Tropische Lilien gibt es, die giftig sind,
doch sie sind auch viel schöner als die
vergänglichen, eisig-weißen Lilien des
Nordens

Der Geisterkuß

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Das Theater war voll. Ich kann mich nicht erinnern, was gespielt wurde. Ich hatte keine Zeit, die Schauspieler zu betrachten. Ich erinnere mich nur, wie ungeheuer groß das Gebäude wirkte. Wenn ich mich umdrehte, sah ich ein Meer von Gesichtern sich ausdehnen, so weit, daß fast die Unterscheidungskraft des Auges aufhörte, bis zu den fernen Kreisen, wo, in leuchtendem Licht, eine Sitzreihe über der andern sich erhob. Die Decke war blau und in der Mitte hing eine große sanfte Lampe, wie ein Mond, in solcher Höhe, daß ich die Kette, an der sie aufgehängt war, nicht sehen konnte. Alle Sitze waren schwarz. Ich bildete mir ein, das Theater sei ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen, mit Silberfransen geschmückt, die wie Tränen glitzerten. Das Publikum war ganz in Weiß.

Ganz in Weiß! – Ich fragte mich, ob ich etwa in dem Theater irgend einer tropischen Stadt sei – warum war alles in Weiß? Ich konnte es nicht erraten. Bisweilen glaubte ich durch ferne Erkerfenster eine mondbeglänzte Landschaft zu sehen, in der die Zweige der Palmen, wie ungeheure Spinnen, schwankende Schatten warfen. Die Luft war süß von einem seltsamen und neuen Duft, es war eine schläfrige, schlaffe Luft, in der unzählige weiße Fächer, die hin und her bewegt wurden, kein Geräusch, keinen Laut hervorriefen.

Es war eine seltsame Stille und ein seltsames Schweigen. Aller Augen waren der Bühne zugewandt, nur die meinen nicht. Ich blickte nach allen Seiten, nur nicht nach der Bühne. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt nicht nach der Bühne hinschaute. Keiner beachtete mich, keiner schien zu bemerken, daß ich als einziger in der großen Versammlung in Schwarz gekleidet war – ein einziger dunkler Fleck in einem Meer von weißem Licht.

Allmählich schienen mir die Stimmen der Schauspieler schwächer und immer schwächer zu werden – schwache Töne wie Geflüster aus einer andern Welt – einer Welt von Geistern! – und die Musik klang nicht wie Musik, sondern nur wie ein Echo im Gemüt der Hörer, wie eine Erinnerung an Lieder, die man in vergangenen Jahren gehört und vergessen hatte.

Manche Gesichter erschienen mir sonderbar vertraut – Gesichter, die ich zu anderer Zeit schon irgendwie gesehen zu haben meinte. Aber niemand erkannte mich.

Eine Frau saß vor mir – eine schöne Frau mit Haaren so golden wie die Locken der Aphrodite. Ich fragte mein Herz, warum es so seltsam schlug, wenn ich meine Augen auf sie richtete. Mir war, als wolle es meiner Brust entfliehen und sich zitternd ihr zu Füßen werfen. Ich beobachtete die zierlichen Bewegungen ihres Nackens, über den ein paar lose, glänzende Locken fielen wie Goldbänder, die sich um eine Säule aus Elfenbein winden. – Die sanfte Rundung der Wange schimmerte in zartem Rot wie die samtene Haut eines halbreifen Pfirsichs; die Anmut der schwellenden Lippen sah ich, dieser Lippen, so süß wie die der Venus von Knidos, die noch nach zweitausend Jahren wie von den Küssen des letzten Liebhabers feucht erscheinen. Aber die Augen konnte ich nicht sehen.

Und ein seltsamer Wunsch erwachte in mir, ein heftiges Verlangen, diese Lippen zu küssen. Mein Herz sagte: Ja; – meine Vernunft flüsterte: Nein! Ich dachte an die zehntausend mal tausend Augen, die sich plötzlich mir zuwenden würden. Ich sah mich um; und mir war es, als sei das ganze Theater noch größer geworden! Die Sitzreihen waren weiter zurückgewichen – die große Mittellampe schien höher zu hängen; ungeheuer erschien die Versammlung, wie eine Vision vom jüngsten Gericht. Und mein Herz schlug so heftig, daß ich sein leidenschaftliches Klopfen hörte, lauter als die Stimmen der Schauspieler, und ich war voll Furcht, es könne mich all den Scharen weißgekleideter Männer und Frauen über mir verraten. Aber niemand schien mich zu sehen oder zu hören. Ich zitterte, doch die Versuchung wurde mit jedem Augenblick immer überwältigender und unbezähmbarer.

Und mein Herz sagte: »Ein Kuß von diesen Lippen wäre die Pein von zehntausend Toden wert.«

Ich erinnere mich nicht mehr, daß ich aufstand. Ich weiß nur noch, daß ich neben ihr war, dicht bei ihr, ihren duftenden Atem einsog und in Augen schaute, Augen so tief wie der amethystene Himmel einer tropischen Nacht. Ich preßte meine Lippen leidenschaftlich auf die ihren, ich fühlte einen Schauder von Triumph und unaussprechlichem Entzücken: ich fühlte, wie die warmen, weichen Lippen sich auf meine legten und mir meinen Kuß zurückgaben.

Und plötzlich überkam mich eine große Bangigkeit. Und all die Scharen weißgekleideter Männer und Frauen erhoben sich schweigend, und zehntausend mal tausend Augen schauten mich an.

Ich vernahm eine Stimme, zart, süß, eine Stimme, wie wir sie hören, wenn geliebte Tote uns in Träumen besuchen.

»Du hast mich geküßt! Jetzt ist der Bund für immer besiegelt.«

Und als ich noch einmal die Augen aufschlug, sah ich, daß all die Sitze Gräber waren und all die weißen Gewänder Leichentücher. Noch immer leuchtete über mir ein Licht an der blauen Kuppel, aber es war nur das Licht eines weißen Mondes in dem ewigen Azur des Himmels. Weiße Gräber dehnten sich in geisterhaften Reihen bis zum Rande des Horizontes; – und wo ich ein Schauspiel zu erblicken gemeint hatte, sah ich nur ein hochragendes Mausoleum; – und ich wußte, daß der Duft der Nacht nur der Odem der Blumen war, die auf den Gräbern sterben!

Der schwarze Cupido

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In dem Zimmer hing ein kleines Bild, und ich nahm das Licht, um es genauer zu betrachten. Ich weiß nicht, warum ich nicht schlafen konnte. Vielleicht war es infolge der geistigen Überanstrengung.

Der vergoldete Rahmen, massiv und reich geschnitzt, umschloß eins der seltsamsten Gemälde, die ich je gesehen hatte: der Kopf einer Frau ruhte auf einem Samtkissen, der eine erhobene Arm und eine nackte Schulter mit einem Stück des wunderbaren Busens hoben sich vom dunklen Hintergrunde ab. Wie ich schon sagte, war es nur ein kleines Bild. Die junge Frau lag augenscheinlich auf der rechten Seite, aber nur ihr Kopf, der sich auf das Samtkissen schmiegte, ihr weißer Hals, ein schöner Arm und ein Stück ihres Busens waren sichtbar.

Mit vollendeter Kunst hatte der Maler in dem Beschauer das Gefühl zu erwecken vermocht, als neige er sich über das Ruhebett, das auf dem Bilde nicht sichtbar war, so daß sein Gesicht sich dem schönen Antlitz auf dem Kissen näherte. Es war eins der bezauberndsten Gesichter, von denen ein menschliches Wesen jemals geträumt hat: die zarte Röte der Wangen, der sanfte, feuchte Schimmer in den halbgeschlossenen Augen, dies sonnengoldene Haar, dies Rot der Lippen, dies Oval des Gesichts! Und all das von einem tiefschwarzen Hintergrund sich abhebend. Im linken Ohrläppchen bemerkte ich einen seltsamen Ohrring, einen winzigen Cupido aus schwarzem Jett, der an seinem eigenen Bogen hing: er hatte den Bogen an den beiden Enden gefaßt, als wolle er ihn abreißen von der dünnen goldenen Kette, die ihn an dem schönen Ohr befestigte, das zart und rosig war wie eine Seemuschel. Was für ein seltsamer Ohrring war das!

Aber das seltsamste an dem Bilde waren Haltung und Ausdruck des schönen Weibes. Der Kopf, der halb zurückgeworfen war, mit halb geschlossenen Augen und zärtlichem Lächeln, schien um einen Kuß zu bitten. Die Lippen wölbten sich erwartungsvoll. Ich meinte schon ihren duftenden Atem zu spüren. Unter dem gerundeten Arm sah ich ein seidiges Gespinst von glänzenden Haaren in zierlichen Löckchen. Der Arm war erhoben, gleichsam bereit, sich um einen geliebten Nacken zu legen. Ich war frappiert durch die Kunst des Malers. Kein Photograph hätte auch mit den zartesten Tönen solche Wirkung erzielen, keiner den Glanz der glatten Schultern, die Adern, die kleinsten Einzelheiten so wiedergeben können! Das Bild wirkte seltsam faszinierend. Es übte auf mich eine Wirkung aus, als schaute ich wirklich eine lebendige Schönheit, eine rosige, bebende Wirklichkeit. In dem unruhigen Licht der Lampe meinte ich sogar die Lippen sich bewegen, die Augen aufleuchten zu sehen. Der Kopf schien sich, einem Kuß entgegen, vom Kissen zu heben. Es war ein seltsamer Einfall – aber ich konnte nicht anders: ich mußte diesen Mund küssen! Nicht einmal, sondern hundert Mal ... und dann plötzlich erschrak ich. Geschichten von blutenden Statuen, geheimnisvollen Bildern und verzauberten Wandteppichen kamen mir in den Sinn; und da ich in einem fremden Hause und einer fremden Stadt allein war, befiel mich eine seltsame Erregung. Ich stellte das Licht auf den Tisch und ging zu Bett.

Aber es war unmöglich zu schlafen. Immer wenn ich eben ein wenig einzuschlummern begann, sah ich den schönen Kopf auf dem Kissen neben mir: dasselbe Lächeln, dieselben Lippen, das goldene Haar, den seidigen Flaum unter dem liebkosend erhobenen Arm. Ich stand auf, kleidete mich an, steckte mir eine Pfeife an, löschte die Lampe und rauchte im Dunkeln, bis die ersten zarten blauen Farben des Tags sich durch die Fenster hereinstahlen. In der Ferne sah ich die weißen Zinnen der Berge rosig erglühen und hörte das Getöse erwachenden Lebens.

»Las cinco menos quarto, Sennor,« rief der Kellner, indem er an meine Tür klopfte, – »tiempo para levantarse.«

Bevor ich aufbrach, fragte ich den Besitzer des Hauses nach dem Bilde. Er erwiderte lächelnd: »Es ist von einem Wahnsinnigen gemalt, Sennor.«

»Wie heißt er?« fragte ich. »Wahnsinnig oder nicht, er war ein Genie.«

»Ich weiß nicht einmal mehr seinen Namen. Er ist tot. Sie haben ihm erlaubt, im Irrenhaus zu malen. Das beruhigte ihn. Ich bekam das Bild nach seinem Tode von seiner Familie. Sie wollten kein Geld dafür nehmen und sagten, sie seien froh, wenn sie es weggeben könnten.«

Ich hatte dies Bild schon ganz vergessen, als ich fünf Jahre später durch eine kleine Straße in der Stadt Mexiko kam. Meine Aufmerksamkeit wurde seltsam gefesselt durch einige Gegenstände in dem Schaufenster eines schmutzigen Ladens, der einem spanischen Juden gehörte. Ein Paar Ohrringe – zwei kleine Cupidos aus schwarzem Jett, die den Bogen über dem Kopf hielten, und die Bogen waren mit feinen goldenen Ketten an den Haken der Ohrringe befestigt!

Sogleich fiel mir das Bild ein! Und die ganze Nacht.

»Mir liegt gar nichts daran, sie zu verkaufen, Sennor.« sagte der dunkle Juwelier, »wenn ich nicht meinen Preis dafür bekomme. Ein zweites Paar wie diese finden Sie nicht. Ich weiß, wer sie verfertigt hat. Sie wurden für einen Künstler gemacht, der nur ihretwegen hierher kam. Er wollte einer Dame ein Geschenk damit machen.«

»Una Mejicana?

»Nein, Americana.«

»Schön, mit dunklen Augen, – damals vielleicht zwanzigjährig, – rosig?«

»Wie, kennen Sie sie? Sie wurde allgemein Josefita genannt. Sie wissen, daß er sie getötet hat? Eifersucht. Als man sie fand, lächelte sie noch, so, als sei sie im Schlaf erschlagen. Ein »punal«. Ich habe die Ohrringe auf einer Auktion zurückgekauft.«

»Und der Künstler?«

»Starb im Irrenhause im Wahnsinn. Manche sagen, er sei schon verrückt gewesen, als er sie tötete. Wenn Sie wirklich die Ohrringe haben wollen, will ich sie Ihnen für sechzig Pesos lassen.«

Als ich eine Blume war

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Einstmals war ich eine Blume, schön und groß. Mein schneeiger Kelch war so reichen Duftes voll, daß die Insekten mit den Regenbogenflügeln, die sich auf mir niederließen, sich berauschten, und daß alle, die mich erblickten, an die Schönheit jener Weihrauchschalen dachten, die bei den Banketten der alten Cäsaren benutzt wurden.

Die Bienen sangen mir den ganzen leuchtenden Sommer lang ihr Lied, die Winde streichelten mich in den Stunden der Kühle, der Geist des Taus füllte bei Nacht meinen weißen Becher. Große Pflanzen, mit Blättern breiter als Elefantenohren, beschatteten mich wie mit einem Baldachin aus lebendem Smaragd. In der Ferne hörte ich den Fluß sein mystisches, ewiges Lied singen und Tausende von Vögeln zwitschern. Zur Nacht lugte ich durch meine seidigen Blütenblätter zu der unendlichen Prozession der Sterne hinauf, und bei Tage wandte ich mein Herz aus gelbem Golde für immer dem Auge der Sonne zu.

Kolibris mit prunkenden Brüsten, die von Sonnenaufgang herkamen, ließen sich bei mir nieder, tranken den duftigen Tau, der in meinem Kelche haftete, und sangen mir von den Wundern unbekannter Länder, von schwarzen Rosen, die nur in den Gärten der Zauberer wachsen, und von gespenstischen Lilien, deren Hauch Tod ist und die ihre Herzen nur tropischen Monden öffnen.

Man durchschnitt den smaragdenen Faden meines Lebens und steckte mich in ihr Haar. Ich fühlte nicht den langsamen Todesschmerz, wie die gefesselten Leuchtkäfer, die wie Sterne in der Nacht dieser herrlichen Flechten schimmerten. Ich fühlte, wie der Duft meines Lebens sich ihrem Blut vermischte und in die geheimen Kammern ihres Herzens eindrang; und ich trauerte, daß ich nur eine Blume war.

In jener Nacht schieden wir beide aus dem Leben. Ich weiß nicht, wie sie starb. Ich hatte gehofft, ihren ewigen Schlaf teilen zu dürfen, aber ein gespenstischer Wind, der zu den Fenstern hereindrang, riß meine toten Blätter auseinander und streute ihre weißen Reste auf das Kissen. Aber mein Geist blieb wie ein schwacher Duft noch in dem stillen Zimmer haften und umschwebte die Flammen der wächsernen Kerzen.

Andere Blumen, nicht von meiner Art, blühen über ihrer Ruhestätte. Ihr Blut lebt in den rosigen Kelchen dieser Blüten, ihr Atem schenkt den Blumen ihren Duft, ihr Leben durchpulst ihre Adern von durchsichtigem Grün. Aber in den Geisterstunden der Nacht hebt der barmherzige Geist des Taues, der um den Tod des Sommertages klagt, mich empor und vergönnt mir, mich mit den kristallenen Tränen zu vereinen, die auf ihr Grab fallen.

Seelenwanderung

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Diese Theorien, die Sie wilde Träume nennen,« rief der Doktor und erhob sich, während sein Gesicht im Mondlicht vor Begeisterung glühte, »sind nur die mystischen Schleier, mit denen die ewige Isis ihr erhabenes Antlitz verhüllt. Eure tiefe germanische Philosophie ist oberflächlich! Euer moderner Pantheismus verschwommener als Rauch im Vergleich mit dem mächtigen Wissen des Ostens. Die Lehren der größten modernen Denker wurden in Indien erdacht, bevor der Name Roms in der Welt bekannt wurde; und unsere heutigen Forschungen bestätigen nur den allerältesten orientalischen Glauben, den wir in unserer Unwissenheit als Träume von Wahnsinnigen bezeichnet haben.«

»Gewiß, aber Sie können den Gedanken der Seelenwanderung auch wohl nicht anders charakterisieren?«