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Inhalt

Mia Messer ist Kunstdiebin. Ihre Beute hängt in den großen Museen Europas und stammt zumeist von Künstlerinnen. Denn der Diebstahl von Bildern von Künstlerinnen, noch besser: von feministischen Künstlerinnen fällt weniger auf und die Medien interessieren sich dafür auch nicht. Praktisch.

Die Familie Barozzi ist eine alteingesessene Wiener Ganovenfamilie. Mia, die uneheliche Tochter eines der Barozzisöhne, wurde im familieneigenen Internat für ihre kriminelle Zukunft ausgebildet. Und sie ist außerordentlich talentiert. Ein weiterer Pluspunkt für ihren Beruf ist: Sie wird meistens übersehen. Karrieretechnisch super. Als Sängerin in der Susibar hat sie sich ein weiteres berufliches Standbein aufgebaut: Im ältesten Gewerbe aller Zeiten wirkt sie als Sängerin.

Mia hat Geld, Talent und ein Ziel: Sie will nie die »Gehen Sie ins Gefängnis«-Karte ziehen. Sie will ein Happy end für sich und ihre Familie. Wie im Kino. Aber: Wird der erste Einbruch auf eigene Faust gelingen? Der ganz große Coup?

Autorin

Mieze Medusa lebt in Wien. Aktiv als Slammerin, Rapperin, Autorin und Herausgeberin. Seit acht Jahren Gastgeberin des monatlichen textstrom-Poetry-Slams in Wien. Initiatorin von Ö-Slam, der österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaft (gemeinsam mit Markus Köhle). Zahlreiche Auftritte und Veröffentlichungen mit der Band »mieze medusa & tenderboy«. Teil der Lesebühne Dogma. Chronik. Arschtritt. (gemeinsam mit Markus Köhle und Nadja Bucher).
www.miezemedusa.com

Mia Messer

Roman
von
Mieze Medusa

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INHALT

Sing Sing

Kunst on demand

Kunst on display

Rennen, um stillzustehen

Canossagang, oder wie alles begann …

You’re in the army now

Große Pause

Katz und Maus und Scotland Yard

Sunset Boulevard am Wiener Gürtel

Alles Routine, alles Routiniers

Blut schwitzen in der Ewigen Stadt

Gute Führung

Abwarten, Kaffee trinken

Großstadttaggespenster

Wir holen dich da raus!

Stand up, get up

ARTig in Basel

People not enchanted

Schraubstockig und strichmundig

Luzern in the sky with diamonds

Strichmundschule

Schlafende Hunde

Feldforschung

Flucht nach vorne

Großvater ist auch nur ein scheiß STS-Song

Briefversteckwechsel

Plan B in Basel

Doin’ it

Morgen beginnt früher als geplant

Raumklima

Auf Fluchtabwegen

Schlagseite

Nobody moves, nobody gets heard

Kleingeldereien

Consenting young adults

The long and winding road

Ich bin etwas, das du nicht siehst

Just a little bit … of history repeating

Sag niemandem, dass du hier warst

No sleep till …

Total recall

Es brummt nicht

Out of the dark

Die hohe Kunst der tiefen Schläge

Each one, teach one

Stammbaum der Familie Barozzi

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Mia, bring mia was mit, wenn du wiederkommst,
falls du wiederkommst.
Nora Gomringer

Jedes Bild ist wie ein Messer ein Gebrauchsgegenstand
Blumfeld

Sing Sing

Mia singt, wie hinter Schalltüren und in Watte eingepackt. Das ist wie Atmen, nur anders. Sie singt. Sie läuft eine Straße entlang und ein Lied legt sich in ihr Ohr. Ihre Mutter hat es – möglich wär’s! – früher für sie gesungen oder nur für sich selbst, bloß war Mia da im Bauch schon angelegt und reagierte auf die Schallwellen wie der Kaktus auf Mozart. Das Lied ist immer schon da gewesen. Mia ist eine Raum-in-Raum-Konstruktion, ist wie von leeren Eierschachteln akustisch abgeschottet. Mia singt für sich selbst. Ihr unterm Atem gesummtes Lied trägt kein rotes Samtkleid, ihr Gesang schminkt sich nicht, nimmt kein Mikrofon in die Hand, singt nicht in einer Bar oder in einem Konzerthaus, trällert keine Charts rauf und runter. Mias Lied hat keine verfilzten Dreads und lächelt dir auch nicht nach, wenn du ihm vorher ein paar Münzen in den bereitgelegten Filzhut gelegt hast.

Mia singt in Bars und in Unterführungen, jetzt aber andere Lieder: Was von R.E.M. und Knocking on Heaven’s Door, Stairway to Heaven natürlich oder Lady Marmalade, da braucht sie aber Begleitung, das fetzt a capella überhaupt nicht, da legt dir niemand seine Münzen und Scheine in die Spendenschachtel. Oder Jingle Bells, wenn du mit der Jahreszeit grad Pech hast und erst Geschenkestress und dann Graulichtblues auf dich zukommen. Mia singt gern. Mia singt gut. Aber ihr Lied, das singt sie selten laut. Mias Lied ist wie ein Tinnitus, den man gar nicht mehr so richtig hört, vor allem, wenn der Kopf sich mit etwas anderem beschäftigt. Als würde man die Stimme des Chefs, der schon wieder irgendetwas will, einfach ausblenden.

Manchmal pumpt sich das Lied Luft in die Lungen, unterlegt sich mit Streichern aus der Dose und wird richtig laut. Dann spielt die Melodie in Mia sich in den Vordergrund.

Die anderen bemerken Mia irgendwie weniger, wenn sie ihr Lied singt. Es ist, als fiele es dann noch schwerer, sich auf sie zu konzentrieren. Als wäre sie auf einmal weniger sichtbar. Dabei ist sie schon im Normalzustand leicht zu übersehen: klein, unauffällig, mit ruhigen Bewegungen – mit so gemorphten Gesichtszügen, als hätte jemand Heidi Klum, Princess Di, Pink und Romy Schneider übereinandergelegt und einen Durchschnittswert abgepaust. Die Nase ist dort, wo eine Nase sein soll, sie hört auf, wo eine Nase aufhören soll, und einen Höcker hat sie auch nicht. Es wird einem etwas langweilig, wenn man ihr ins Gesicht schaut. Man schaut gern wieder weg. Singt sie dann auch noch ihr Lied, na ja, dann rutscht sie noch weiter in die Peripherie ab. Irgendwie gleitet sie zwischen den Sinnen durch.

Kein Vorteil, wenn sie, sagen wir mal, einen Mann beeindrucken will. Durchaus ein Vorteil, wenn sie, sagen wir mal, ein Bild aus einem Kunstbunker unauffällig entwenden möchte.

Mia ist Single. Sie lässt grad eine echte Niki de Saint Phalle aus ihrem Rahmen fallen, rollt die Leinwand zusammen und schiebt sie in ihre Tasche. Nicht im Centre Pompidou, wohlgemerkt, die dezimieren ihre Bestände ganz gut von selbst, die brauchen dafür keine Expertin von außen. Mia steht in einem schicken, durchdacht designten Betonglasneubau in einer kleinen, aber selbstbewussten Stadt in Deutschland, in einem modernen, weltoffenen Kunsttempel, der auf seiner Webseite mit seinen Saint-Phalle-Bildern prahlt. Mia ist froh, das Museum gefunden zu haben. Die Niki ist eher für ihre Skulpturen bekannt. Eine der Nanas zu klauen, kommt aber nicht infrage. Tonnenschwere Skulpturen behindern das unauffällige Verschwinden – und überhaupt, wo soll man sie nach erfolgreichem Diebstahl lagern?

Das schnuckelige Museum, in dem Mia gerade rumsteht, ist zwar gut versichert und gründlich abgesperrt, aber: Die Überwachungskameras haben eher die Mitarbeiter auf dem Schirm und vielleicht, was weiß Mia denn schon über Angestelltenverhältnisse, auch allen Grund dazu. Vielleicht will man dem Personal nicht zumuten, dass es sich mit den ambitionierten Exponaten tagein, nachtaus auseinandersetzen muss, während es seine Kontrollblicke über die Bildschirme gleiten lässt. Das war ein Seitenhieb. Natürlich sitzt nachts niemand vor den kunstüberwachenden Monitoren, und auch tagsüber sind die Sitzplätze schwach besetzt. Lohnkosten müssen eingespart werden. Die Sicherheitstechnik dient nicht der Überwachung, sondern der Überprüfung des Schadenfalls im Nachhinein. Um dann, wenn es schon zu spät ist, einen visuellen Anhaltspunkt zu haben, what the fuck jetzt eigentlich passiert ist. Deshalb trägt Mia einen großkrempigen Nylonsonnenhut, das Werbegeschenk eines bekannten Sonnencremeherstellers. Der wird sich freuen, wenn sein Logo morgen auf den Titelseiten prangt, immer brav Mias Gesicht verdeckend …

Es gibt da eine Webseite, die interessierte Wirtschaftstreibende und medienwirksame Kriminelle anonym zusammenbringt. Die Firmen legen, wie bei den Google-Ads, fest, wie viel sie investieren wollen und zahlen nur bei Erfolg, also nur, wenn ein Foto mit ihrem Logo in den Medien landet. Dabei können sie auswählen, welches schlagzeilengenerierende Verbrechen zu ihrer Produktlinie passt: Kunstdiebstahl hat ein wesentlich besseres Rating als Erpressung. Amoklauf ist triple a, was die Medienaufmerksamkeit betrifft, als Werbeträger aber wenig beliebt. Bezahlt wird mit Prepaid-Karten, Barschecks oder Handywertkarten, die an gewisse Postfächer versendet werden. Dahinter steckt eine Datenbank, die Daten sind natürlich verschlüsselt. Die nicht sonderlich straff organisierte Kriminalität agiert professioneller als die GIS. Oder Sony. Mia hat sich angemeldet, ihr Postfach lagert in der Schweiz, sie glaubt nicht, dass ihre E-Mail-Adresse Rückschlüsse auf sie zulässt. Mia ist gespannt, welche Medien auf ihren Einbruch reagieren werden. Wenn sie das lokale Klatschblatt knackt, sind ihre Ausgaben gedeckt, bei der BILD kann sie sich vorerst zu Ruhe setzen.

Deswegen ist sie allerdings nicht hier. Sie ist wegen der Kunst hier. Sie ist hier, um eine echte Niki de Saint Phalle zu stehlen und sie nachhause zu Louise Barozzi zu bringen.

Sie zeichnet auf Hüfthöhe eine imaginäre Linie an die Wand, damit sie der Versuchung widersteht, in die Kameras zu blicken, nur um zu überprüfen, ob sie noch da sind. Das Entfernen des Bildes aus dem Rahmen wird dadurch nicht gerade erleichtert. Aber besser ein Sponsorlogo auf den Zeitungstitelseiten als ihr Gesicht. Wenn sie es überhaupt auf eine Titelseite schafft! Das Bild zählt nicht gerade zu den wichtigsten Exponaten der Sammlung. Wenn nicht, dann hat Mia wieder einen Ausflug umsonst gemacht, hat ihre Energie und ihre Ressourcen wieder umsonst strapaziert. Wie bei der Oswald und der Katharina Macheiner. Das Verschwinden ihrer Bilder war nur der lokalen Presse eine Kurzmitteilung auf Seite irgendwo weit hinten wert. Der Oswald wurde sogar unterstellt, sie hätte die Bilder selbst geklaut, wegen der Publicity. Mia ist sich nicht sicher, wer sich mehr geärgert hat: Mutter Barozzi oder die Oswald selbst.

Den Blick sorgfältig Richtung Boden haltend, tastet Mia die Rückseite der Leinwand ab. Sie rechnet nicht mit einem Kontaktalarm, aber sicher ist sicher. Ihr Fluchtweg ist ein Fenster im Erdgeschoß. Wenn sie es einschlägt, schlägt das Überwachungssystem Alarm. Bis dahin: Stille.

Ein paar Schritte von ihrem Fluchtwegfenster entfernt hat sie letzte Nacht einen Kanaldeckel mit einem Aushebeschlüssel angehoben. Sie hat sich, als sie das Museum betreten hat – ohne Nylonhut, aber mit Schirmkapperl, damit sie auch bei einer gründlicheren Untersuchung des Videomaterials unerkannt bleibt –, mit einem Blick davon überzeugt, dass der Deckel immer noch leicht angehoben über dem Kanaleinstieg liegt. Wenn sie jetzt aus dem Museum sprintet, muss sie, bevor die Polizeistreife kommt oder der private Wachdienst, nur noch den Deckel verschieben und den Schacht runterklettern. Die müssen sich sowieso erst mal kompliziert einen Überblick verschaffen. Sie rechnet mit einem Vorsprung, hat sich in den Tagen davor unterirdisch umgeschaut, kennt sich also aus und hofft, auch dann zu entkommen, wenn ein übereifriger Polizist den Kanal überprüfen will, bevor er sich im Museum umsieht.

Sie ist immer noch überrascht davon, wie leicht es war, sich in einem Eck zu verstecken, als der Museumswärter seinen letzten Rundgang gemacht hat. Aber warum ist sie eigentlich überrascht? Es ist wirklich nicht das erste Mal, dass Mia übersehen wurde.

Kunst on demand

Kurz vor der Tür stehen bleiben und ein bisschen hellhörig werden, ist kein Spionageakt. Mit einem kurzen Stehenbleiben vor der Tür verschafft Mia sich ein paar Informationen und vielleicht einen fingerhutgroßen Vorteil, aber belauschen, nein, so würde Mia das nicht nennen. Sondieren vielleicht, Vorratsdaten speichern und bei Bedarf ausheben und filtern: Wer ist im Raum, wie ist die Stimmung, über was wird geredet und über wen?

Mia lehnt an einer Gangwand der Barozzi-Wohnung. Die dunkle Samttapete ist nicht neu. Die zerkratzte Ledertür ist Mia seit ihrer Kindheit vertraut. Im Zimmer regt sich nicht viel, Mia hört das leise Dudeln eines Radios, sie glaubt Papierrascheln ausmachen zu können. Aus einer anderen Richtung des Gangs hört sie das Wirtschaften des Mädchens, das für das Wohlbefinden der Barozzis zuständig ist. In Mias Innerem sinuskurvt um ihren Puls noch das Lied, marschiert Adrenalin durch Muskelfasern. Morgen wird sich jede Faser ihres Körpers in eine andere Richtung verziehen und »Ich! Ich! Ich!« schreien. Dabei ist alles nach Plan gelaufen. Der Kanaldeckel hat sich verschieben lassen und Mia war weg, bevor zwei Polizeiautos mit Blaulicht, aber ohne Folgetonhorn vorm Museum stehen blieben. Die wasserdichte Rolle mit der Saint Phalle wie eine Collegetasche umgehängt, hat Mia sich rostige Sprosse um rostige Sprosse nach unten gleiten lassen und ihren Weg gefunden, ohne die Taschenlampe einschalten zu müssen. An der Wand entlangtastend hat sie sich ins Dunkel hineinbewegt und sich erst hinter der Biegung mit der mitgebrachten Mag-Lite die Orientierung erleichtert. Aufklatschende Wassertropfen und leises Huschen, sonst war nichts zu hören.

Zur Ausstiegsstelle. An rostigen Sprossen nach oben, in die Nacht lauschen, bis sie sich sicher fühlte. Es war schwieriger als erwartet, den Deckel zu verschieben, glückte aber. Als sie, abgesehen von ein paar entfernten Motorengeräuschen, nichts hören konnte, tauchte Mia aus dem Kanaldunkel auf, ins Nebenstraßendunkel hinein, hievte sich hoch und ging die paar Schritte zum geparkten Mietauto ohne Eile, so als wäre es das Normalste auf der Welt, dass eine junge Frau in dreckigen Kleidern, einem Nylonhut mit dem Logo eines Sonnencremeherstellers und einer umgehängten Bilderrolle aus dem Nichts auftaucht und durch die Nacht spaziert. Sie hat sogar daran gedacht, den Fahrersitz mit Handtüchern zu bedecken, damit niemandem verräterische Dreckspuren in Erinnerung bleiben. Sie hat bei der Auswahl des Autos darauf geachtet, ein älteres Modell zu nehmen, eines mit schon einigen hunderttausend Kilometern am Tacho und mit Dellen am Kotflügel. Der Vermieter sollte nicht stolz darauf sein, sollte es bei der Zurücknahme nicht genau untersuchen wollen. Und auf die PS kommt es beim Fluchtauto ja auch nicht an. Mia ist keine besonders gute Autofahrerin. Wenn es zu einer Verfolgungsjagd käme, könnte sie gleich am Pannenstreifen parken und die Warnblinkanlage anschalten, Hände am Lenkrad – dort, wo man sie sehen kann.

Flashback. Ein anderes Zimmer. Eine junge Mia und ein Trupp Jungs. Susanne, die doziert: »Nicht die Schnelligkeit deines Autos zählt, das ist Kino. Ihr müsst so handeln, dass es gar nicht zu einem Wettrennen kommt.«

Mia ist geneigt, Susanne zuzustimmen. Mia ist meistens geneigt, Susanne zuzustimmen. Von ihrer Karriere als Kunstdiebin weiß Susanne aber nichts. »Behalten wir das alles für uns«, hat Mutter Barozzi zu Sophie und Mia gesagt, »meine Möchtegern-Schwägerin muss ja nicht alles wissen. Sie ist nicht die Einzige mit guten Ideen. Das werden wir ihr beweisen.« Mia hat ihr zugestimmt, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Jetzt atmet sie durch, stößt sich von der Gangwand ab, klopft, was auf dem Türleder dumpf und muffig und vertraut klingt, und betritt das Zimmer.

»Da bist du ja endlich!«

Eine Frau mit sorgfältig gelegter Dauerwelle, einem sehr geraden Strichmund, der Mia schon lange nicht mehr beunruhigt, und eher zu auffälligem Make-up mustert sie kritisch. Fünf Sessel stehen rund um einen dunklen Holztisch, der für das Zimmer zu groß ist; keiner passt zum anderen und zum Tisch sowieso nicht. Trotzdem ein überzeugendes Ensemble. Dahinter macht sich eine Sitzgruppe breit, auf der Sophie auf diese nonchalante Art lungert, die sie für ihre Eltern auch mit Ende zwanzig noch im Repertoire behält, die Mia sehr vertraut ist, die sie aber nicht nachahmen kann.

An einer Wand steht ein mit ernsthaften Lederrücken vollgestopftes Bücherregal. Attrappen für dahinter versteckte Taschenbücher, Liebesromane und ein paar Krimis. Die meisten Attrappen sind leer. Daneben hängt ein Ölbild, das Louise Barozzis ersten Ehemann zeigt, Sophies Vater. Ein echter Barozzi. Die anderen Wände sind in gedeckten Farben ausgemalt und von oben bis unten mit Kunstdrucken und schlampig ausgeführten Malen-nach-Zahlen-Bildern behängt, die Louise ihrer Schwiegermutter und ihren eigenen Geschmacksvorstellungen zum Trotz an die Wände gehängt hat. Die Mona Lisa grinst schief, aber anders schief als auf den unzähligen Kaffeetassen und Mousepads, die sie zieren darf, anders auch als im Louvre. Ein paar Sonnenblumen geben sich Mühe, nicht zu verwelken. Ein Nitsch-Schüttbild hat es zu Malen-nach-Zahlen-Ehren gebracht, was, wenn man darüber nachdenkt, ironisch ist.

Mia wundert sich wieder einmal, wo Mutter Barozzi die Vorlagen findet. Wahrscheinlich zahlt sie einem Kunststudenten einen Hungerlohn oder es gibt im Internet ein Programm dafür: Malen nach Zahlen on demand.

»Wo warst so lang? Ist was passiert? Wir haben uns Sorgen gemacht.« Sophies Haltung verrät nicht viel von der bekundeten Unruhe, aber Sophie ist darauf spezialisiert, Emotionen aufzublasen oder runterzuspielen, je nachdem. Sophie Barozzi, die einzige anerkannte Tochter einer Ganovendynastie, Mias beste Freundin.

Susanne, denkt Mia, glaubt nicht so recht an Freundschaft.

»Hast du das Bild?« Ein schneller Griff zeigt die Ungeduld der Dienstältesten, Frau Barozzi, in diesem Zimmer. Mia übergibt den Schutzzylinder ihrer, ja was eigentlich, Tante? Vorgesetzten? Stiefmütterlichen Freundin? Die öffnet ihn.

»Handschuhe!«, ruft Mia.

Mutter Barozzi legt den Zylinder weg, macht ein paar Schritte auf das Bücherregal zu, zieht den Lederrücken mit dem Titel Lederstrumpf hervor, öffnet die Attrappe und entnimmt ihr ein Paar weiße Baumwollhandschuhe. Sie greift wieder nach dem Zylinder, zieht sorgfältig und unter angehaltenem Atem die Leinwand hervor, rollt sie auf und betrachtet sie.

»Mmh«, sagt sie schließlich, »ich hätte sie mir größer vorgestellt.«

»Die ist gar nicht so bunt, wie ich gedacht hab’.«

Vor allem Sophies Kommentar ärgert Mia. Sie macht die Arbeit ohnehin lieber allein, das minimiert Fehlerquellen, zumindest in Sophies Fall, die keine ganz schlechte Diebin ist, aber auch keine so gute, wie sie selbst glaubt. Mia will auf die Kunstkataloge, die sich in ihrem Zimmer stapeln, hinweisen, lässt es aber bleiben. Sophie allein in ihrem Zimmer, dieser Gedanke hemmt Mia. Nicht, dass sie etwas zu verbergen hätte. Aber Sophie ohne Aufsicht in Mias Zimmer, ist kein Gedanke, der Mia ein warmes, weiches Gefühl in der Magengegend verschafft. Ihre Freundin geht ohnehin in ihrer WG, in ihrem Zimmer und in ihrem Leben ein und aus. Man muss sie nicht noch extra dazu auffordern.

Mutter Barozzi macht sich an ihrem Bücherregal zu schaffen und lässt die Wand zur Seite schwingen. So wie die Lederrücken Attrappen für den wirklichen Lesestoff sind, ist das Bücherregal Camouflage für eine Stahltür. Und genauso leicht zu durchschauen. Als Mutter Barozzi den Code eintippt, schaut Mia höflich woanders hin. Sie will keinen Zugang zum Barozzi-Wohnzimmertresor, hat aber den Verdacht, dass es kein großes Problem wäre, ihn zu knacken. Die Tür schwingt auf. Mutter Barozzi nimmt die Saint Phalle vom Tisch, betritt den Raum und winkt den beiden zu: »Kommt mit«.

Hinter der Tür befindet sich eine Kommode, die den Erbschmuck beinhaltet beziehungsweise dessen Fälschungen. Die Originale sind in einem Bankschließfach gelagert, zu dem keine der Frauen Zugang hat, und werden, seit die Kopien so ausnehmend gut geworden sind, eigentlich gar nicht mehr hervorgeholt. Auch die Anlässe dafür werden weniger. Dieses Jahrzehnt ist für die Barozzis kein gutes. Auch im Jahrzehnt davor wurde eher der Schein gewahrt. Der große Wurf, ehrliche epochale kriminelle Arbeit, dafür reicht es zurzeit nicht so ganz. Worauf die Großmutter gern hinweist.

Die Wand auf der anderen Seite des Tresorraums ist bis auf zwei Gemälde leer. Die Bilder der Oswald und der Macheiner werden von bunten Leuchtketten, die Mutter Barozzi wohl aus Sophies Zimmer stibitzt hat, eher überstrahlt als beleuchtet.

»Ich wollte keinen Elektriker rufen«, lächelt sie entschuldigend in Sophies Richtung. Dann klebt sie das Saint-Phalle-Bild mit einem Streifen doppelseitigen Klebebands an die Tresorwand, tritt einen Schritt zurück und strafft die Schultern.

»Die ganze Wand will ich voll haben«, flüstert sie und macht dabei eine Handbewegung, die nicht so ganz zum Raum passen will. Mia seufzt.

»Und jetzt?« Sophie strahlt Mia an. Mia hat eine ungefähre Ahnung von Sophies Wünschen, Plänen und Träumen. Sie wird sie überreden wollen, mit ihr auszugehen, sie wird nicht nur alles wissen wollen, sie wird auch darauf bestehen, dass Mia es ihr in einem Club erzählt, in dem sie die ganze Zeit gegen den Beat anschreien muss. Und weil Sophie selbst nichts zu erzählen hat, wird morgen nur Mia ein Kratzen im Hals haben und mit Wut im Bauch Lakritze kauen.

Wenn Mia nicht mitgeht, hat Sophie die Wut im Bauch, morgen und übermorgen und den Rest der Woche. Außerdem wird sie dann das nächste Mal darauf bestehen, selbst mitzukommen, weil sie ja sonst nie zu Informationen aus erster Hand kommt, wie sie sagen wird. Und das will Mia um jeden Preis vermeiden. Sophie ist als Diebin okay, aber Mias Talent zur Unauffälligkeit hat sie nicht. Mia ist selbst nur Kunstdiebin mit beschränkter Erfahrung. Sie kennt sich mit Alarmanlagen aus, aber eher mit denen von Autos. Sie hat auf den Spuren der Gebrüder Sass schon Tresore aufgeschweißt, aber das war in der Lehrwerkstatt der Barozzis. Sie ist schon in Häuser eingestiegen, aber in keine gut gesicherten. Ihr Bonus ist ihre an Unsichtbarkeit grenzende Unauffälligkeit. Ihr Bonus ist ihr Lied, das sie singt und dann: stealth mode.

Kein Museumswärter der Welt würde Sophie übersehen, wenn er nach der Schließung des Hauses auf seinem letzten Kontrollgang an ihr vorbeikäme, auch dann nicht, wenn sie auf den obligatorischen Minirock verzichtet hätte. Ist nicht wichtig. Sophie hat einen toten Vater, der für sie vorgesorgt hat, sie hat einen Onkel, eine Mutter, einen Stiefvater und Susanne, die alle den Laden für sie führen. Da kann sie auch gleich nur den Scheck einstecken und so tun, als würde sie studieren.

Mia dagegen hat sich selbst. Und ihr Lied. Und ein paar Träume. Aber reicht das? Mia will etwas sein. Sie will etwas haben. Nicht unbedingt Geld, das liegt auf der Straße, wenn man nicht zu faul ist, sich zu bücken. Die Währung, die Mia interessiert, ist Status. Ein Platz in der Familie, den ihr niemand mehr streitig machen kann. Oder ein Platz weit weg, wo sie niemand kennt. Same same but different.

Kunst on display

»Ich hab’ nichts anzuziehen, ich muss zurück in meine Wohnung«, übt Mia sich in der hohen Kunst der faulen Ausrede, weiß aber, dass Sophie genau für solche Anlässe ein Kastenfach für Kleider hat, die sie regelmäßig aus Mias Zimmer entwendet. Sophie grinst und spart sich die Antwort. Sie weiß es schließlich auch.

»Was meinst du? Gemma Gürtel? Volksgarten? Innenstadt?«

Mia hat keine Ahnung, was heute wo passiert und was davon man auf keinen Fall versäumen darf. Dafür ist Sophie zuständig. Sophie zieht eine Packung Zigaretten aus der einzigen Tasche ihres Jeans-Minirocks. Soweit Mia informiert ist, raucht Sophie zurzeit eigentlich nicht. Wegen Josh, ihrem Freund. Der ist Sportler und ernsthafter Mahner gegen körpereigenen Raubbau.

»Am Gürtel könnten wir einfach rumlaufen, schauen, was passiert. Aber ich glaub’, Josh macht das heute auch. Also Volksgarten

Hat sie also mit Josh aufgehört, nicht mit dem Rauchen? Mia grinst. Sophie macht solo mehr Spaß als mit Freund. Sophie bemerkt Mia wenigstens. Meistens. Von ihren Freunden kann man das nicht gerade behaupten. Mia ist den verwirrten Blick von Sophies Männern leid, die ihr Gesicht auch beim fünften Treffen noch nicht zuordnen können. Schon klar, Sophies Freunde sind nicht immer die hellsten. Schon klar, Mia verschwimmt mit dem Hintergrund, auch wenn keine strahlende Sophie neben ihr steht. Mia macht ja niemandem einen Vorwurf, aber es macht ihr auch keinen Spaß. Sie läuft Sophie nach. Die beiden steigen in eine U-Bahn, aber schon ein paar Stationen vor ihrem Ziel zieht Sophie Mia hinter sich her und steigt aus. Sie läuft absatzklappernd die Treppe hoch, Mia keucht. Morgen wird sie auf jeden Fall einen Muskelkater haben.

»Wo willst du hin?«, ruft sie in Sophies Rücken hinein, »ich denk’, wir wollen in den Volksgarten

»Später. Ist doch noch zu früh.«

Wenn man mal so darüber nachdenkt, ist die Wahrscheinlichkeit echt hoch, dass man auf einer Vernissage auf Vollidioten trifft, denkt Mia mit einem Glas Weißwein in der Hand. Wenn schon kein Vollbad, dann wenigstens ein Drink, hat sie sich überlegt und versucht, den Menschen mit Tablett in der Hand zu stoppen, ihm resigniert hinterhergepfiffen und als das auch nicht geholfen hat, ihn mit ein paar Schritten eingeholt. Mia ist geübt im wolf whistling. Aber bevor sie hier alle auf sich aufmerksam macht, läuft sie lieber ein paar Schritte und greift selbst zu. Sie nimmt einen Schluck, sieht sich noch mal um.

Wen kann man auf einer Vernissage treffen? Leute, die die Taxifahrt absetzen und gratis trinken wollen. Und irgendwo in deren Hinterköpfen loopt der Gedanke, dass das Bild, das ihr exquisiter Geschmack sie auswählen lässt, eine zinsensichere Investition in ihre Zukunft sein wird.

Wer geht noch auf eine Vernissage? Singles, die sich ihre Erwartungshaltung, auf einem kulturellen Event ein qualitativ höherstehendes Partnerangebot zu finden, trotz Enttäuschung noch nicht abtrainiert haben? Mia hat das nicht sorgfältig empirisch getestet, hat aber Erfahrungswerte. Sie hat sich umgesehen. In Vorbereitung auf das Projekt – »auf unsere Sache«, wie Sophie sagen würde. Nicht nur hier. Mia reist sowieso gerne und für die Familie ist auch immer irgendwo irgendwas zu tun. Da lässt sich das Nützliche mit dem Notwendigen verbinden.

Sie war in Linz und Graz, in Paris, in London, in Berlin und auch auf so einem kleinen Bauernhof in Südtirol. Die Künstlerin wurde ihr natürlich auf einer Vernissage empfohlen. Mal im Ernst: In ihren Kreisen kann sie sich aufs Hörensagen verlassen. In ihren Kreisen stimmt es, wenn einer, dem du vertraust, einen anderen empfiehlt. Die Kunstwelt arbeitet da anders. Jedenfalls war die empfohlene Künstlerin für das Projekt ungeeignet. Zu naiv, zu erdgebunden, auch zu wenig organisiert. Dass ein Werk fehlt, wäre der nicht aufgefallen, was für eine PR-geile Kunstdiebin nicht gerade ideal ist. Oder die andere, die als Happening Sonnenuntergänge nackt hinkleckste …

»Du sollst dir kein Bild machen«, hat Schwester Bernadetta immer gesagt, fällt Mia plötzlich ihre Klosterschulzeit wieder ein, und Mia kann jetzt ergänzen: auch kein abstraktes.

Wobei: Sie ist ungerecht. Erstens hat sie den Leuten, die ihr diese Künstlerinnen empfohlen haben, ohnehin nicht vertraut. Und wenn du bei der Fahrersuche für einen Bank-Job so vorgehst, kannst du gleich deinen Anwalt anrufen. Mia bleibt vor einem Bild stehen und versucht, aus dem Schild schlau zu werden.

»Wie der Maler sein Objekt mit der Umwelt in Beziehung setzt, ist, finden Sie nicht, profund, ungewöhnlich und unter die Haut gehend?«

Mia dreht sich um. Es hat sich einer zu ihr gestellt, sie taxiert ihn: ein Anzug, für den man locker zwei rosa Scheine hinlegt, der aber schon ein paar Saisonen alt ist, mit Absicht schlampig geputzte Schuhe, auffällige Brille. Wirklich begeistert und beruflich erfolgreich, aber nicht mehr so wie früher. Vielleicht in der Werbung. Irgendwas an seiner Aussprache macht Mia stutzig. Sie stellt sich neben ihn und betrachtet eindringlich das Bild.

»Wieso?«, antwortet sie schließlich, »weil sie nackt ist? Oder wegen dem Spiegel?«

Der Kunstfan macht einen abrupten Schritt nach vorn. Mia kann gerade noch ihre Hand aus seiner Gesäßtasche ziehen, sein Geld bleibt drinnen. Das war knapp. Mia hätte gewettet, dass er sich unauffällig in ihre Richtung lehnen, dass er versuchen wird, Körperkontakt herzustellen. Sie muss wirklich müde sein, wenn ihr solche Fehleinschätzungen passieren.

Mia unterzieht ihren Gesprächspartner einer genaueren Musterung. Er kommt ihr diffus bekannt vor, aber das passiert ihr öfter. Sie hat schon viele Gesichter in ihrer Datenbank abgelegt, hat unzählige Passanten taxiert und versucht, ihre Bewegungsmuster abzuspeichern, sie auf ihren Wert und ihre Wachsamkeit einzuschätzen. Manchmal ertappt sie sich bei dem Gedanken, ob sie schon mal jemanden von früher ausgeraubt hat. Einen Nachbarn aus dem Dorf? Oder Theresa, ihre Kindheitsfreundin?

»Ob die Symbolik des Spiegels in diesem Kontext von großer Originalität spricht, darüber kann man natürlich diskutieren, aber sehen Sie die Bettdecke? Wie sie – zu einer unbewussten Landschaft stilisiert – Auskunft gibt über die Klüfte im Selbstbild der Frau? Wie sie zur Kontemplation einlädt und dazu, in den Höhen und Tiefen dieser fiktiven Biografie zu verweilen und nach dem Schlüssel, nach dem Zugang zu suchen?«

Der Mann dreht sich zu ihr um, sein Blick streift Mia, gleitet an ihr vorbei durch den Raum. Mia ärgert sich. Warum hat er sie angeredet, wenn er jetzt an ihr vorbeilinst? Und wenn er sie schon anredet, warum redet er so einen Mist?

»Ich seh’ die Bettdecke.«

Der Mann lächelt sie an. Ansteckend. Vertraulich. Irritierend.

»Eine außergewöhnliche Bettdecke, finden Sie nicht?«

Auch ein vertiefter Datenbankabgleich bleibt ergebnislos. Mia ist beunruhigt. Er hat einen leichten Akzent, den er nicht zu leugnen versucht, aber selbstbewusst in den Hintergrund schiebt. Auch nach ihrem Datenbankcheck bleibt der Eindruck, dass sie ihn kennen sollte. Dass er sie kennt. Erkennt. Vielleicht ist sie auch einfach nur verblüfft, weil er sie überhaupt bemerkt hat.

Mia stoppt den Caterer von vorher, der sich mit einem Tablett durch die Menge schiebt, und nimmt ihm zwei Weißweingläser ab. Sie stellt sich neben den Mann, gibt ihm eines davon und platziert ihre Hand unauffällig auf seinem Unterarm, versucht den Ärmel seines Anzugs ein wenig nach oben zu schieben. Die Manschettenknöpfe sind die Mühe nicht wert. Unter dem Hemd blitzt eine Tätowierung hervor, die sich bis zum Handrücken zieht. Sie wirft einen Blick auf seine Hose, sie kann sehen, wo sie von der Geldtasche ausgebeult wird. Ein verführerischer Anblick. Aber der Moment ist vorbei. Sie versucht, zurück ins Gespräch zu finden. Ach ja, die Bettdecke. Außergewöhnlich, nicht?

»Wie meinen Sie das?«

Jetzt starrt der Mann sie an, er hat wohl ebenfalls Mühe, ins Gespräch zurückzufinden. Er nimmt einen Schluck Wein, lässt die Flüssigkeit im Mund hin und her rinnen. Mia lächelt unverbindlich, lässt ihn stehen und sucht im Raum nach Sophie. Die steht bei einem Mann. Was ihre Hände machen, kann Mia nicht erkennen, aber ihre Augen strahlen. Mia versucht einen besseren Blick darauf zu bekommen, wer neben ihr steht, wer sie so zum Glühen bringt. Die schlechte Nachricht: Es wird eine lange, langweilige Nacht werden. Die gute Nachricht: Ihre Stimmbänder werden nicht darunter zu leiden haben. Als sie den Raum an Sophies und noch jemandes Seite verlässt, spürt sie Blicke im Rücken. Aber vielleicht starrt er auch Sophie hinterher. Die glitzert.

Rennen, um stillzustehen

Es ist ärgerlich, wie lang sie heute für ihre Runde braucht. Mia glaubt nicht an Katerstimmung, sie glaubt an Selbstbestrafung. Außerdem ist Training dazu da, die schlechte Form zu verbessern und schlecht in Form ist sie heute, das lässt sich weder leugnen noch verheimlichen, schon gar nicht vor sich selbst.

Es sind mehr als ein paar Schritte bis zum Kanal, den sie gern entlangläuft und dann weiter, es gibt mehr als eine Gelegenheit zu stolpern, und jede davon nützt sie pflichtbewusst aus. Das liegt am Muskelkater, der ihr heute die Grenzen ihres Körpers neu vor Augen führt, liegt an ihren Beinen, Knien, Fersen, Zehen und Schenkeln. Früher war das anders. Früher war Laufen am Kanal – manchmal gemeinsam mit Fabio, manchmal mit Sophie – etwas mit Schwung, etwas mit Atem genug für irrelevante Gespräche, für Blödsinn. Etwas, das Spaß gemacht hat, keine Pflichterfüllung, um körperlich auf Augenhöhe mit den Herausforderungen der Arbeitsnächte zu sein. Sie ist alt. Und nicht mal über Nacht geworden, obwohl die letzten Nächte ihren Teil dazu beigetragen haben. Sie ist nicht alt, schimpft sie mit sich, sie ist verkatert und übermüdet und die Anspannung lässt grad nach.

Unten am Kanal wird es besser, so, wie es immer besser wird, sobald eine sich träge dahinwälzende, graubraune Wasserfläche auf ihre Tagesverfassung einwirkt. Wasser beruhigt sie und stellt ihren Fokus scharf, macht ihr Lust darauf, sich anzustrengen. Das T-Shirt klebt. Schweiß rinnt ihr zwischen den Brüsten durch, den Rücken runter, ab in die Arschfalte und dann weiter. Mia fragt sich, ob sie den ganzen Alkohol rausgeschwitzt haben wird, wenn sie mit ihrer Runde fertig ist.

Aber es hat ja Grund zu feiern gegeben. Ihr Diebstahl, Sophies Glitzern. Nach der Vernissage sind sie doch noch, wie geplant, in einem Club gelandet. Sophie hat, wie geplant, ihren Typen an der Hand hinter sich hergezogen und den Rest der Nacht nicht mehr aus den Augen gelassen. Mia hat getanzt. Getrunken haben alle. Sophie hat am Klo auch noch was anderes gemacht, von dem Mia nichts wissen will, weil Susanne davon abrät und sie selbst es seit dem letzten Versuch blöd findet. Sie läuft eine Treppe hoch, überquert den Donaukanal, es macht mehr Spaß, auf der anderen Seite zurückzulaufen, außerdem mag Mia Brücken.

Als sie endlich wieder in der Wohnung steht, brennen ihre Lungen mit den Muskeln um die Wette. In der Küche hockt Sophie, in den Kleidern von gestern.

»Na?«

Sophie hat schon wieder eine Zigarette im Mund. Sie schaut nicht so aus, als hätte sie viel geschlafen, sieht aber glücklich aus. Es ist Sophies großes Talent, am Morgen danach adrett aus der Wäsche zu schauen. Obwohl sie das immer mehr Mühe kostet. Obwohl es ihrer Handtasche immer mehr Geheimfächer für Notfallkosmetik abverlangt. Wie hieß er nochmal? Raffael.

»Na.«

Mia versucht, gleichzeitig die Einbauküche zu verschieben und die Ferse des nach hinten gestellten Fußes auf den Boden zu drücken. Den Körper durchzustrecken. Die Schweißflecken unter ihren Achseln sind ihr vor Sophie peinlich. Aber sie fühlt sich besser, ein kleines bisschen runderneuert. Die Fasern in ihrem Ober- und Unterschenkel verlängern sich unter Protest. Lautem Protest. Aber immerhin strecken sie sich.

»Gehen wir zu mir? Mama wartet schon ...«

Mutter Barozzi sitzt gelassen an ihrem dunklen Mahagonitisch und blättert sich durch einen Stapel Hochglanzmagazine. Sie legt ihr Lineal auf ein Blatt und reißt eine der Seiten heraus, steckt sie in eine lederne Aktenmappe. Louise sammelt Celebrities. Das Geräusch hinterlässt eine Gänsehaut auf Mias Unterarmen. Mutter Barozzi nimmt ihre Brille ab und lächelt: »Da seid ihr ja! War ja höchste Zeit. Das Auto wartet schon.«

Mia schaut so ratlos, dass Sophie zu lachen beginnt. In Mias Magen vermischt sich der letzte Drink von gestern Nacht mit der Leere, die auf das Frühstück wartet. Sie hätte sich ein Ei gekocht, Orangensaft ausgepresst, Aufback-Semmeln aufgebacken und genügend Kaffee für eine Großfamilie aufgestellt. Sie hätte sich ausgeruht, vielleicht ein heißes Bad genommen. Sie hat in den letzten Tagen einen Einbruch vorbereitet, ihn durchgeführt, ist mit einem Herz, das Polyrhythmik neu definiert hat, in einem dunklen Eck gestanden, hat in das Museum hineingehorcht und versucht, die unbekannten Geräusche einer Quelle zuzuordnen, immer in der Hoffnung, dass keins davon von einem bewaffneten Wärter stammt. Sie hat ihr Lied gesummt, hat seine Melodie in sich wachgerufen. Sie hat versucht, immer auf den Boden zu starren, während sie das Bild, ohne es zu beschädigen, aus seinem Rahmen befreit hat. Die Finger zittern immer noch.

Sie hat sich angespannt durch eine Kanalisation getastet, sie hat eine Nachtfahrt hinter sich gebracht, quer durch Deutschland und ohne GPS, weil sie keine Statistik in einem Bordcomputer hinterlassen wollte. Sie hat sich lange nicht getraut, das Autoradio einzuschalten, weil sie das regelmäßige Schnurren des Motors zur Beruhigung gebraucht hat, weil sie keinen ihrer Sinne von der Aufgabe abziehen wollte. Sie hat den Mietwagen mit dem eigenen Wagen vertauscht, ohne ihre Identität preiszugeben und sich gleich wieder hinters Steuer gesetzt. Die Kilometer von München nach Wien abgespult. Sie hat auf einem Autobahnrastplatz ein kurzes Nickerchen eingeschoben und einen grauslichen Kaffee getrunken, damit es weitergehen kann. Sie hat das Bild abgeliefert und ist danach mit Sophie ausgegangen, als wäre nichts gewesen.

Jetzt will sie sich so richtig ausschlafen, faulenzen, vielleicht ein Buch lesen, aber sicher keinen Krimi, irgendeinen langweiligen Schmöker mit Problemen, die mit dem Jahrhundert, dem das Buch entstammt, untergegangen sind. Einen Schmöker mit happy end und for ever after. Aber, jetzt fällt es ihr wieder ein, heute ist Familientreffen und sie muss mit! Dabei gehört sie doch nicht mal so richtig dazu.

Mutter Barozzi erhebt sich: »Lasst uns gehen. Wir kommen noch zu spät.« Ihr Ton wird vorwurfsvoll, als sie erwähnt, dass in keiner der Tageszeitungen, auch keiner der internationalen, von Mias Diebstahl die Rede ist. »Aber das wird«, sie tätschelt Mias Unterarme, »und wenn nicht, strengen wir uns nächstes Mal einfach mehr an.«

Ihr Trost schlägt Mia auf den noch nicht ganz nüchternen Magen. »Nächstes Mal« sagt sich so leicht, wenn man es nicht selber machen muss. Dann fällt ihr was auf.

»Woher weißt du, dass bisher niemand was geschrieben hat?«

Mia kann sich Mutter Barozzi nicht dabei vorstellen, wie sie in aller Frühe zum Bahnhof fährt, wahllos internationale Zeitungen einkauft und sie durchblättert.

»Bitte sag’ nicht, dass du das Bild gegoogelt hast!«

»Hätte ich nicht sollen?« Ohne Brille wirken Mutter Barozzis Augen arglos und leicht verschwommen. Die Brille mit dem dicken mattweißen Rahmen und einzelnen, originell verteilten Strasssteinen baumelt an einer Süßwasserperlenkette vor ihrem Dekolleté. Die Brille ist neu. Sie passt zu ihr, findet Mia. Sie hat es wieder mal geschafft, das für sie perfekte Modell zu finden. In Stilfragen ist Louise Barozzi eine Koryphäe. In anderen Belangen ist sie das nicht.

»Du hast einen noch nicht gemeldeten, noch nicht bekannt gewordenen internationalen Kunstdiebstahl gegoogelt? Von deinem Laptop aus?«

»War das keine gute Idee, Mia? Dann mach’ ich es vorerst nicht mehr.« Mutter Barozzi lächelt Mia sorgenfrei an.

In Mias Magen klumpt jetzt schon deutlich mehr als so ein kleines bisschen Restalk und der Wunsch nach einem Frühstück. Im Kino – vor allem in den Filmen mit happy end und for ever after für Gangster, und Mia ist definitiv an einem happy end und for ever after für Gangster interessiert – findet immer eine talentierte Gruppe zueinander, deren Stärken und Schwächen sich perfekt ergänzen. Im echten Leben befindet man sich in Gesellschaft von Menschen, die nie ein Bewerbungsgespräch hinter sich bringen mussten, um Teil deiner Gang zu sein. Es gibt keinen Aufnahmetest, es gibt keine Mutprobe, es gibt keine Selektion. Es gibt Familie. Mia muss mit ihr arbeiten, dabei, denkt sie das zweite Mal in zu kurzer Zeit, gehört sie doch noch nicht mal so richtig dazu. Wie ist sie nur hier gelandet?

Canossagang, oder wie alles begann …

kein