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Sabina S. Schneider

Von den Göttern verlassen I

ZERELF





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Sie kamen nicht in der Nacht. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war Mittagszeit. Serena saß mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Tisch, vor sich eine karge Mahlzeit. Eine Suppe, für jeden ein Stück Brot und Wurst. Wurst gab es nicht immer. Aber ihr Vater hatte eine neue Stelle bekommen. Das wollte er feiern und Serena eine Freude machen. Doch Serena brauchte weder die Wurst noch das trockene Stück Brot, das es immer zur Mittagssuppe gab, vielleicht nicht einmal die Suppe. Sie brauchte nur ihn. Sie wollte ihn nur betrachten, sein Gesicht, seine blauen Augen, wenn sie aufleuchteten und seine Mundwinkel sich dabei nach oben zogen.

„Das ist ein Lächeln“, hatte er ihr erklärt, „man lächelt, wenn etwas Gutes passiert. Wenn man sich freut.“

FREUEN, LÄCHELN. Serena verstand, dass es eine Verbindung gab, konnte jedoch mit dem Begriff „Freuen“ nichts anfangen, vermied es jedoch nachzufragen. Als sie einmal wissen wollte, was „Gefühle“ seien, hatte er sie mit einem Ausdruck in den Augen angesehen, den er normalerweise nur bekam, wenn er ihre Mutter anblickte. Jedes Funkeln und Strahlen, die sonst in seinen Augen tanzten, starben. Serena wollte die Funken zurück und der Gedanke, sie würden nie wiederkommen, verursachte ein seltsames, unangenehmes Ziehen in ihrer Brust. Allen Ungereimtheiten zum Trotz festigte sich bei Serena die Definition von „Freuen“ als tanzendes Funkeln in den Augen und das Hochzucken der Mundwinkel.

Draußen auf dem Hof an der kleinen Holzhütte stand ein Fass, über dem ein Spiegel hing. Ihr Vater hatte ihn dort zum Rasieren aufgehängt. Serena war einmal auf das Fass geklettert und hatte lange die kleine Version ihres Vaters betrachtet, die ihr aus der trüben Oberfläche entgegenstarrte. Den Witterungen ausgesetzt, hatte sich der Spiegel am Rand bereits hier und da rostbraun verfärbt. Serena sah das gleiche lockige, schwarze Haar, blaue Augen, die sich in der Farbe nicht von denen ihres Vaters unterschieden. Ihre Haut war heller, die Augenbrauen dünner und die Gesichtszüge feiner und kindlicher.

Doch Serena suchte nicht nach diesen Ähnlichkeiten. Etwas Gravierendes fehlte. Sie starrte so lange in den Spiegel, bis ihre eigenen Gesichtszüge zerflossen und sie ihren Vater vor sich sah. Aber etwas stimmte immer noch nicht. Etwas war anders.

Das Lächeln fehlte.

Serena versuchte ihre Mundwinkel hochzuziehen, um den schönen Bogen nachzuahmen, der so gut wie immer die Lippen ihres Vaters umspielte. Es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden hatte, wie sie ohne Zuhilfenahme der Hände ihre Gesichtszüge verändern konnte. Nach mehreren Versuchen bildeten ihre Lippen endlich einen schönen Bogen und sie ließ ihren Blick vom Mund zu den Augen wandern. Sie waren glanzlos, stumpf und leer.

Plötzlich verschwamm das Bild und statt schwarzem sah Serena blondes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war. Graue Augen, die ihr ausdruckslos entgegenstarrten. Sie blickte in das Gesicht ihrer Mutter: makellos, wunderschön und kalt. Während das ihres Vaters sich ständig veränderte, jedes der kleinen Fältchen in einem synchronisierten Tanz auf- und abzuspringen schienen, waren die Züge ihrer Mutter wie in Stein gemeißelt. Die Augen ohne Licht, stumpf, wie ihre eigenen. Das Bild verschwamm und Serena sah wieder ihr kindliches Gesicht vor sich, das plötzlich viel mehr ihrer Mutter glich als ihrem Vater. Als hätte sich der Maler nur in den Farben der Augen und des Haares geirrt.

Auch jetzt, wenn sie in das verklärte, sich unförmig in der Suppe spiegelnde Bild von sich sah, fand sie kein Licht. Sie schaute hoch in die Augen ihres Vaters, der ihren Blick mit einem leichten Tanz um Augen und Lippen erwiderte. Serena formte ihre Lippen wie ein kleiner Affe in dem Bogen, den sie so lange einstudiert hatte. Ihre Mühe wurde mit einem feurigen Lichtertanz und einem gurgelnden Laut belohnt. LACHEN.

Während sich die kleine Serena immer tiefer in den Augen ihres Vaters verlor, wurde die Eingangstür gewaltsam aufgestoßen und krachte gegen die Hauswand. Männer in Rüstungen stürmten herein und warfen alles um, was ihnen im Weg stand, ergriffen Serenas Vater und prügelten ihn aus dem Haus. Sie packten auch Serena und ihre Mutter, zerrten sie hinaus und schleuderten sie in den Dreck.

Serena sah das Aufblitzen von Stahl und eine Schwertspitze, die auf sie gerichtet war.

„NEIN! Sie können nichts dafür! Es ist alles meine Schuld. Bitte, verschont sie! Sergej, ich flehe dich an. Um unserer alten Freundschaft willen. Ich tue alles, aber bitte verschont sie!“, schrie ihr Vater auf. Serena sah, wie er in die Knie ging, aufhörte sich gegen seine Peiniger zu wehren und entsetzt in ihre Richtung starrte. Das Schwert des Soldaten fuhr in die Höhe, um zum finalen Schlag auszuholen. Serenas Blick traf die verbitterten Augen des Soldaten und er hielt in der Bewegung inne. Die Entschlossenheit wich aus seinem angespannten Gesicht. Er wandte sich Serenas Mutter zu, deren ausdruckslose Augen auf den Boden gerichtet waren. Das Schwert glitt aus seinen zitternden Händen und fiel zu Boden.

Er drehte sich um und ging zu Serenas Vater. Die Erde erzitterte unter den festen Schritten des in Rüstung gekleideten Mannes. Tief bohrten sich die eisernen Sohlen in die Erde und hinterließen Abdrücke unverhohlener Wut. In einem Protestschrei warf sich ihm der Boden entgegen, als er mit jedem Schritt Staub aufwirbelte. Dann blieb der Soldat vor Serenas Vater stehen und die Erde atmete erleichtert auf.

Der Soldat hatte lange gesucht, immer in der Hoffnung, nichts zu finden. Wut auf den Mann, der vor ihm im Staub kniete, brodelte in ihm. Wut auf sich, weil er ihn nach all der Zeit doch hatte finden müssen. Sergej holte aus, schlug mit all seiner Wut und seinem Frust zu und die gepanzerte Faust landete mitten im Gesicht des Mannes, den er jahrzehntelang seinen besten Freund genannt hatte. Blut spritze aus Nase und Mund.

Nur die Männer, die den Knienden am Boden hielten, verhinderten, dass er nach hinten geschleudert wurde. Gekrümmt vor Schmerzen beugte er sich vor. Das Blut rann über sein Kinn und tropfte auf den Boden. Die staubige Erde sog gierig die dunkelrote Flüssigkeit auf, als wäre es ihr Lohn dafür, dass sie so lange den harten Schritt des Soldaten ertragen hatte müssen.

Serenas Vater hob vorsichtig den Kopf und blickte seinem Peiniger und Hetzer in die Augen, als er mit bebender Stimme sagte: „Danke, Sergej! Ich danke dir.“ Die Männer rissen ihn auf die Beine und zerrten ihn weg. Er drehte sich noch einmal um und rief: „Alara, bleib bei ihr, sie ist noch ein Kind! Ich befehle es dir als dein Mann!“

Serenas Blick fiel auf ihre Mutter, die immer noch reglos im Staub kniete. Ihre Augen ruhten auf dem Boden vor ihr, als schauten sie durch ihn hindurch. Bei den Worten ihres Mannes fiel ihr Blick für eine Sekunde auf das kleine Mädchen vor ihr.

Hatte Serena eine Regung erkennen können?

Doch auch der Wunsch eines Kindes, irgendein Gefühl in der Mutter hervorzurufen, änderte nichts daran, dass Alara nichts empfand.

Sie konnte nichts dafür.

Einige wurden mit einem verkrüppelten Bein geboren, andere mit angewachsenen Ohren, Schwimmhäuten zwischen den Zehen, oder einem fehlenden Finger. Alara war ohne Gefühle zur Welt gekommen. Sie empfand nichts für den Mann, den man vor den Augen des ganzen Dorfes durch den Dreck zog. Sie empfand nichts für das kleine Mädchen, das wortlos seinem Vater nachblickte.

Anders als ihre Mutter spürte Serena jedoch, wie sich ihre Kehle zuzog, das Atmen ihr mit jedem Schritt schwerer fiel, den sich ihr Vater von ihr entfernte. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich immer langsamer. Serena wollte nicht, dass die Männer ihren Vater mitnahmen. Sie wollte nicht zurückgelassen werden. Serena sprang auf die Beine, um den Männern nachzulaufen. Ihr ganzes Sein schrie nach ihrem Vater, doch eine kalte Hand hielt ihren Arm eisern umschlungen und gab nicht nach, wie sehr das kleine Mädchen auch zerrte und zog. Serena blickte über die Schulter und sah, dass die Hand ihrer Mutter ihren Arm wie ein Schraubstock umfasste. Immer noch reglos im Staub kniend, starrte Alara ausdruckslos auf den Boden.

Wie sehr Serena auch versuchte sich loszureißen, Alara umklammerte den dünnen Kinderarm erbarmungslos. Das kleine Mädchen hörte auf sich zu wehren, und sah zu, wie die Männer ihren Vater abführten. Noch lange nachdem die Soldaten nicht mehr zu sehen waren und sich die Schaulustigen in ihre Häuser zurückgezogen hatten, stand das Mädchen da und starrte in die Richtung, in der ihr Vater verschwunden war.

Die eiskalte, leblose Hand ihrer Mutter umklammerte noch immer ihren Arm.