zur Verteidigung der Freiheit.“ Jetzt müsste es passieren: das Abweichen vom gemeinsam erarbeiteten Text.

Bereits vor seinem Einzug ins White House bescheinigt die Einstellung führender Medien Bush 43 – die Kürzel für „dreiundvierzigster Präsident“ als Abgrenzung zu seinem Vater George H. W. Bush, Bush 41 -, dass sein Vokabular mit dem seines Running Mate, des vorgeschlagenen Stellvertreters, nicht Schritt halten kann. Die knappste Formel lautet damals: „Er ist darauf angewiesen, dass Cheney für ihn spricht.“

Seit seiner Vereidigung am 20. Januar dieses Jahres hat sich wenig ereignet, was diese Einschätzung widerlegt hätte. Gerade die zentralen Absätze Nummer dreizehn und vierzehn im Manuskript seiner heutigen Rede werden von seinem Vizepräsidenten präzisiert, formuliert und in das Konzept eingebracht. Wenn einer deren knallharte Aussage, wie in Marmor gemeißelt, vor Augen hat und stolzerfüllt und befriedigt darauf wartet, sie jetzt in diesem historisch bedeutenden Kontext zu hören, dann natürlich genau diese Person: Richard Bruce „Dick“ Cheney.

Die nächsten Sekunden werden zeigen: Ist in der Tat er es, der am schnellsten darauf reagiert, dass der Präsident, mit welcher Absicht auch immer, enorm wegweisende Sätze abändert und andere ersatzlos unausgesprochen lässt? Oder wird es jemand anders sein?

Tatsächlich. Das Mobile registriert einen Anruf. Ich melde mich unverzüglich, wirklich ohne erst lange auf das Monochrom-Display zu schauen.

„Janet McCormack.“

„Haben Sie eine Erklärung für mich?“

Ich bewerte mit Erleichterung: Gegen Ende eines anstrengenden Tages, am Abschluss einer stressigen Zeitspanne, die mir alles abverlangt, bin ich erstaunlicherweise hell wach. Blitzschnell taxiere ich die bewusste Wortwahl des Anrufers - was er sagt und was nicht. Der Vice President nennt nicht seinen Namen. Mir wiederum genügt seine unverwechselbare Stimme. Der Zeitpunkt seines Anrufs macht sofort klar: Ich bin die Erste, der er diese Frage stellt. Vermutlich auch die Einzige. Cheney macht keine Rundrufe. Er ist fit genug, konkret bei mir die ihm fehlende Information zu orten. Er soll sie bekommen.

Noch nicht lange her, hätte ich meine Antwort gewiss mit einem gestreckten „Ja“ begonnen. Ich empfand das immer schon für mich selbst als affirmativ. Es schenkt einem auch eine halbe Sekunde weitere Bedenkzeit. „Ja“, Komma, Pause, und dann die dazu passende Sachaussage. Ich bekenne heute: Die überlegte, raffinierte Rhetorik im inneren Kreis des Präsidenten hat mich geschult, verändert, verbessert. Ziemlich genau seit fünf Jahren bin ich dabei. Besonders der jetzige Vice President darf diesbezüglich einen nennenswerten Einfluss auf mich in Anspruch nehmen. Zur Belohnung muss er nicht erst ein Füllwort wie ah, yes, also über sich ergehen lassen.

Ich habe mich strikt darauf getrimmt: Nicht darum herum reden – statt Ja oder Nein gleich die Antwort. Also konkret: Die Antwort ist das Ja oder das Nein. Die Worte schießen aus mir heraus.

„Der Präsident muss vor der Nation Rechenschaft ablegen. Nicht vor Ihnen.“

Ohne seine Reaktion abzuwarten, lasse ich die Hand mit dem Mobile sinken und schalte ich das Gerät aus. Das ist unhöflich, aber verstößt nicht gegen irgendein Gesetz.

Ich versuche, mich wieder auf Jingles zu konzentrieren. Wie herrlich unbeschwert er in den angrenzenden Büschen nach Racoons schnuppert! Da dringen von weit hinter mir einige Silben an mein Ohr. Entfernt klingen sie wie „Janet, Janet“. Ich drehe mich um und sehe meinen Mann, heftig gestikulierend auf der Straße. Halb steht er vor dem Haus, halb zieht es ihn gleichzeitig zurück vor den Bildschirm. Der Hund hat bereits reagiert und trabt in wildem Lauf zurück. Mir bleibt kaum etwas anderes übrig, als es ihm gleich zu tun, nicht ganz so schnell.

Außer Atem lege ich die überschaubare Wegstrecke zurück, während mein Mann noch „Komm, das musst du dir ansehen“ ruft. Ehe ich ihn erreiche, verschwindet er schon im Haus. Die Übertragung muss wirklich fesseln!

Ich entscheide mich noch für einige Augenblicke mehr Alleinsein, Einsamkeit. Kürzlich sah ich eine mitreißende Dokumentation des Spaceshuttle-Fluges STS-51L, der in einer nationalen Tragödie endete. Am 28. Januar 1986 explodierte Orbiter Challenger 74,587 Sekunden nach der Zündung der Hauptriebwerke und riss einen wahren Liebling der Nation, die Lehrerin Christa McAuliff, und ihre sechs Astronautenkollegen in den Tod. Auch wir in Bonita Springs haben eine Straße, die nach ihr benannt ist. Die Aufzeichnungen der Kameras und der Datenschreiber des Space Shuttle faszinierten mich. Sie erlauben die lückenlose Rekonstruktion der Katastrophe.

0,678 Sekunden: erster bestätigter Rauch an der unteren Ringdichtung des rechten externen Treibstofftanks.

0,836 bis 2,500 Sekunden: achtmaliger Rauchaustritt.

36,990 Sekunden: unkontrollierte erste Seitwärtsdrehung der Challenger.

58,788 Sekunden: erste Flammen am Außentank.

60,238 Sekunden: ungewöhnliche Ausformung einer Rauchwolke des Haupttriebwerks.

72,525 Sekunden: größte Querbeschleunigung des Raumfahrzeuges.

73,191 Sekunden: Blitz zwischen Orbiter und dem Haupttank.

73,618 Sekunden: letzte telemetrische Messung vom Raumschiff übermittelt.

74,587 Sekunden: greller Blitz nahe der Orbiter-Spitze.

Ich denke: Irgendwann werden Historiker auch diese Rede des dreiundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in Sekundensegmente zerlegen, sie analysieren und bewerten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie alle zu einem Urteil gelangen werden, das mit meiner Interpretation identisch sein wird. Oder muss ich sagen: mit der von Konfuzius?

Sogar ich selbst habe mehr gebraucht als diese Videoaufnahme von einem Schullehrer in Florida, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Die konnte ich noch als ... na, ja, seltsam ... abspeichern. Aber in der Folge führte mich die Quintessenz schmerzlichster Erkenntnisse unausweichlich auf meinen Trip. Die quinta essentia, das fünfte Element – Aristoteles bezeichnete damit neben Erde, Wasser, Feuer und Luft den Äther, das Nicht-Greifbare, das Geheimwissen. Für Konfuzius war es vielleicht Ahnung, Intuition. Aus Einem mache ich aber kein Geheimnis: Es dauerte bloß Stunden, bis ich begann, das Verhalten der Administration und die Reaktionen von George W. Bush auf die Einschläge der beiden Verkehrsflugzeuge in das World Trade Center und das Verhalten seiner Administration in Bezug auf die Entsetzlichkeiten von 9/11 für den wahren Schicksalsschlag zu halten. Die fünfte Katastrophe. Amerika wird an diesem Tag von vier entsetzlichen Terroranschlägen mit ihren Tausenden unschuldigen Opfern gezeichnet – aber die Summe aller Auswirkungen danach wird bei Weitem alles in den Schatten stellen, und sie wird bleiben. Die Weitsichtigsten, Mutigsten unter den Historikern wagen bereits die Prognose: Dieser Präsident wird durch seine ihm entsprechenden und gerade von ihm zu erwartenden Überreaktionen auf 9/11 den Vereinigten Staaten größeren Schaden zufügen als Osama Bin Laden. Möglicherweise haben seine Gegner – wer auch immer – das cool einkalkuliert.

Das White House votiert für Krieg. Die Bevölkerung erwartet das. Die emotionalen Voraussetzungen sind optimal.

Sie waren es nie in Bezug auf den Vietnamkrieg. Nicht vielleicht weil fast sechzigtausend Amerikaner fallen, mehr als sechzigtausend traumatisiert Selbstmord begehen, mehr als vierzigtausend heroinabhängig werden und rund dreihunderttausend straffällig hinter Gittern landen. Nein, die Amerikaner sind ein mutiges Volk und stellen sich der Verantwortung. Der Stellvertreterkrieg im vietnamesischen Dschungel wird von der Mehrheit nicht verstanden und nicht mitgetragen, weil es kein Pearl Harbour und keinen 11. September gibt.

Diesbezüglich haben George W. Bush und Richard „Dick“ Cheney heute optimale Karten. Da habe ich keine Zweifel.

Da sind wir beim Thema: Meinungen, Stimmungen, Strömungen festmachen. Das ist mein Job. Es Analyse zu nennen, ist eine raffinierte Untertreibung. Irgendetwas zu begreifen, reicht nämlich nicht. Mit dem Erkennen fängt Alles erst an.

Vom ersten Tag an ist die Amtsführung von George W. Bush auf Wiederwahl angelegt. Historikern muss ich das nicht erklären. Da geht es nicht um Eitelkeit. Auch den Hals nicht voll zu kriegen, wäre der falsche Vorwurf. Die Geschichte stimmt auf erstaunliche Weise mit dem Urteil der Wählerinnen und Wähler überein. Die Vereinigten Staaten blicken unter den bisher dreiundvierzig Präsidenten nur auf neun sehr große und neun fast große zurück. Jeder einzelne von ihnen diente zwei Amtszeiten. Einen Einmal-Präsident kann man praktisch vergessen. Das ist die große Schmach des George H. W. Bush! Ihn, den Vater, muss unser heutiger Präsident in jedem Fall übertreffen! Ein einziger nur einmal Gewählter mit dem längst vergessenen Namen James K. Polk bekommt exzellente Noten. Aber er ist eine Ausnahme. Als er 1844 nominiert wird, verspricht er, sich mit einer einzigen Regierungszeit zu begnügen. Im Gegenzug gilt ein einziger Doppel-Präsident dennoch als Fehlgriff: Ulysses S. Grant. Wegen des Booms durch den Bau der Eisenbahn wiedergewählt, verstrickt er sich in einen riesigen Finanzskandal.

George W. Bush will vor der Geschichte besser dastehen als sein abgewählter Vater. Deshalb lautet der bedingungslose Auftrag an uns alle: Wir müssen Trends verstärken, die dem White House willkommen sind. Wir müssen sie im Keim ersticken, aus der Welt schaffen, wenn sie stören. Und zuallererst müssen wir sie orten. Genau da komme ich ins Spiel. Ich analysiere Berichte in den Medien, hilfreiche wie Besorgnis erregende. Attacken politischer Gegner, Kommentare von Parteifreunden, Diskussionen im Web, Aktivitäten von Nicht-Regierungs-Organisationen, Non Governmental Organisations, NGOs, genannt, Polit-Aktionen bestimmter Einzelgänger und so weiter und so weiter. Und nebenbei versuche ich auch noch herauszufinden, was die restlichen zweihundertfünfundachtzig Millionen meiner Landsleute von Bush 43, von seinen Reden, von seiner Amtsführung, von dem, was er tut, und von dem, was er unterlässt, in Wahrheit halten.

Eine spannende Aufgabe. Auch eine Gratwanderung. Denn in einem Punkt gibt mein Gewissen mich nicht frei: Keine Wahl ist es wert, gewonnen zu werden, wenn der Sieg das Opfer von Prinzipien verlangt.

In diesem Sinne sind von den zurückliegenden neun Tagen mindestens achteinhalb für mich ein Albtraum. Aber vielleicht geht er ja in wenigen Minuten zu Ende.

Ich werde sehen.


2. Kapitel 
12. September 
Mittwoch

 

Zwanzig Meilen nordöstlich der Bundeshauptstadt, auf dem Highway Baltimore-Washington D.C., passiere ich täglich eine für die Allgemeinheit gesperrte Ausfahrt. Heute nach den schrecklichen Vorfällen natürlich mit gemischten Gefühlen. Hat hier wirklich niemand etwas gewusst? Die Abfahrt ist mit „NSA Employees Only“ markiert – nur für Beschäftigte der N.S.A. Hier liegt das Hauptquartier der National Security Agency. Es ist der mit achtunddreißigtausend Mitarbeitern größte und am besten ausgestattete Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten, zuständig für die weltweite Überwachung und Entschlüsselung elektronischer Kommunikation: Emails, SMS, Telefonüberwachung, finanzielle Transaktionen, Reisedaten. Und keiner von ihnen hat den 11. September vorhergesehen.

Die N.S.A. ist Teil des Verteidigungsministeriums. Sie betreibt im Internet ein eigenes geschlossenes Nachrichtensystem, ein Intranet mit dem Namen Webworld. Sie ist dem Intranet der C.I.A., Intelink, angeschlossen. Zurzeit unterstützt die N.S.A. die Entwicklung eines weiteren, mit besonders schnellen Rechnern ausgestatteten Netzwerkes, Advanced Technology Demonstration Network. Und ihre internen Emails bleiben in einem geschlossenen Kreislauf namens Enlighten.

Ich habe zu keinem davon eine Zugangsberechtigung. Aber die benötige ich auch nicht. Ich kenne inzwischen eine Reihe von Links und Reizworten, die mich mühelos und legal wenigstens auf Nebenschauplätze der großen Spiele um Macht und Einfluss bringen.

Was ich entdecke, ist oft so spannend, dass ich gerne einräume: Ja, in gewissem Sinne bezeichne ich mich als nachrichtensüchtig. Ein Leben ohne Klick auf meine Internet-Favoriten möchte ich mir im Augenblick nicht ausmalen.

Heute nehme ich ungewöhnlich früh, gegen 6:10 Uhr, am Schreibtisch in meinem eigenen Elf-Quadratmeter-Office Platz, im Erdgeschoss des Westflügels in unmittelbarer Nähe unserer Nachrichtenzentrale, des Situation Room und des Secret Service-Teams.

Hier bin ich Insider. Die Ereignisse gestern erlebe ich im Grunde wie jeder andere amerikanische Bürger. In den Minuten nach dem zweiten Einschlag in das World Trade Center, zwischen 9:25 und 9:45 Uhr, werden fast alle Büros im White House aus Sicherheitsgründen evakuiert. Im Sieben-Sekunden-Takt zeigt auf den Bildschirmen der Fluglotsen ein grün blinkendes Radarsignal das Annähern eines nicht identifizierten Flugzeuges an die Bundeshauptstadt. Anfangs wird uns ein geordneter Rückzug empfohlen. Dann werden wir mit Schreien aufgefordert, über die Pennsylvania Avenue in den angrenzenden Lafayette Park zu rennen. Wir Frauen sollen die Schuhe ausziehen. Jeder muss seine White House-Foto-ID von der Kleidung entfernen – Vorsichtsmaßnahme in Bezug auf Scharfschützen.

Danach sitze ich daheim in meiner kleinen Wohnung und verfolge die Geschehnisse auf CNN, CBS, Fox TV und Bloomberg. Zuhause ist Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit eingeschränktem Zugang wie mir das Anklicken unserer amtlichen Webseiten untersagt. Ich weiß also in diesen wahnsinnig dramatischen Stunden nicht mehr als jeder andere. Die Attentate entsetzen mich, sie lassen mich um Antworten ringen, sie machen mich ratlos.

Einziger Unterschied, natürlich: Den Personen, deren Sachverstand jetzt zählt, bin ich schon mal auf dem Flur, im Lift, in der Offiziersmesse, in der Tiefgarage und dem Einen oder Anderen bei unserem Friseur begegnet. Cheney, Powell, Rice, Clark, Rumsfeld und natürlich Ari Fleischer, der Pressesprecher. Allerdings schoss mir dabei nach dem zweiten Crash sofort ein Insidergedanke durch den Kopf: Na, prima! Dafür haben wir ja rechtzeitig den passenden Vice President gekriegt. Ich glaube nicht, dass ich in der Clinton-Ära in einem solchen Augenblick ähnlich kritisch an den kontrollierten Al Gore gedacht hätte. Der Präsident ist es, der prinzipiell die Richtlinien bestimmt. Aber das seltsame Innenverhältnis Bush-Cheney regelt diese Dinge ein bisschen anders. Der Vice President war schon mal ein sehr gefrusteter Verteidigungsminister und hat in martialischen Belangen noch eine Rechnung offen.

Heute ist alles schon wieder fast normal. Aber natürlich kann ich sofort nach dem Erwachen die Rückkehr an meinen Schreibtisch im White House kaum erwarten. Ich vermute, die Arbeit erfüllt in meinem Leben eine besondere Funktion, von der mein Mann nicht geringste Ahnung hat. Ich habe deshalb kein schlechtes Gewissen. Der Job läuft in einer eigenen Kategorie. Unter den Menschen ist mir keiner so wichtig wie er.

Ich vermute, wie ich bin, wer ich bin und was ich bin, sind die Auswirkungen einer Verhaltensstörung. Ob ich nur anders bin oder vielleicht sogar schon krank, kann ich bei bestem Willen nicht sagen. Ich glaube, ich habe das Asperger-Syndrom.

Ganz bewusst sage ich nicht: Ich leide. Eher müsste ich bekennen: Unterm Strich profitiere ich meiner Meinung nach sogar davon. Ich glaube, diese Besonderheit hat mich zielgerichtet genau an diesen Schreibtisch im White House geführt. Auf jeden Fall ist meine persönliche Asperger-Bilanz im grünen Bereich, seit dieser Professor in mein Leben getreten ist, der mich heute so akzeptiert und liebt, wie ich bin – mein Mann. Und das, ohne zu ahnen, was ich in Bezug auf mein unleugbares Anderssein insgeheim vermute, weil ich es ihm bis heute verschweige.

Das nach einem aus Österreich stammenden Arzt, Dr. Hans Asperger, benannte besondere Entwicklungsspektrum gilt als leichte Form des Autismus. Es wird, wenn überhaupt, im Kindesalter diagnostiziert. Bei mir wird es glatt übersehen. Erst als Erwachsener fällt mir ein Ratgeberbuch, „The Handbook of Disabilities“ der Nebraska Vocational Rehabilitation Agency, in die Hände. Es enthält eine breit angelegte Analyse der unterschiedlichsten Verhaltensstörungen. Ich beginne, es zu verschlingen, so wie man die Beschreibung von Sternzeichen konsumiert. Plötzlich komme ich zu dem Kapitel „Asperger’s Syndrom“. Da wird mir bewusst: Du liest über dich!

Ich bin in diesem Moment erst einmal total geschockt und nicht im Stande, mit irgendjemandem darüber zu reden. Gleichzeitig leuchtet mir fast jeder Satz ein. Als nächstes interessiert mich die einschlägige Literatur. Erstaunlicherweise liest man fast nur über betroffene Kinder. Dabei ist man doch die viel längere Zeit seines Lebens erwachsen, ob in diesem Spektrum oder nicht. Als ich dieses Syndrom an mir diagnostiziere, habe ich bereits erfolgreich ein Studium über Informational Science an der University of Missouri, Columbia, und über Europäische Geschichte an der Southwest Missouri State University, Springfield, absolviert.

Unter Umständen weiß ich heute mehr über diese Entwicklungsstörung als so mancher Psychologe.

Schlagartig verspüre ich dank dieser Erkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes ein ganz neues Verständnis für jenen Monarchen im deutschen Königreich Bayern, Ludwig II., der fantastische Schlösser ausschließlich zur Pflege seines Alleinseins entwarf und errichten ließ. Die Untertanen wurden ausgesperrt. Der Blick des Volkes, glaubte er, würde die Kultstätten entweihen, besudeln. Ich meine, es gab sogar sein Vermächtnis, die Bauwerke nach seinem Tod in die Luft zu sprengen – wozu es nicht kam, da er rechtzeitig entmündigt wurde. Meine Vermutung: Asperger im fortgeschrittenen Stadium.

Es gibt sicherlich mehr Menschen mit diesem Syndrom, als wir glauben. Sie lernen früh, sich zu maskieren. Das hat damit zu tun, dass ihnen erst völlig der Wunsch fehlt, Beziehungen herzustellen, und später, wenn sie es wollen, die Fähigkeit dazu. Betroffene zeigen nach außen hin in der Regel nicht die geringsten Anzeichen einer Behinderung. Im Gegenteil: Sie kompensieren sie mit dem, was die Wissenschaft Inselbegabungen nennt. Ich zum Beispiel blühe auf, wenn ich allein bin, wenn man mich in Ruhe meine Interessen verfolgen lässt. Bei mir ist es der Umgang mit dem gedruckten Wort, mit dem Computer, mit der Grenzenlosigkeit des Internets. Ich glaube, da bin ich unschlagbar.

Dennoch ist es nicht leicht, mit diesem Verhalten akzeptiert und geschätzt zu werden. Den anderen erscheinen diese Menschen als seltsam, exzentrisch, abweisend. Nonverbale Kommunikation – von der natürlich kein Kind weiß, das sie so heißt – verstehen sie schlicht nicht. Erst rückblickend erkenne ich: Weil ich Blicke, Gesten, Zeichen nicht durchschauen, nicht dekodieren will und kann, ecke ich oft an. Umso mehr ziehe ich mich zurück. Erst heute ist mir bewusst, dass ich selbst auf normale Fragen mit Schweigen reagieren kann – mir ist einfach danach.

Bei Jungen wird das Asperger-Syndrom etwa zehnmal häufiger erkannt als bei Mädchen. Vermutlich zeigen sie ihre sozialen Defizite auffälliger. Die Literatur attestiert ihnen eine größere Bereitschaft, den Unterricht zu stören, oder zu Aggressivität, wenn sie frustriert oder gestresst sind. Therapeuten empfehlen in solchen Fällen – im Ernst – eine „konstruktive Zerstörung“, bei der leere Getränkedosen zertrümmert oder Telefonbücher zerrissen werden. Gottlob, so weit kommt es bei mir nie. Aber generell gilt auch für mich, dass ich mit mir auferlegten festen Regeln meine Probleme habe.

Asperger-Mädchen werden auch gerne als unreif eingestuft, statt als seltsam, weshalb weder meine Eltern, noch meine Lehrer sich meinetwegen irgendwelche Gedanken machten. Warum auch? Anscheinend bestand kein Grund zur Sorge. In allen schriftlichen Belangen bin ich exzellent, stets besser als in jeder mündlichen Ausdrucksart.

Ich leide als Kind still, ohne zu ahnen, dass eine Krankheit mein Verhalten mitprägt. Ich habe kaum Freunde, und das ist bis heute so geblieben. Mit dem üblichen Umgang der Mitschüler untereinander kann ich wenig anfangen. In den Pausen bin ich lieber für mich. Als wir heranwachsen, wechselt das Interesse meiner Gleichaltrigen zu romantischen Flirts, zu Gefühlen und Erfahrungen auf den Rücksitzen von Autos. Darüber zu reden, hätte ich ja noch akzeptiert. Mitmachen, körperliche Intimität – für mich undenkbar! Gleichzeitig sehne ich mich nach Lob, nach Erfolg im Wettbewerb, nach Anerkennung. Meine Einstellung maskiere ich mit einem stetigen Lächeln. Dahinter wachsen Angst und Selbstzweifel. Als Teenager erlebe ich das Fehlen von Freundschaft oft mit Traurigkeit. Dabei stelle ich fest: Jede größere Ansammlung von Menschen empfinde ich als unerträglich. Allein schon der angestiegene Geräuschpegel! Die starken, unterschiedlichen Gerüche, ob es sich um Steaks vom Holzkohlengrill, zu Weihnachten um Zimt oder um eine Übertreibung mit Parfüm handelt, fordern meine gesamte Beherrschung. Noch schlimmer empfinde ich heute Zusammenkünfte mit der Familie, mit nicht endenwollenden Umarmungen, mit Auf-den-Rücken-Klopfen und anderen Stresssituationen für meine fünf Sinne.

Ich habe so meine Gedanken, warum sich dieses Verhalten bloß bei mir so ausprägt und bei meinen beiden älteren Geschwistern, einer Schwester und einem Bruder, nicht. Ich finde drei Erklärungen, ohne sie in eine Rangfolge zu bringen.

Bei einer Reihe von Menschen mit dem Asperger-Syndrom fällt eine ungewöhnlich kurze Geburtsspanne zum davor geborenen Geschwisterkind auf, bei mir elf Monate und sieben Tage.

rwertigkeit gleichzeitig einenAnflug von Überwertigkeit zu entwickeln. Kein leichter Spagat!

Ja, und im Alter von fünfunddreißig Jahren ergibt es sich, dass ich auf den wohl einzigen Menschen auf dieser Welt stoße, der meine Zurückhaltung, meine Abneigung gegen Änderungen und mein Festhalten an Prinzipien als liebenswert und anziehend empfand … und, nun, heute ist er mein Mann.

Wie auch immer – hier in Washington vermeide ich so gut es geht die ganze Palette der normalen Elemente des sozialen Umgangs. Zum Beispiel Händeschütteln, und Körperkontakt überhaupt. Bei unseren Meetings hier im White House habe ich die panische Angst, ich könnte eine Hand auf meiner Schulter spüren – unerträglich! Zum Glück passiert das praktisch nie, weil ich als sonderbar, als schwierig, als exzentrisch, als undurchschaubar, als schüchtern gelte. Dabei hilft mir, dass ich durch hohe Schauspielkunst nach außen hin eine brauchbare Fassade aufrecht erhalten kann.

Mit meiner Bilanz bin ich voll im Reinen. Ich mag gewisse Einschränkungen in den sichtbaren Verhaltensbereichen haben, die ich aber mit Sicherheit durch echte Empathie, durch Mitgefühl, mehr als wett mache. Und: Ich weiß mich mit überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet. Meist wird das Asperger-Syndrom von außergewöhnlichen Potentialen im Kopf überdeckt, und das trifft auf mich definitiv zu. Meine Fähigkeit zu sprechen entwickelt sich spät, aber nie zu voller Blüte, während Lesen, Schreiben und Suchen auf höchstem Niveau ablaufen. Der Beruf einer Medien-Analytikerin könnte für mich erfunden werden. Auf jeden Fall denkt sich der Chief of Staff unseres zweiundvierzigsten Präsidenten William Bill Jefferson Clinton genau diese Aufgabe für mich aus. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein, obwohl mich in den schweren Stunden der letzten Tage diese Berufung fast an die Grenzen meiner Leistungskraft bringt.

Als Erstes interessieren mich jetzt wie immer meine eigenen professionellen Zugänge. Allen voran sind es die Meldungen im White House Intranet – nur für den inneren Kreis der in der Administration Beschäftigten. Eingeführt wird diese Info-Plattform nüchtern als eine Art langweiliges elektronisches Schwarzes Brett: Terminkalender, Konferenztermine, Mitteilungen. Bald tauchen zum besseren Verständnis die ersten Anhänge auf: Arbeitsunterlagen, Agenda der bevorstehenden Meetings, Protokolle – und inzwischen ist unser Intranet eine ausufernde Informationsquelle, die vermutlich keiner mehr überblickt. Gut für mich.