Depression? Burn-out?

Bluthochdruck?

 

Dreimal täglich streicheln

 

Von Imre Kusztrich


Impressum

 

IGK-Verlag, 7100 Neusiedl/Österreich

Depression, Burn-out, Bluthochdruck?

Dreimal täglich streicheln

Oktober 2011

Copyright: © 2011 Imre Kusztrich

Fotos: Michael Pettigrew-fotolia.com, Eric Isselée-fotolia.com, Engel-fotolia.com


EINFÜHRUNG

 

Eine Braunbärin, ihr Wärter und

unsere Liebe zum Tier

 

Es war an einem heißen Septembertag des Jahres 1992, als dann auch das letzte Lebewesen im Zoo der umlagerten Stadt Sarajewo starb. Eine Braunbärin.

Alle anderen Tiere verendeten schon lange vor ihr. Für deren Betreuer war die Arbeit im Zoo zu gefährlich geworden. Von einer Villa auf dem Hügel oberhalb nahmen Scharfschützen sie unter Feuer. Es war jedem klar, dass es für ihre Schützlinge im Zoo keine Hoffnung gab. Nachdem ein Tierwärter erschossen und einige andere verwundet worden waren, blieben die übrigen zu Hause. Vorher öffneten sie die Türen der Gehege und schenkten den Tieren eine fragwürdige Freiheit. Für die meisten bedeutete auch das den sicheren Tod. Die Bärin war selbst dafür schon zu schwach.

In dieser Situation ereignete sich Tag für Tag etwas ziemlich Sinnloses: Trotz der Gefahren kämpfte sich ihr Wärter zum Tiergarten durch. Unter Lebensgefahr brachte er ihr vielleicht einen Apfel oder ein Stück Brot. Daheim ließ er eine Familie zurück, die selbst nichts zu essen hatte. Möglicherweise musste er sich dafür noch Vorwürfe anhören.

Was veranlasste diesen Menschen zu dem Wahnsinn, ein sterbendes Tier noch einmal zu streicheln? In der Hölle von Sarajewo handelte er gegen seine Überlebenschance, weil eine innere Stimme es ihm diktierte. Er erfüllte einen Vertrag, der in der Geburtsstunde der Menschheit geschlossen wurde.

Wenn wir sagen: Das ist Tierliebe, dann stimmt das nicht ganz. Diesen Menschen, der sich bis zu ihrem letzten Herzschlag für die Bärin verantwortlich fühlte, hat viel, viel mehr angetrieben. Was genau - damit befassen wir uns viel zu selten. Wie dieses Mysterium in unser Leben kam, welchen Weg es nahm und welche Bedeutung es heute für uns hat, davon handelt dieses Buch.

Haben Tiere eine Seele? Ein Bewusstsein? Eine Intelligenz? Bis vor etwa fünfzig Jahren war es verpönt, wissenschaftlich zu fragen, was ein Tier denkt oder fühlt. Das Meinungsklima in der Wissenschaft bewirkte eine Art Gehirnwäsche. Jedoch haben Fragen nach dem tierlichen Bewusstsein die Menschen immer schon gefesselt. Sie verlockten Forscher dazu, in ihre Haut zu schlüpfen und sich vorzustellen, wie ihr Leben sein mag. „Wie fühlt man sich als Fledermaus?“ betitelte 1974 der Philosoph Thomas Nagel einen Artikel über die damals mutige These, dass Tiere offensichtlich ebenso wie wir mit Gedanken und Vernunft ausgestattet sind. Manche stoßen zum Beispiel einen Alarmruf aus, während keinerlei Gefahr droht, um andere Tiere von einem Futterbrocken zu verschrecken.

Aus dem Leben der Tiere um uns herum sind viele Situationen eines wahrscheinlichen Denkens verschwunden. Wetterschutz, Futter und Wasser stellen keine Herausforderungen mehr dar. Wir können an ihnen nicht studieren, wie sie besorgen, was sie brauchen, und meiden, was sie in Gefahr bringt oder tötet.

Viele glauben heute noch, die Suche nach bewusstem Verhalten bei Tieren sei wertlos. Sie wird immer noch wie ein Spaziergang auf einem intellektuellen Drahtseil empfunden. Da liefern uns Erkenntnisse aus den DNA-Analysen von Erbgutmolekülen Hinweise, die uns beschämen könnten…

Während sie auf uns einwirken, prägt der amerikanische Begriff für das Zwitschern und Piepsen von Vögeln, Twitter, eines der erfolgreichsten sozialen Netzwerke („chirps of birds“, wie der Gründer im März 2006 bekannte). Noch ist es nicht zu spät, sich die Ansicht des britischen Biologen S. S. Kety zu eigen zu machen: „Die Natur ist eine schwer zu erjagende Beute, und es ist höchst unklug, sich mit einem geschlossenen Auge und einem gefesselten Fuß an die Verfolgung zu machen.“

Das könnte uns daran erinnern, dass ein Teil unserer Seele unaktiviert bleibt, solange es Tierliebe in unserem Leben nicht gibt.


VORWORT

 

Zum Glück kann der Hund diese Fragen nicht lesen: Weshalb hat es so lange gedauert? Wie konnte das größte Geschenk des uns liebsten Tieres bis heute verborgen bleiben? Noch schmerzlicher: Warum versagte unsere Intuition? Wieso bedurfte es der Werkzeuge modernster Wissenschaft? Die Antworten könnten uns Schmerzen bereiten. Wenigstens sind wir in bester Gesellschaft: Auch der Nobelpreisträger Konrad Lorenz hat geirrt.

Der große Tier-Versteher glaubte: Wir, die Krone der Schöpfung, haben uns dieses Tier ausgeguckt und in ihm unseren vierbeinigen Liebling Nummer eins gesehen. Aber das ist falsch. In Wahrheit sind nicht wir die Schöpfer dieser Freundschaft. Wir wären dazu damals, in der Geburtsstunde der Tierliebe, auch nicht im Stande dazu gewesen. Was wir allerdings für uns reklamieren dürfen, ist: Der Mensch hat dem Hund im Laufe der Evolution so viele gute Eigenschaften angezüchtet, dass am Ende ein besseres Wesen als er selbst herauskam.

Nicht wir haben unseren treuesten Gefährten entdeckt und durch kluge Dressur in unser Herzstück verwandelt. Er wollte es so! Der Hund war es, der den Menschen zum Freund wählte. Er verzichtete darauf, diesen seltsamen Zweibeiner zu fürchten und zu jagen. Er war es, der die Lücke erkannte, die es in unserer Welt vor rund 6.500 Generationen für ihn gab. Er war es, der sich mit großartigen Fähigkeiten einbrachte. Er war es, der unbedingt akzeptiert werden wollte. Und er war es, der in der Nähe zu den Menschen das viel bessere Schicksal witterte als seine Artgenossen, die weiter wie Wölfe in Rudeln lebten.

Für dieses Ziel überwand der vierbeinige Begleiter die künstlichen Grenzen des Menschen zur übrigen Schöpfung. Dazu bedurfte es eines schier unerschöpflichen Reservoirs an Instinkt oder Weitsicht. Die Menschen der Urzeit betrachteten wohl die Tiere, selbst wenn sie ihnen nachstellten, als gleichwertige Wesen. Sie hatten keine Macht über sie. Gnädig gestimmte Gottheiten entschieden über Erfolg. Sie jagten einander – aber auch miteinander. Mal begnügte sich der eine, mal der andere mit Resten der Beute. Es war der Hund, der die Unterwerfung wählte. Ob seine eigene oder gar unsere, darüber diskutieren Wissenschaftler noch ...

Alles begann weit, weit vor der Blüte des menschlichen Geistes.

Es ist die Gen-Wissenschaft, die uns jetzt an den wahren Beginn dieses Mythos führt. An den Übergang vom wilden zum zahm gewordenen Tier. Bereits vor 100.000 und mehr Jahren, vielleicht gar vor 135.000 oder 140.000 Jahren, hat der erste Wolf das Rudel verlassen und die Nähe von Menschen gewählt.

Vielleicht waren Jagdabfälle nur der Anlass. In Wahrheit ging es um sehr viel mehr. Das Tier begriff. Es hatte reges Interesse an der anderen Lebensform und strebte danach, sich einzubringen. Möglicherweise empfing es mit seinen Antennen bereits Hinweise auf die Zärtlichkeit, zu der wir Menschen fähig sein können.

 

Hundeartige der Urzeit erkannten das Potenzial.

 

Sie begriffen ohne Worte.

 

Sie unternahmen den ersten Schritt.

 

Sie wählten die Leitfigur.

 

Sie akzeptierten Nähe.

 

Sie verwandelten sich selbst in
ideale Gefährten des Menschen.

 

Sie ersehnten Streicheln und Tätscheln.

 

Sie suchten Liebe.

 

Sie gaben Liebe.

 

Ja, Liebe ist nicht zu hoch gegriffen. Lorenz sprach es aus: „Der Hund liebt“. Instinktive Freundschaft war ihm zu wenig.

Für diese Liebe trennte sich der Hund vom Verlauf seines Schicksals. Er verließ die streng geordnete Welt des Rudels. Die Zuneigung des Menschen wurde zu seinem höchsten Gut. Ihr ordnete er alles, fast alles unter. Was immer er beitragen konnte, um sie zu erringen – er tat es. Dieses Ziel ist geblieben. Es befähigt ihn heute zu Leistungen, die auch in der Tierwelt ohne Beispiel sind. Einzig der Hund ist im Stande, einen Fingerzeig des Menschen zu verstehen oder gar einen einzelnen Blick. Manchesmal genügt sogar ein Gedanke ...

Der Hund war der erste in einer langen Reihe. Katze, Rind, Pferd, Kaninchen, Hamster – sie alle erlebten es erst sehr viel später.

Bücher über diese unvergleichliche Freundschaft füllen bereits Bibliotheken. Doch erst jetzt ermessen wir den Anteil, den der erste Vierbeiner selbst in Wahrheit daran hat. Möglicherweise hat der Urmensch es ihm nicht leicht gemacht. Hat nicht den Nutzen und schon gar nicht die Gefühle erkannt, hat ihn verjagt, getötet wegen Eigenschaften, die ihm nicht gefielen. Der Hund ließ nicht locker, blieb, passte sich an, so intelligent, dass er sogar einen Nobelpreisträger täuschte. Heute wissen wir es besser. Es gebührt, danke zu sagen.


Teil 1: DIE QUELLE

 

Geburt der Tierliebe

 

Stärker werden sich die Nebel der Urzeit nicht lichten. Wir sehen Landraubtiere. Hetzende Beutefänger. Wölfe. Mit dem Leittier sind sie zu fünft. Ihr Fell zeigt das Gelblichbraun des Ingwers und reflektiert Farbtöne der Landschaft. In lockerer Formation folgen sie den Spuren von Antilopen. Ein Spürwolf ist weit vorausgeeilt. Hoch am Himmel kreisen Raben über der Herde – eine kleine Hilfestellung, geeignet, das Überleben der Beutejäger und ihrer Abfallschmarotzer zu erleichtern. Die Wölfe haben bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Die Witterung wird stärker und stärker. Sobald sie sich mit ihrem Späher vereinigen, beginnt der Kampf. Sie werden die Gruppe angreifen und in die Flucht jagen. Dabei werden sie erkennen, ob ein Tier schwächer ist als die anderen. Sie werden es abdrängen und attackieren. Das Wittern dieser Chance weist jedem Einzelnen von ihnen in jedem Augenblick eine besondere Aufgabe zu. Das bedingungslose Zusammenwirken ihrer Fähigkeiten vergrößert die Aussicht auf Erfolg.

Diesmal sind sie da draußen nicht allein. In weiter Ferne sehen sie Wesen halb gebückt, halb mit aufrechtem Gang. Sie weisen geringes Haarkleid auf. Es ist eine kleine Schar Zweibeiner, und sie verfolgt offensichtlich das gleiche Ziel. Die Wölfe begegnen diesen Konkurrenten mit Respekt. Diese Jäger beherrschen besondere Künste. Sie schleudern Steine. Sie schlagen mit Knüppeln. Sie stellen aus Knochen und Geweihen wirksame Waffen her. Sie legen tiefe Gräben an und verdecken sie mit Zweigen. Sie verständigen sich durch Zeichen, Schreie und Schnalzlaute. Doch weder sind sie schnell genug, noch verfügen sie offensichtlich über weit reichenden Spürsinn. Denn häufig verlieren sie die Fährte. Meistens stehen sie am Ende mit leeren Händen da.

In großem Abstand hetzen die Vierbeiner an ihnen vorbei. Vorne schließen sie zur Gruppe der Antilopen auf. Der Spähwolf hat bereits ein junges Tier ausgemacht. Sie kreisen die Herde ein und greifen an.

Bis die Zweibeiner die Stätte erreichen, ist die Jagd entschieden. Diesmal bleiben für sie wenigstens Abfälle übrig. Mit ihren geschickten Fingern und den winzigen Zähnen vermögen sie noch die winzigsten Fleischreste von den Knochen zu lösen.

Warum schlich der Hund näher, legte sich ans Feuer und blieb?

Sein Interesse an den Menschen – und nicht umgekehrt - war die größte Energie. Mit einem einzigen Tier, vermutlich, begann es: Diese Kreatur spürte den Funken. Wollte dieses Wesen nur von Fähigkeiten des Zweibeiners profitieren? Hungerte es vielleicht nach einem Gefährten? War es süchtig nach der Friedfertigkeit dieses Wesens? Ahnte es gar seinen eigenen Beitrag zum unvorstellbaren und beispiellosen Siegeslauf des Menschen voraus?

Unmöglich ist nichts.

Über die Begleitumstände dieser Annäherung haben Forscher lange gerätselt. Ihre Antworten basierten immer auf archäologischen Entdeckungen. Knochensplitter und Felszeichnungen. Fossile Hundeknochen wurden rund um den Erdball in unmittelbarer Nähe menschlicher Spuren gefunden. In Höhlen, in den Resten von Pfahlbauten, bei Kultstätten. Die ältesten Relikte waren beheimatet im heutigen Nahen Osten, in Europa und in Südostasien. Das Zeitfenster spannte sich über 10.000 bis 20.000 Jahre vor unserer Zeit und lag ein wenig vor den Anfängen des Ackerbaus. Das war erstaunlich. Diese Vorfahren hatten keine Herden, die zu bewachen waren, keinen Besitz, den es zu schützen lohnte, und sahen doch einen Nutzen von Tieren in ihre Nähe?

Die meisten Wissenschaftler vermuteten sehr lange, dass die ersten Hunde Abkömmlinge domestizierter Wölfe waren. Als ob das so einfach wäre. Wie zähmt man ein wildes Tier? Einige wenige glaubten hingegen, dass sie Kreuzungen mit dem Aas fressenden Schakal oder dem Präriewolf Kojote entstammten.

Heute wissen wir: Die Gene des Hundes erzählen eine völlig andere Geschichte als seine Knochen.

Besonders an der University of California in Los Angeles, UCLA, widmete sich ein Team von Molekularbiologen gewissenhaft der intensiveren Erforschung dieser ersten engen Tier-Mensch-Beziehung. Sie interessierten sich vor allem für genetische Informationen, die jedes Lebewesen in der Desoxyribonukleinsäure, englisch: desoxyribonucleic acid, abgekürzt DNA, speichert. Für ihre Analysen verwendeten sie Blutproben oder Tierhaare.

Die Experten untersuchten die Abstammungslinien von 162 lebenden Wölfen aus 27 Rudeln in Europa, Asien und Nordamerika. Gene können sich im Laufe der Zeit langsam und allmählich neuen Lebenserfordernissen anpassen, und aus den Abweichungen ziehen Wissenschaftler Rückschlüsse auf den Zeitraum, in dem sich Mutationen entwickelt haben. Das gilt für Tiere, Pflanzen und Menschen gleich. Je abweichender zwei Abfolgen sind, um so mehr Zeit stand den Molekülen zur Verfügung. Die jüngste, wissenschaftlich erforschte genetische Veränderung, beispielsweise, betrifft die Anpassung von Bewohnern der Tiefebene Chinas an die Lebensbedingung in der Hochebene von Tibet: Erst nach etwa 3.000 Jahren war ein Dasein in 4.000 Meter Höhe ohne die damit eigentlich verbundene Erkrankungen dauerhaft möglich.

Auf gleiche Weise wurden 67 Hunderassen in der Gestalt von 140 Tieren enträtselt – vom afrikanischen Basenji (dem Einzigen, der nicht bellt) bis zum irischen Wolfshund. Die DNS-Analyse ergab Unglaubliches. Es gibt vier, höchstens fünf große Hundefamilien. Ihre Größte und gleichzeitig Vielschichtigste verrät erstaunlicherweise eine sehr enge Verwandtschaft relativ moderner Züchtungen mit prähistorisch geprägten, alten Hunderassen, wie des Retrievers und des Collies zum Dingo und dem in Neu-Guinea angesiedelten Singenden Hund. Eine andere Hauptgruppe mit dem Elchhund und dem Schäferhund ähnelt stärker bestimmten Wolfsarten als anderen Hunderassen auf. Diese und weitere Resultate liefern keinesfalls Antworten auf alle Fragen. Aber zwei Erkenntnisse sind sicher. Die Erste: Der Hund besitzt keinen anderen Vorfahren als den Wolf. Alle Rassen, die wir heute sehen, stammen einzig von ihm, dem wildesten und scheuesten aus der großen Familie der Kaniden, ab. Kojote und Schakal standen niemals Pate bei dieser Entwicklung; nicht einmal bei jenen heute noch wild lebenden Vierbeinern, die äußerlich eine gewisse Familiennähe zu ihnen besitzen.

Wolf und Hund verbindet eine unmittelbare Abstammungslinie ohne Zwischenschritt. Wie eine unendlich lange Perlenkette besteht sie aus einer ungeahnten Abfolge einzelner Mutationen des ursprünglichen Erbguts. Erst jetzt begreifen wir den Umfang dieser Evolution. Erst jetzt erkennen wir die enorme Zahl genetisch bedeutender Informationen. Jede Veränderung vollzog sich über viele, viele Tiergenerationen. Jede Einzelne konsumierte einen beträchtlichen Zeitvorrat. Ohne die Kenntnis der Gene war es nicht möglich, die Summe dieser Intervalle auch nur zu schätzen. Nun sehen wir: 15.000 oder 20.000 Jahre hätten unter keinen Umständen ausgereicht, um aus dem wilden, äußerst scheuen Wolf den handzahmen Hund werden zu lassen. Alles muss weit, weit früher begonnen haben.

Es gab vor unserem geliebten Vierbeiner eine ausgeprägte

Zwischenphase der Hundeartigen. Äußerlich waren sie noch Wölfe. Proto-Hunde, Basishunde oder Wolf-Hunde – wie auch immer

erfinderische Experten sie nennen mögen. Die frühesten Menschen-Hunde, die sich anatomisch von den wilden Verwandten unterschieden, stammen erst aus der Dämmerung von Kultivierung und Zähmung.

Es war am Ende der Eiszeit. Die neuen Umstände brachten den Menschen von einer Lebensform ab, in der er davor 99 Prozent seines Daseins existiert hatte. Er wurde sesshaft, legte Felder an und machte sich Tiere untertan. Von Felsmalereien oder Höhlenzeichnungen abgesehen, kennen wir keine Momentaufnahme aus dieser Zeit. Deshalb sind Grabstätten für die Forschung so interessant, weil sie der

Nachwelt überliefern, welche rituelle Beigaben aus Sicht der Hinterbliebenen für den Verstorbenen bedeutend waren. Vor allem vier Entdeckungen sind es, von denen die wissenschaftliche Meinung bestimmt wurde. In der Nähe des heutigen Rheinstädtchens Bonn wurde in jener Epoche ein junger Mann bestattet, dessen Arm auf der Schulter eines Hundes ruht. Ein ähnliches Arrangement zeichnete eine Totenkultstätte im Nahen Osten aus. Der dritte Beleg entstammt einer Ausgrabung nahe der Stadt Bohuslan (Schweden). Dort hat vor etwa 13 000 Jahren eine Familie gemeinsam mit ihrem Toten auch einen Hund bestattet. Ein Steinzeitgrab neben einer Höhle bei Oberkassel enthielt ein Stück Kieferknochen – es stammt aus dem Paläolithikum vor etwa 14.000 Jahren.

Doch nun öffnet die Wissenschaft einen Vorhang, der das Entstehen unserer Tierliebe bisher verhüllt hat. Die Forscher erkennen so viele Abweichungen, dass sie die frühesten Hundeartigen weit vor der Zeit der Neandertaler ansiedeln. Denn hintereinander hat sich eine aus der anderen entwickelt. Die Geburtsstunde des neugierigen Vierbeiners führt uns 100.000 bis 135.000 Jahre unserer Entwicklung zurück. Es gibt keinen Zweifel - als unsere Vorfahren aus den Wäldern traten, erregten sie bereits die Aufmerksamkeit einiger weniger besonders schlauer, wagemutiger, intuitiver Kaniden – nicht mehr ganz Wolf, noch lange nicht Hund. Hinter ihrer Abstammung verbirgt sich bereits ein spannendes Schicksal. Natürlich konnten die Zweibeiner jener Zeit nicht im Entferntesten ahnen, was wir heute wissen: Die Genspur unserer Hunde führt nach Asien. Dort, mit großer Wahrscheinlichkeit, hat sich diese intuitive erste Annäherung ereignet. Ein Wolf, entweder aus dem Rudel verbannt, wegen Verletzung oder Ungehorsam zum Beispiel. Oder erfüllt von der vagen Sehnsucht nach einem Dasein ohne die unerbittliche hierarchische Strenge seiner angestammten Gemeinschaft. Vielleicht aber auch wissender, ahnungsvoller als seine Genossen. Alle Wissenschaftler sind sich einig: Der schlaue Wolf wittert seine Chancen der Zusammenarbeit bei allen Lebewesen seines Umfelds - so wie der Polarfuchs heute noch den als Jäger erfolgreichen Eisbären sogar dringend benötigt, um mit seinen Beuteabfällen zu überleben. Solche Möglichkeiten eröffneten sich dem Wolf auch bei den Zweibeinern mit ihren geschickten Händen. Allerdings hielt eine immens ausgeprägte Scheu ihn weit von den menschlichen Jagdgenossen fern. Unbestritten ist: Die frühen Hominiden mit den seltsamen Waffen interessierten ihn viel stärker als jene, die viel, viel später Felder anlegten. Wer immer also den Anfang machte, hat nicht lange gezögert. ...

Vor mehr als 30.000 Generationen – das Erwachsenwerden dauerte beim primitiven Zweibeiner zwölf Jahre, beim Homo sapiens bis zu siebzehn - könnten unsere Vorfahren bereits Wölfen begegnet sein. Das belegen einzelne Zähne und Knochenreste aus Regionen, in denen beide zur gleichen Zeit lebten. Eine Existenz von Jägern. Die einen hetzend, die anderen heranpirschend. Möglicherweise haben die mit Holzspießen, Steinen, aber auch mit loderndem Feuer und lautem Geschrei agierenden Zweibeiner den scheuen Wildtieren gelegentlich sogar erfolgreich ihre Beute abgerungen. Etwa 8.000 bis 6.500 Generationen vor unserer Epoche prägte die Evolution die ersten Hundeartigen. Sehr viel später - es ist erst 2.000 Generationen her - betrat der moderne Mensch die Lichtung. Aus den Formen, Zeichen und Farben seiner Felskunst kennen wir präzise seinen Dialog mit dem Wasser, der Sonne, dem Tier, dem Felsen. Wie niemand vor ihm war er interessiert, die Natur, ja, die gesamte Welt um ihn herum zu verstehen. Und es dauerte weitere tausend Generationen, bis erste Angehörige einen geliebten Hund an die Seite eines Verstorbenen betteten ...

Es war das Tier, das die Grenze zu uns überwand. Es hatte dafür auch zahllose Motive.

Damit kehren wir zurück in die mittlere bis jüngere Altsteinzeit.

Was war das damals für eine Welt?

Wildschwein, Höhlenbär, Auerochse, Höhlenlöwe und Rothirsch haben sich bereits vor langer Zeit über viele Regionen verbreitet. Wölfe jedoch sind die wahren Herrscher der Wälder und Wiesen. Sie leben in Verbänden zur gemeinsamen Jagd und Verteidigung. Erst das geniale Zusammenwirken ihrer großartiger Fähigkeiten unter strenger Hierarchie hat ihnen ihre überragende Stellung gesichert. Die einzelnen Tiere eines Rudels übernehmen mit Erreichen des Erwachsenenalters unterschiedliche Aufgaben. Diese Landraubtiere überleben in den unterschiedlichsten Prägungen. Unzählige Rudel existieren nebeneinander. Es gibt sie in Asien, in Europa, im heutigen Afrika.

Urmenschen sind erst vereinzelt anzutreffen. In unseren Regionen leben vielleicht einige tausend. Sie sind über große Gebiete verstreut und kämpfen um ihr Dasein an Hunderten, weit voneinander entfernten Schauplätzen. Sie schließen sich zu kleinen Gruppen zusammen, und ihre Gedanken konzentrieren sich auf die großen Herausforderungen: Sammeln, jagen, fortpflanzen. Sie bewegen sich innerhalb eines Areals im Ausmaß eines Tagesmarsches. Die Zweibeiner jener Zeit tragen einfache Fellkleidung, hausen im Freien, unter Dächern aus Baumrinde, in Höhlen oder Grotten und verfügen bereits über erste Spezialwaffen wie Faustkeile, Holzspieße und Wurfsteine. Sie stellen Tieren nach – oder vertreiben sie mit Steinen von ihrer Beute. Sie beherrschen das Feuer. Die übermächtigen Kräfte der Natur, der Zyklus von Geburt und Tod und der Einfluss von Träumen lassen erste religiöse Ahnungen entstehen. Hominiden bemalen ihre Körper mit Erdfarben und bringen den unbekannten Göttern Opfer dar. Kannibalismus hat zumindest als Kultform Bedeutung. Vereinzelte Zweibeiner zogen das Verzehren ihrer Vorfahren dem Bestatten vor.

Ihre Gemeinschaften entstehen aus den Gegebenheiten heraus, nicht aus Drang oder Intuition. Sie versuchen, einer Region das für das Leben Notwendige abzuringen. Sie bleiben, solange die Natur sie ernährt, und ziehen weiter, wenn die Überlebenschancen anders wo besser scheinen. Das Geschick der Gruppe wird nicht in seltenen Fällen von einer Frau bestimmt. Mütter und Töchter entscheiden darüber, wann ein heranwachsender Sohn die Lagerstätte verlassen und sich selbst ernähren und behaupten muss. Und auch, welche Männer geduldet werden – auf jeden Fall nur Tüchtige, so lange sie erfolgreich jagen und auch wirklich die gesamte Beute zurück bringen. Sobald jemand seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, wird er verstoßen.

So leben sie dahin, von Ebene zu Ebene, von Tal zu Tal, stets auf der Suche nach Nahrung. Wo immer diese Gestalten, halb gebückt, mit aufrechtem Gang auftauchen, einen Unterschlupf suchen und sich für eine Weile niederlassen, sind die Wölfe schon da, in großer Zahl.

Die Evolutionsgeschichte des Wolfes ist bis heute nicht geklärt.

Primitive Fleischfresser der Familie der Miaciden lebten vor rund 52 Millionen Jahren. Im Jungtertiär bildeten sich daraus die beiden Hauptgruppen der Beutefänger, Kaniden (Wölfe, Füchse & Co) und Feliden, Vorfahren unserer heutigen Katzen. Wolf und Kojote, sein nächster wilder Verwandte, haben sich demnach vor rund einer Million Jahre getrennt und können als eine Art Geschwister gelten. Lange dominierte der eineinhalb Meter lange Canus Dirus, der Schreckliche Wolf. Er war damals vermutlich bereits auf allen Kontinenten heimisch, hatte eine Schulterhöhe zwischen 60 und 80 Zentimeter und wog ausgewachsen unter günstigsten Lebensbedingungen bis zu 60 Kilogramm, unter ungünstigen aber auch nur ein Drittel davon. Sein Aussehen ähnelte mehr einem Bären unserer Zeit. Offensichtlich war er im Stande, mit seinem Kiefer Knochen verendeter Grosstiere aufzubrechen. Aber während der Eiszeit verschwanden die meisten seiner Beutetiere, er fand nicht genug Nahrung und starb aus. Von den übrigen Arten erwiesen sich vor allem der mittelgrosse Canis Lupus, der Graue Wolf, und der Kojote als fähig, selbst schwierigste Lebensbedingungen zu meistern. Der Graue Wolf besitzt eine größere Hirnschale als sein „schrecklicher“ Verwandter, und seine Unterschenkel sind länger. Das machte ihn zum besseren Läufer.

Bis vor wenigen Jahren wurden Vierbeiner vor allem auf Grund äußerlicher Merkmale zugeordnet, was für Wissenschaftler nicht sehr befriedigend sein konnte. Insgesamt besteht die gewaltige Familia Canidae aus 34 Clans – vom Buschhund bis zum langmähnigen Wolf, den die Nordamerikaner Fuchs auf Stelzen nennen. Die Genbiologie liefert den Experten nun Anhaltspunkte, die Spekulation erlauben, die weit, weit vor den Beginn menschlicher Kulturen zurückreichen. Noch ringen Biologen, Anthropologen und Archäologen um gemeinsame Ansichten, denn nicht alle denken so radikal wie Dr. Robert K. Wayne von der UCLA. Er hält es für möglich, dass Ur-Wölfe vor sieben bis zehn Millionen Jahren die Basis für sehr unterschiedliche Evolutionslinien darstellten. Aus ihnen entsprangen neben dem Kojoten schließlich der Graue Wolf und unser Hund. Außerdem die südamerikanischen Wildhunde. Weiter die Rotfüchse der Alten und Neuen Welt. Und schließlich die noch weitgehend urtümlich gebliebenen Spezies wie der Waschbär und eine Fuchsart mit Fledermausohren.

Der Graue Wolf entstand möglicherweise in Asien, erreichte vor rund 750.000 Jahren Nordamerika und breitete sich auf alle Erdteile aus. Er ist der fähigste. Der Graue Wolf hat sich an die Hitze Afrikas ebenso angepasst wie an die arktische Eiseskälte. Daran ist besonders bemerkenswert, dass seine 78 Chromosomen exakt jenen unserer Hunde entsprechen. (Weshalb der bereits erwähnte Biologe Dr. Robert K. Wayne mit wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit betont: „Unser Hund ist unleugbar ein Grauer Wolf.“) Vermutlich wurde eine einzige Graue Wolf-Eva, genetisch betrachtet, die Stammmutter aller Hunde. Zwei Zahlen unterstreichen seine These: Zum Kojoten unterscheiden sich DNS-Sequenzen des Wolfes um rund vier Prozent, was dem stammungsgeschichtlichen Abstand des Menschen zu seinem nächsten Verwandten, dem Orang-Utan, entspricht. Wolf und Hund sind sich zwanzig Mal ähnlicher, denn ihre Gendifferenz beträgt gerade 0,2 Prozent.

Durch das hohe Steppengras schleichen eine Hand voll Männer. Einfache Fellstücke bedecken ihre Blößen. Die Männer tragen Speere, aber auch Klingen und Schaber aus Knochen. Zwei schleppen die Reste eines Wildschweins - die Beute eines Säbelzahntigers, den sie während seines Mahls aufgestöbert und mit wildem Geschrei in die Flucht gejagt haben. Das Ziel der Horde ist eine Höhle am Rand der Steppe, wo Frauen und Kinder schon hungrig auf sie warten.

Während das Fleisch über dem Lagerfeuer brät, dringen aus dem Gras Laute zu der Höhle herüber. Es sind Schakale, die der Gruppe den ganzen Tag über gefolgt waren. Einer der Männer greift sich ein Stück vom Braten und wirft es in die Richtung, aus der die Laute kommen. Vielleicht will er die Schakale näher ans Feuer locken, weil sie schon von weitem jedes herannahende Raubtier melden ... Bei allem Wettbewerb um das leichteste Futter entwickelten die Lebewesen damals bereits vage Strategien von Nutzen und Partnerschaft.

So ungefähr könnte sie gewesen sein - die erste Fütterung eines nützlichen Tieres durch den Menschen. Jedenfalls stellte der österreichische Tierverhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz die Schilderung einer derartigen Szene an den Beginn seines 1949 geschriebenen Buches „So kam er Mensch auf den Hund.“ Lorenz ist später aber von der Goldschakaltheorie zugunsten des Wolfes abgerückt.


Spürnase für Futter und Freundlichkeit

 

Ihre Dominanz verdanken die frühen Kaniden einer beispiellosen Ordnung.

Die soziale Bindung von Wölfen unter ihresgleichen ist enorm. Sie leben in Gruppen bis zu 50 Tieren, von denen jedes einzelne seinen eigenen, festen Platz einnimmt. Eines ihrer Überlebensprinzipien ist die vollkommene Umsetzung der Idee, mit so wenig Energie wie nötig Maximales zu erreichen. Zum Beispiel der leichteste Weg zu Futter. Sie sind die schlauesten, die erfolgreichsten, die am stärksten verbreiteten. Sie sind auch die scheuesten. Aus weitester Entfernung, geleitet von ihren überdurchschnittlichen Sinnen der Wahrnehmung, ziehen sie ihre Schlussfolgerungen. Noch heute resultiert die Überlebensfähigkeit vieler Wolfsarten unter schwersten Bedingungen aus ihrem hervorragend ausgebildeten Gemeinschaftsverhalten. Dabei ist ihr Spielraum enorm, was sich aus der Beobachtung wild lebender Kojoten ableiten lässt. Sie entscheiden sich in großer Beweglichkeit für ein Leben im Rudel, in der Paarbeziehung, als einsame Kämpfer in einer bestimmten Region, als vierbeinige Nomaden oder für Gruppierungen auf Zeit.

Stellen wir uns jetzt ein einzelnes Tier vor, das aus welchen Gründen auch immer aus der Geborgenheit einer Gruppe gerissen wurde. Sein Handeln muss von dem Gedanken geprägt gewesen sein, für das Leittier und das Rudel unverzüglich Ersatz zu schaffen. Ein Welpe, der seinen gewohnten Lebensbereich verloren hat, hat mit noch größerer Sehnsucht nach einer neuen Bindung getrachtet.

Noch heute hält ein gewaltiger Mix aus Angst, Intuition und Sicherheitsbedürfnis wild lebende Tiere von den Menschen fern. Den größten Respekt erkennen wir bei Wölfen – sogar jene, die mit Menschen aufgewachsen sind, haben panische Angst vor Fremden. Beobachtungen in großflächigen Gehegen zeigen, dass der scheue Rotfuchs eine Mindestdistanz von mehr als 200 Metern für beruhigend hält. Die Fluchtreichweite der Wölfe schätzt man in einer Größenordnung von einem Kilometer.

Dank ihres hervorragenden Geruchssinns haben ihre Vorfahren in der Urzeit die unmittelbare Begegnung mit Hominiden erfolgreich vermieden. Sie orteten aus einer sicheren Entfernung die neuartigen Wesen, die in ihrem Territorium erschienen. Sie näherten sich, bis sie die Eindringlinge in Augenschein nehmen konnten. Ihr Interesse galt in erster Linie leichter Beute. Wagemutige könnten sich nach und nach genähert und über zurück gelassene Röhrenknochen hergemacht haben. Sie schnappten die Laute der Zweibeiner auf, sie beobachteten die Bewegungen ihrer Arme. Aus der Analyse der Frische aufeinander folgender Urinspuren und aus der Distanz, die in der Zwischenzeit zurückgelegt worden war, zogen sie Rückschlüsse auf deren Schnelligkeit und Körperkraft. Alle diese Kriterien belegten die Unterlegenheit der Zweibeiner. Gleichzeitig beherrschten sie aber auch Techniken, die sie interessant und vielleicht wertvoll machten. Vermutlich führten die Tiere sogar Angriffe gegen sie, wie jedes Mal, wenn ein feindliches Rudel ihnen ihre Vorherrschaft streitig machen wollte: verfolgen, heranpreschen mit abschließender Beißattacke gegen die Beine.

Den schlauen Wölfen muss dann gedämmert haben, dass die Hominiden in der Grundhaltung friedlich und freundlich waren und mehr als bloß eine Nahrungsquelle unter vielen sein konnten. Die Zweibeiner jagten die selben Hufträger wie sie. Beim Aufspüren und Verfolgen waren sie zwar lange nicht so geschickt. Allerdings vermochten sie, die letzte Distanz mit Steinen zu überwinden, und den Nahkampf mit Holzspießen für sich zu entscheiden.

Reichten diese besondere Motive aus, die natürliche Kluft zu den Menschen aufzugeben und sich ihnen allmählich zu nähern? Den raffinierten Tieren musste ein tiefer Nutzen winken – und er musste mit geringem Aufwand und ohne Gefahr zu erzielen sein. Das war am ehesten möglich, wenn die Wölfe in ihren Denkmodellen auch den Zweibeinern bestimmte Aufgaben und Rollen zuwiesen, und wenn diese Wesen mitspielten! Am Ende war die Belohnung für beide Seiten viel, viel grösser, als es irgend ein Mensch damals hätte ahnen können.

Das Interesse der Hundeartigen an den ersten Zweibeinern, derer sie ansichtig wurden, war vor 100.000 und mehr Jahren die Triebkraft am Beginn dieser Freundschaft. Sie paarte sich mit einer stetig wachsenden Zuneigung, die in der Tier-Mensch-Beziehung ohne Parallele ist. Diese Entwicklung wurde immer bewusster geformt, als der anatomisch gesehen moderne Mensch begann, sesshaft zu werden und feste soziale Strukturen zu bilden. Wir gehen allerdings davon aus, dass bereits vorher eine stete Daseinsverwandtschaft zu den in der gleichen Ökologie beheimateten Wildtieren bestanden hatte. Rentier, Zweibeiner, Wolf, Proto-Hund, Bär, Rabe und unzählige weitere Gattungen existierten neben- und miteinander. Fernsehberichte zeigen uns heute, dass der Polarfuchs nur überlebt, weil der Eisbär ihm zuverlässig und regelmäßig Reste eines raffiniert am Wasserloch überlisteten Belugawal überlässt. Damals waren die einzelnen Schicksale noch viel stärker verzahnt. Wölfe und Menschen haben vergleichbare Botenstoffe im Blut. Nach Tagesanbruch sind sie am aktivsten. „Niemand ist eine Insel“ – die Botschaft dieses Bestsellertitels stimmte schon damals. Wenn sich nun im Laufe der Evolution die Welt des Zweibeiners allmählich veränderte, so wirkte sich dies auch auf die Lebensbasis der Hundeartigen aus. Das könnte der Startschuss für den gewaltigen Einfluss auf das hormonelle Geschehen und das Verhalten der Tiere gewesen sein. Wollten sie ihre Platz in der erspähten Lücke beibehalten, mussten sie sich dramatisch anpassen. Der große Schritt aus der Wildnis an die Grenzen der menschlichen Lagerstätten bedeutete nur den Anfang. Wir wissen, dass anhaltend bis heute der Wolf zu außerordentlicher Unabhängigkeit veranlagt ist und dass seine Zähmung bis in unsere Zeit nur in ganz wenigen Fällen gelungen ist. Deshalb wird als Ausgangspunkt, als Rohmaterial für die profundere Kultivierung und Zähmung des Hundes vor allem der Wildhund betrachtet.

Als Erster hat es der Biologieprofessor Dr. Robert K. Wayne von der University of California in Los Angeles, UCLA, jetzt unmissverständlich deutlich ausgesprochen: „Alle Evidenz weist darauf hin, dass die Hunde uns als Freunde gewählt haben und nicht umgekehrt.“ Davor urteilten Wissenschaftler noch zurückhaltender. „Es ist augenscheinlich“, notierten die Biologen I. L. Brisbin Jr. und T. S. Risch 1997, „dass viele Wesenszüge im Verhalten und im ökologischen System des heutigen Hundes das Ergebnis einer durch ihre eigene Lebenswelt herbeigeführten Veränderung sind, auch durch Paarentscheidungen der Tiere selbst – und nicht vor allem das Resultat künstlicher Auslese durch den Menschen.“

Geringere Angst vor den Hominiden oder größere Neugiere waren nur einige der Kriterien, die einzelne Wölfe von dem übrigen Rudel absondern ließen. Eine andere Ursache könnte eine Verletzung gewesen sein, die es einem Tier unmöglich machte, an der Jagd der Anderen teilzuhaben. Und es gab – übrigens ähnlich wie bei den Urmenschen – Einzelne, die aus unterschiedlichen Gründen von der Gemeinschaft ausgestoßen, vertrieben wurden. Wenn sie etwa nach Erreichen des Erwachsenenalters gegen die bedingungslose Disziplin verstießen. Auch derartige, von der Wissenschaft Omega-Wolf genannte Exemplare, hatten besonderen Grund, das Tun der Hominiden aufmerksam zu beobachten. Wölfe erlegen ihre Beute in einem raffinierten Mehrkampf aus Aufspüren, Verfolgen, Isolieren und Angreifen. Ein Tier allein in der Wildnis war fast nicht überlebensfähig.

Das war der Augenblick, als eine besondere Intuition das erste von ihnen allmählich näher und näher zur Lagerstätte der Zweibeiner führte ...

Wie Urmenschen auf Wölfe reagiert haben, die ihre Behausung umlauerten, ist nicht überliefert. Aber es gibt heute noch eine spezielle Geistesverwandtschaft der Indianer des amerikanischen Kontinents und anderer Naturvölker zu den Wölfen in ihrer Region. Zwar gibt es so gut wie keinen unmittelbaren Kontakt mit einander. Aber Wissenschaftler finden zu Recht Belege für eine besondere Wertschätzung, wie es sie auch zu Urzeiten gegeben haben mag. Indianer betrachten den Wolf (Manitou) als ihren Bruder. Ihren Kindern und Enkelkindern erzählen sie, dass dieses Tier mit der gleichen Taktik jagt wie sie, die selben Hufträger jagt wie sie und auch die Natur erlebt wie sie. Ihre Bewunderung unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von jener der Einwohner der indischen Provinz Uttar Pradesh. Sie preisen den Mut des Wolfes, seine Weisheit und fühlen sich ebenfalls durch ein ähnliches Erleben der Umwelt mit ihm seelenverwandt. Sicherlich war die Kenntnis der Indianer in früheren Zeiten wesentlich reicher und intimer, aber sie diente wohl nie als Basis für Versuche, den Wolf zu bedrohen oder ihn zu unterwerfen. Noch heute orientieren sich Jäger der Naturvölker an den Heulsignalen, mit denen Wölfe ihren Artgenossen von Bergrücken zu Bergrücken Nachricht vom Eintreffen der Rentierherden geben. Indianer sind überzeugt, dass es zwischen ihrem Bruder im Geiste und einer Reihe anderer Tiere eine erprobte Zweckgemeinschaft der Verständigung gibt. Der Rabe beispielsweise führt den Wolf indirekt in die Nähe von Herden, über denen er hoch am Himmel kreist. Der Vierbeiner umgekehrt verkündet durch Heullaute den Jagderfolg. Krähen, Raben, Eichelhäher und Rote Eichhörnchen können in diesen kargen Regionen nur dank der übrig gelassenen Beutereste überleben. Ganze Scharen von Raben folgen den Wölfen von Jagdplatz zu Jagdplatz. Nichts spricht gegen die Vorstellung, dass es eine ähnliche Beziehung auch zwischen dem frühen Menschen und dem Herrscher der Wiesen und Wälder gegeben hat. Dank ihrer Hände und Finger konnten sie so manchem Abfall noch einiges abgewinnen ...


Vermenschlichung, ja – aber auch Verhundlichung?

 

Niemand von uns war dabei, als der Grundstein für unsere Hundefreundschaft gelegt wurde. Wir wissen nicht einmal, wo, wobei vieles auf Europa und Asien hinweist. Von der Vermenschlichung, die der Vierbeiner erlebte, haben wir nur vage Vorstellungen. Dennoch haben wir für das Ergebnis ein Wort gewählt, das keine andere Interpretation erlaubte als jene, die sich durch Jahrhunderte erhalten hat: Domestizierung. Die Verwendung des lateinischen Begriffs für Haus, domus, passte durchaus auf die idealisierte Vorstellung, dass der überlegene Mensch es war, der wilde Tiere in seine Behausung gebracht, sie gezähmt und anschließend erfolgreich für seine Zwecke trainiert hat.

Wenn wir jedoch diese Vorstellung der Zähmung durch ein Bild des Annäherns und der Kultivierung ersetzen, dann wird sogar denkbar, was einige Anthropologen in den Mittelpunkt ihrer Überlegung stellen: Wie weit kam es auch zur Verhundlichung? Damit meinen sie: Dass unter Umständen sogar vor allem der Mensch es war, der in dieser Phase benutzt und auf der Basis einer von den Urhunden beanspruchten Führerschaft für ihre Zwecke manipuliert und in diesem Sinne „angelernt“ wurde.

Sie jagten das selbe Wild - Wölfe vorne weg. Und sie hatten die selben Feinde. Die frühen Menschen waren freundlich und friedliebend. Sie begegneten den Tieren mit Respekt und ohne jeden Hochmut. Der clevere Vierbeiner hatte eigentlich gute Gründe, sich diese Wesen gewogen und gefügig zu machen ...

Jedem von uns ist schon einmal ein Hund begegnet, orientierungslos, weil ein beherzter Sprint ihn aus dem Blickfeld von Herrchen oder Frauchen befördert hat. Oder herrenlos, weil irgendein Ereignis ihn von der Hand trennte, die ihn gefüttert und gestreichelt hat. So schleicht er nun durch die Gegend, den Kopf gesenkt, weicht aus, wenn sich jemand nähert, und umkreist die Person dennoch in einem halben Bogen. Bettelnd und neugierig zu gleich. Der Leutnant John J. Dunbar hatte eine solche Begegnung sogar mit einem vereinzelten Wolf. Am äußersten Rand der Zivilisation, weit draußen im Wilden Westen, an einem einsamen Vorposten im amerikanischen Bürgerkrieg, wurde er zu seinem einzigartigen Gefährten. Dunbar beschrieb seine Erlebnisse in einem Tagebuch, und sehr viel später erzählte der Film „Der mit dem Wolf tanzt“ uns seine Geschichte.

So mag die Beobachtung begonnen haben, doch sie führte zwei Lebewesen in völlig unterschiedlichen Entwicklungsstufen zusammen. Stellen wir uns das eine hochintelligent und durch ein Rudel stark sozial geformt vor. In der Welt der Wölfe hat Disziplin einen immens wichtigen Stellenwert. Die Phase der Kindheit erlaubt den Welpen viele spielerische Freiheiten. Umso weniger Kompromisse bietet das Erwachsenenalter. Zur Ausbildung von Rangordnungen wird Aggression eingesetzt. Danach genügt die leiseste Drohung für ein außerordentlich friedliches Zusammenleben. Damit werden Reibungsverluste durch Auseinandersetzungen möglichst gering gehalten. Ihr Territorium markieren sie exakt. Ihre Kommunikation verläuft auf hohem Niveau. Allein für die Signalisierung von Flucht und Kampf wählen sie, je nach Intensität, aus mindestens neun Gesichtsausdrücken. Die erwachsenen Tiere verfügen damit über eine Prägung, wie sie beim Zweibeiner jener Zeit nicht zu vermuten ist.

Diese Hominiden waren mit zwölf Jahren erwachsen. Dann verließen sie die Gruppe und waren für sich selbst verantwortlich. Die Zeit, in der sie von anderen lernen konnten, war kurz, sehr kurz, zu kurz. Erst spätere Menschen, denen die Wissenschaft das Etikett „modern“ zuordnen wird, verharren länger in der Phase der Kindheit und bleiben etwa bis zu ihrem Alter von siebzehn Jahren in den Strukturen ihrer Familie. Ihr Denkvermögen, ihre Sprechpraxis, ihre sozialen Fähigkeiten sind wesentlich reifer ausgebildet.

Noch wissen die frühen Urmenschen vor 100.000 und mehr Jahren nicht, wie nützlich die Fähigkeiten des Wolf-Hundes für sie einmal sein werden. Sie ahnen nicht die Wunderkraft vielfältigster sozialer Beziehungen. Ein Gefühl wie Besitz ist noch nicht ausgeprägt. Da ist nichts, was bewacht werden kann.

Es wird überhaupt noch weitere etwa 3.000 bis 5.000 Generationen dauern, bis der Zweibeiner in der Lage sein wird, sich Tiere und Pflanzen untertan zu machen. Erst dann werden sich unsere Vorfahren für lange Zeit an einem Ort niederlassen. Sie werden erst dann im Stande sein, mehr und mehr Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde zu begreifen. Sie werden zu verständigen Menschen heranreifen, lateinisch Homo sapiens. Sie werden die Ersten sein, die sich schwierigen Lebensbedingungen anpassen können, an denen Neandertaler und andere urgeschichtliche Zweibeiner scheitern.

In einer Höhle bei Chauvet in Südfrankreich orteten Anthropologen eine Pfotenspur, deren Zehenstellung sich deutlich von der eines Wolfes unterscheidet und die dem heutigen Schäferhund sehr ähnlich ist. Das Alter dieser Entdeckung wird auf mehr als 25.000 Jahre geschätzt.

Im Augenblick der ersten Begegnungen ist der Wolf evolutionär weit voraus. Langsam pirscht er sich heran. Das fremde Wesen verkörpert Wildheit und Stärke, denn es schleudert Steine durch die Luft. Aber auch Hoffnung und Demut, denn es fehlt jegliche Aggression. Der Tübinger Professor für Ur- und Frühgeschichte Hansjürgen Müller-Beck meldete im Juli 2004: „Die Steinzeitmenschen hatten vielleicht sogar mehr Freizeit als wir.“ Es gab Rauschdrogen, Gespräche, Spiele. Es wurde gebetet, gelacht, der Sternenhimmel beobachtet. Der Professor nimmt an, dass die Hominiden auch schon Musik machten. Wahrscheinlich klopften einige von ihnen mit Ästen den Takt. Eine primitive Flöte aus Schwanenknochen ist rund 35.000 Jahre alt. Am Vierbeiner ist es zu erahnen, dass das Leben in der Nachbarschaft des Zweibeiners gefahrlos ist und unter Umständen leichter fällt. Auf jeden Fall ist es viel versprechend. Dafür muss der Hund der Zukunft sich jedoch gewaltig verändern. Zuallererst muss er seinen Fluchtreflex reduzieren. Nur so wird er zum Hundeartigen, der als Abfallbeseitiger geduldet ist und sich durch aktive Mithilfe bei der Jagd bedankt.

Zweifellos bringt der Abkömmling des raffinierten Wolf die dafür notwendigen Fähigkeiten mit. Er entscheidet sich sehr früh, den Erwartungen seiner Versorger möglichst zu entsprechen.

Er identifiziert rasch Verhaltensweisen, die ihn Tritt für Tritt dem idealen Gefährten näher bringen. Sie behält er bei, und er verstärkt sie sogar, denn er wird dafür belohnt. Das Aufbrechen von Röhrenknochen mit seinem kräftigen Kiefer, zum Beispiel. Er unterdrückt Gewohnheiten, die ihm Bestrafung einbringen. Er wird zum Beispiel mit dem Zweibeiner nicht um die Führung des Rudels kämpfen und seinen Nachwuchs nicht angreifen. Und er hat noch viel mehr drauf ... Die Welpen von Wölfen oder Hunden verfügen über einige Kommunikationstricks, die auch in unserer Gesellschaft ihre magische Wirkung nicht verfehlen. Wölfe setzen unter einander ein vielfältiges Begrüssungsritual ein, welches Schwanzwedeln und Augenkontakt mit einschließt und zum speziellen Zusammenhalt beisteuert. Die Aufmerksamkeit, die einem nach Hause kommenden Frauchen oder Herrchen zu Teil wird, halten nicht wenige Hundeeigner für Zeichen besonderer Zuneigung, ja Liebe. Das werden Hominiden nicht anders empfunden haben! Liebe kann auch die heutige Wissenschaft noch nicht testen. Es genügt offensichtlich, dass unsere Vierbeiner eine Vielzahl sehr willkommener Charaktereigenschaften an den Tag legen, und nur ganz, ganz wenige, die uns missfallen.


Tier und Mensch: Ein Herz und eine Seele

 

Hominiden waren nicht besonders geeignet, allein auf sich gestellt zu überleben. Umgekehrt wurden sie mit zunehmendem Jagderfolg für Hundeartige interessanter. Die Annäherung verlieh beiden einen Evolutionsschub. Ohne Zweifel hatte der Vierbeiner primär eine nützliche Funktion für den Menschen, besonders als dieser die Fähigkeit erwarb, die einzigartigen Leistungen des Wolfes als unübertrefflicher Jäger zu erahnen. Aber parallel dazu wurden sehr schnell emotionale Bande geschmiedet. Ohne solche Beziehungen wäre die Geburt menschlicher Strukturen anders verlaufen. Hunde lebten in ausgeklügelten sozialen Gruppen, sie waren in hohem Masse anpassungsfähig, sie formten die Paarbeziehung und sie jagten gemeinsam. Die Beute wurde unter allen Rudelmitgliedern aufgeteilt. Welpen wurden nicht allein von den Müttern, sondern auch vom Vater und den Geschwistern versorgt. Die frühen Menschen konnten viel von ihnen lernen.

Sehr bald wird der praktische Wert dieser Beziehung nicht die einzige Rolle spielen. Der Vierbeiner erkennt eine Lücke, die wie für ihn geschaffen ist. Nicht allein für seinen Magen ...

Während Gen-Biologen ihre Antwort auf das Wann? suchen, befassen sich Psychologen mit dem Warum?