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Tomas Espedal

Wider Die Kunst

(Die Notizbücher)

Aus dem Norwegischen von
Hinrich Schmidt-Henkel

image Matthes & Seitz Berlin

Für meine Mutter

Inhalt

APRIL

SEPTEMBER

APRIL

Auch das ist ein Auftrag, der Mut erfordert: bleiben.
Kristian Lundberg

Mein erster Name wurde in einer Fabrik hergestellt, in Metall gegossen, und war von einer gewissen Beständigkeit. Ich habe versucht, ihn zu vergessen. Ich bin dreiundvierzig vierundvierzig fünfundvierzig sechsundvierzig Jahre alt. Ich schreibe dies im September. Geboren bin ich am zwölften November im Sternzeichen Skorpion. Man hat mir erzählt, wenn der Skorpion bedroht wird, wenn er sich in die Ecke getrieben sieht und nicht mehr entkommen kann, so hebe er den Giftstachel und steche ihn durch eine Lücke in der seinen Körper schützenden Panzerung; das Gift fließt. Frühling, Herbst ist mir die liebste Jahreszeit, der Sommer ist vorbei, ich kann anfangen zu arbeiten, November, September, der neunte oder neunzehnte, neunundzwanzigste; ich beginne morgens oder abends zu schreiben. Es ist still im Haus. Ich bin weder bedroht noch in die Ecke getrieben, hebe die rechte Hand und platziere die Bleistiftspitze auf dem Papier, das Gift fließt. Ich schreibe. Der erste Satz, als drückte man eine Nadel auf die Haut, ein leichter Widerstand, weich, und die Nadel dringt ein, gleitet hindurch und trifft die Ader; es ist notwendig zu vergessen. Mein zweiter Name war schwieriger, härter, ein Frauenname. Ich habe lange gebraucht, um ihn zu zerstören. Nicht, weil er undurchdringlich gewesen wäre, sondern er war alt, war an einen Ort gebunden; ich bin nie dort gewesen.

Ich bin in der Stadt geboren, der Name gehört an den Rand, ein trockener, windzerzauster und zählebiger Name, der zusammenbrach wie ein widerspenstiger Baum. Der erste Satz, er muss hart sein wie Stahl. Man arbeitet ihn heraus, schleift und bürstet, schneidet und feilt, es ist Handwerk. Das mechanische Geräusch der Schreibmaschine, wie allein in Fabrikräumen zu sitzen und die Stimmen derer zu hören, die nicht da sind; untätige Hände und schwere Schuhe, die über den Boden trampeln ohne einen Laut. Der Satz schimmert. Hart wie Stahl. Uns ist gemeinsam, meiner Tochter und mir, dass wir beide unsere Mütter verloren haben. Ich habe meine Mutter im April verloren, sie ihre im September. Ich wusste nicht, was ich sagen, wie ich sie trösten sollte, alles, was ich sagen konnte, das Erste, was ich sagte, als ob ich ein Kind wäre, als ob kein Altersunterschied zwischen uns wäre, als ob ich wollte, dass sie mich tröstete und wir einander in gemeinsamer Trauer umarmten, zwei Gleichgesinnte im selben Alter, als ob ich sie im Laufe einiger weniger wortloser Minuten zu einer Erwachsenen gemacht hätte, zu meiner künftigen Lebenspartnerin, meiner Hoffnung; sie hörte es und drehte sich weg, wütend und erschrocken, es war kein Trost, das Erste, was ich sagte, war: Wir haben keine Mutter mehr.

Meine Tochter ist fünfzehn Jahre alt und kennt ihren Vater nicht. Man könnte sagen, da ist ein Mann, der Bücher schreibt, und ein ganz anderer, ihr Vater. Nachdem sie ihre Mutter verloren hatte, habe ich so gut ich kann versucht, ihr ein guter Vater zu sein. Ich habe auch versucht, eine Art Mutter zu sein, das war ein großer Fehler, den ich mit aller Kraft und unbeugsamem Willen beging, ich hörte auf zu schreiben, hörte auf zu reisen, beendete einige Freundschaften und richtete mich in dem neuen Zuhause ein wie eine Mutter. Blieb zu Hause, räumte auf und machte sauber, putzte unermüdlich die Zimmer und wusch das Bettzeug und ihre Kleidung. Ich machte Abendessen und Frühstück und schmierte ihr das Schulbrot. Immer regelmäßige Mahlzeiten. Immer saubere Kleidung. Immer jemand zu Hause, morgens wie abends. Mir gefiel das besser, als ich gedacht hätte; ich liebte es, einzukaufen und Essen zu machen, aufzuräumen, Wäsche zu waschen, sie aufzuhängen, es tat mir gut. Aber das Kind war unzufrieden, es vermisste nicht nur seine Mutter, jetzt vermisste es auch noch den Vater. Eines Tages sagte sie: Warum bist du immer zu Hause? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen, einen Tag alleine lassen, für mich, wann gehst du endlich mal raus?

Ich fuhr in die Stadt.

Widerwillig fuhr ich in die Stadt, was sollte ich dort?

Ich ging durch die Straßen und schlug die Zeit tot, zwei, drei, vier Stunden, dann fuhr ich nach Hause. Ich wollte mit meiner Tochter zu Hause sein. Sie brauchte einen Vater und bekam einen trauerschweren Mann, er fürchtete, den Verstand zu verlieren, verrückt zu werden, er glaubte, er werde sterben, erkranken, er glaubte, er werde alles verlieren, das Haus, das Kind, er war sicher, etwas Furchtbares werde geschehen. Er ging umher und wartete darauf, aber das Furchtbare geschah nicht. Ich ging umher und wartete auf etwas Furchtbares, aber das Furchtbare kam nicht, nicht in unser Haus. Der Nachbar erlitt einen schweren Herzinfarkt und fiel vor seiner Haustür um. Das Nest in unserem Garten wurde von einem Raubvogel geplündert, er riss es vom Baum, hackte die Eier auf, fraß die Jungen und flog davon. Das Furchtbare geschah, zu jeder Zeit, an allen Orten, aber nicht in unserem Haus. Unser Haus war geschützt, Frieden lag auf ihm. Und in diesem Frieden, dieser Wartezeit, fing ich zu schreiben an. Jeden Morgen, wenn meine Tochter zur Schule gegangen war, setzte ich mich an den Schreibtisch. Eine weiße, graue Stille ruhte im Haus. Sie erschreckte mich, ich war Stille nicht gewohnt, hatte sie weggewaschen und weggeputzt, während ich auf das Furchtbare wartete, doch jetzt war die Stille da, sie kam wie ein plötzliches, unverhofftes Glück. Die Stille zog im Haus ein, und im Laufe weniger Wochen war sie auch ein Teil von mir geworden, sie zog in das ein, was ich schrieb.

Wie Schnee. Wie weißer, grauer Schnee nach einem langen Sommer und warmen Herbst. Wind, Regen und auf einmal Schnee, der erste Schnee. Die Krähen hüpfen im Garten von links nach rechts und schreiben Wörter in den Schnee; kleine, schwarze Krähenzehen, beiläufig geschrieben, die Vögel schreiben, so rasch und präzise, sie schreiben: Der Winter kommt.

Die Rosen erstarren.

Weiß und von Reif bedeckt.

Sie hatten keine Zeit zu verwelken, stehen da wie todesstarr, an die weiße Wand des Hauses gefroren, aufgebunden mit roten Wollfäden: gefesselt, festgehalten, gezwungen dazustehen wie eiskalte Münder, ins Dunkle geöffnet.

Morgens Nebel. Er verdunstet bleibt hängen wie Reste Wasserflecken in den Locken der Rosenblätter das feuchte Haar zum Pferdeschwanz gebunden mit der einen Hand hinterm Kopf gehalten so fest dass du schreist die Stille draußen, komm. Der Winter kommt, wieder zu früh, und der Schnee schmilzt der Nebel hebt sich das Sonnenlicht bricht durch das weiße Laubwerk und trifft die gefrorenen Rosenblätter, die sich zu spät schließen und verwelken.

Die Blumen, aufgebunden mit der Wolle, aus der dein roter Pullover gestrickt ist.

Weiße Kletterrosen.

Im Garten.

Vor dem Haus, vor die weiße Fassade gebunden mit roten Wollfäden, die mit Reißzwecken an die Mauer gepinnt und solcherart um die Stiele gewunden sind, dass die weißen Rosen vor das Fenster gebogen werden, hinter dem ich sitze und schreibe.

Gefesselt.

Ans Haus gefesselt und an die Zimmer, wo ich außerdem an das Bett gebunden bin, auf dem ich liege, und an die Stühle, auf denen ich sitze. Ich gehe im Haus umher, an einer Laufleine, ich habe keinerlei Wunsch, wegzugehen oder mich loszureißen. Arbeite stattdessen verbissen daran, die unsichtbaren Fäden festzuziehen, ich verbessere und verstärke sie, sie werden haltbarer und länger, sodass ich sie immer fester ziehen und mehrfach um Mund und Hals und Brust winden kann, immer rundherum, immer fester, bis ich endlich in einen harten, weißen Kokon eingesponnen bin. Eine Schutzhaut aus Fäden, an Wänden und Boden befestigt, an Schreibtisch und Stuhl; hier sitze ich, gefangen und geduldig, gezwungen zuzusehen, wie das dünne Bauwerk so umfassend und kompliziert wird, dass man es ein Zuhause nennen kann.

Ein Zuhause.

Dieser Weg, oh der Weg, der Kiesweg, der sanft zum Haus heraufführt, in derselben Farbe wie das Haus, denn er ist Teil des Hauses, eine Verlängerung der Tür, eine Fortsetzung von etwas hinter der Tür; des Bettes, vielleicht, in dem man liegt und nicht aufstehen will.

Diese Stunden mitten am Tage, in denen man hellwach ist und sich aufs Bett legt, nicht um zu schlafen, nicht um auszuruhen, sondern um aus dem Fenster zu schauen, auf den Himmel draußen, um noch wacher zu werden. So wach, dass dem Liegenden auf einmal bewusst wird, so könnte er für immer liegen, reglos und gedankenfrei, doch mit einem Ausblick so rein, dass es schmerzt. Was sieht er? Den Himmel, die Wolken, sonst nichts. Doch dann lässt er den Blick wandern und sieht die Wände und Decke des Zimmers, in dem er liegt; die Lampe auf dem Schreibtisch am Fenster, den Stuhl und den roten Teppich, die Bücher auf dem Nachttisch und die Notizbücher in Umschlägen von derselben Farbe wie das Haus, und das lässt ihn daran denken, was er alles nicht sehen kann, was er beschreiben müsste: den Kiesweg, der vom Haus hinabführt, diesen Weg, auf den die Bäume Schatten werfen, so hart und unüberwindlich, dass er sich fragt, ob er sie je wird übersteigen und sich vom Haus entfernen können.

Der Brief: »Es ist wohl zutreffend zu sagen, dass ich Bonnards Gefallen am Unbequemen teile. Einfache Möbel, harte Stühle, spartanische, schmucklose Zimmer. Es heißt, in seinem Arbeitszimmer habe es keine Ruhegelegenheit gegeben, kein Sofa, keine Möbel; ich glaube, er liebte das alles zu sehr, um es besitzen zu wollen, er überführte es in seine Arbeit. Seine Arbeit bestand darin, zu sehen. Durchs Fenster sieht er im Garten Marthe, hingegossen in einen Liegestuhl. Das Haar ungekämmt, ein weißer Morgenmantel, es ist Morgen oder Abend. Seine Arbeit bestand darin, sie zu betrachten, er zeichnete auf, was sie unternahm; dass sie morgens aufwachte, aufstand und badete, frühstückte, ein Tuch bestickte, einen Brief schrieb. Sie sitzt im Garten, der Brief liegt auf dem Tisch bei dem bestickten Tuch. Das Licht in den Obstbäumen, Schattenmorellen in einem Korb, man könnte sie essen. Ich sitze am Schreibtisch und schaue hinaus; die Obstbäume und der Gartentisch, der leere Liegestuhl, es ist Samstag oder Sonntag. Ich versuche zu schreiben, es gelingt mir nicht und ich schreibe stattdessen diesen Brief; ich brauche dich.«

Ich habe diesen Tag nicht bewältigt, oder es wurde ein ganz und gar unmöglicher Tag, er wurde nicht so, wie ich es gewollt hatte, ja, was hatte ich mit diesem Tag gewollt?

Kann ich sagen, er ist mir entglitten, mir ist der Tag entglitten, wie viele Tage sind mir auf diese Weise entglitten; er wurde nicht mein Tag. Er fing gut an, es war ein guter Anfang für einen guten Tag; ich ging aus dem Haus, aus der Tür, den Kiesweg hinab, durchs Gartentor und nach links auf den langen Umweg zum Laden, und sobald ich auf den öffentlichen Fußweg kam, erkannte ich, dass das der Anfang eines guten Tages war: Über dem Nachbarhaus Wolken. Schwere, reglose Wolken von einer solchen Schwere, so dick, dass man stehenbleibt und sie betrachtet. Unglückswolken? Wenn sie so schwer herabfallen würden, wie sie am Himmel hängen, sie würden das Haus des Nachbarn zerschmettern. Aber sie fielen als Regen, es regnete. Sanfter, leichter Regen auf das Dach des Nachbarn, ich erfreute mich daran. Die Luft wurde klar, der Himmel riss auf, das Sonnenlicht brach durch; ich war unterwegs zum Laden. Jetzt nach rechts, und ich gelange auf diese Lichtung zwischen den Bäumen, eine Lichtung im Wald; sie ist in jeder Weise ein Ort. Was für eine Art Ort? Ein Nichtort? Und doch ein Ort, es ist spürbar. Spürbar jedes Mal wieder, wenn ich durch die schmale Öffnung zwischen den Bäumen hindurchgehe, die Lichtung im Walde. Hier bleibe ich stehen. Nicht mehr als das; stehenbleiben. Derselbe Ort. Immer wieder stehenbleiben am selben Ort. Vielleicht ein Stehenbleibensort? Gestern habe ich mir ein Tier an genau diesem Ort vorgestellt. Ein Eichhörnchen, ja, es war ein Eichhörnchen, es lief vor mir weg. Heute habe ich am selben Ort etwas ganz Anderes gesehen; eine Gruppe Unbekannter saß und lag hier auf der Wiese. Sie hatten Decken ausgelegt. Sie saßen und lagen im Gras; ein Ausflug; ich nahm nicht mehr wahr als die Kleidung, Sommerkleidung, weiß. Keine Stimmen, keine Worte, nur Stille. Hinterher dachte ich, sie müssen tot gewesen sein, einer anderen Zeit angehört haben; ich ging still vorbei, und in demselben Augenblick war mir, als würde ich eines der Gesichter wiedererkennen, ich winkte, das Winken wurde aber nicht erwidert. Sie erkannte mich nicht wieder.

Aber es war nicht hier, dass mir der Tag entglitt.

Ich ging den Weg weiter und gelangte zu der Koppel mit den Pferden. Sie stehen mitten darauf, reglos, wie Statuen, beinahe, dann setzt sich eines unvermittelt in Bewegung: Die Muskeln treten hervor, ein gewaltiges Zucken unter der glatten Haut, und die Hufe schlagen hart auf den Boden, der furchtbare Klang der Hufe, wie ein Vorzeichen für Krieg, oder für Tod. Ein Unglück. Etwas Schreckliches. Das Pferd rannte rasend schnell auf die Stelle zu, an der ich stand; ich empfand keine Furcht. Und dann: Wie der Luftschwall mit dem Geruch des Tiers auf mein Gesicht traf. Der Geruch von Haut, Pferdehaar, er schlug mir ins Gesicht. Auch das war eine Freude.

War es hier, dass der Tag umschlug, sich gegen mich wandte; noch war er mir nicht entglitten, ich ging an der Koppel entlang und brach einen Ast von einem der Baumstämme ab, die am Boden lagen; die Arbeit des Bauern, die Wärme des Bauern für den Winter, ich brach einen Ast von passender Länge ab: Jetzt muss ich an den Hunden vorbei. Den Hunden des Bauern, sie laufen frei herum. Vier frei laufende Hunde, ein Rudel. Und jetzt empfinde ich Furcht, Furcht, die mir Pferde nicht einflößen, aber Hunde sehr wohl. Sie tut mir gut. Diese Furcht tut mir gut. Das Herz hämmert, die Hände wachen auf, die Füße, das Blut, alles in mir wacht auf; ich bin von Hunden umringt. Sie kläffen und schnappen nach mir, verbeißen sich in meinem Jackenärmel und zerren daran, jetzt schwenke ich den Ast. Ein Pfeifen. Der Bauer bläst in die Hundepfeife, die Hunde wenden sich ab, machen kehrt. Ich brauche die Hunde, brauche die Angst, aber der Bauer tut mir nicht gut: dieser Gedanke an Besitz. Dass sein Besitz diese ganze Gegend umfasst, mit Wald und Äckern und Uferfelsen, mit Strand und See, und dass er sich aufführt, als würde ihm dieser ganze Teil der Insel gehören, das ist mir zuwider. Und genau heute, an meinem Tag, laufe ich mitten in ihn hinein; ein beleibter, kurzer Mann mit hartem Gesicht, rotwangig, rot; ich hielt ihm den Zeigefinger unter die Nase. Auf der ganzen Insel herrscht Leinenzwang, sagte ich. Das ist mein Weg zum Laden. Das ist mein Weg zum Wasser. Ich schwimme, wo ich will und wann ich will, und ausgerechnet in diesem Frühjahr, diesem Sommer, sagte ich, meinem letzten Sommer auf der Insel, denke ich nicht daran, mich hier von irgendwem stören oder behindern zu lassen, weder von dir noch von deinen Hunden.

Plante ich umzuziehen? Das überraschte mich. Ich hatte den Gedanken noch nie gedacht, bis ich jetzt auf einmal sagte, mein letzter Sommer auf der Insel. Woher kam das? Wo sollte ich hinziehen? Ich war an dieses Haus und meine Tochter gebunden, sie ging hier zur Schule, hatte hier ihre Freundinnen, ihre Sicherheit, war es nicht auch meine Rettung, mein Glück, dass ich nicht wählen konnte, dass ich an sie gebunden war und an das Haus und meine Arbeit hier? Woher kam dann dieser Gedanke an Umzug? Ich stand vor diesem Mann, der jede Woche, jeden Tag, jahrelang meinen Spaziergang zum Laden gestört hatte. Die Hunde, die Pfiffe, Schimpfworte und Drohungen, jetzt reichte es. Ich brauchte die Furcht, aber die Wut tat mir nicht gut, man bleibt daran hängen wie eine Jacke am Stacheldraht; man bleibt an der Wut hängen. Ich beschimpfte ihn, drohte ihm, das war ein großer Fehler, jetzt würde der Spaziergang nicht mehr derselbe sein, es würde ihn verändern; ich zerstörte gerade eine meiner besten Gewohnheiten, den Spaziergang zum Laden. Er wandte sich ab, ging ins Haus, kam wieder heraus, ein Gewehr in der Hand, er hielt den Lauf gesenkt, sprach aber mit einer eigenen Sicherheit in der Stimme: Du gehst hier über meinen Besitz, zum letzten Mal.

Ich war dabei, den Tag zu verlieren. Die Wut blieb an mir hängen, lange nachdem ich mich von dem Grundbesitzer losgerissen hatte; zornig ging ich weiter zum Laden. Versuchte, etwas zu blicken zu bekommen, das mich erfreuen könnte, die Anemonen wuchsen in weißen Kreisen zwischen den Birkenstämmen; ich sah sie nicht. Die Narzissen blühten in gelb-weißen Reihen dort, wo einmal Treibhäuser gestanden hatten; die Glashäuser waren verschwunden, die Narzissen waren noch da, sie wucherten wild weithin zwischen den Bäumen, jedes Mal wieder ein überwältigender Anblick; sonst blieb ich stehen, diesmal ging ich vorbei. Ein besonderer Apfelbaum im Garten vor dem roten Haus, die weißen Apfelblüten, eine weiße, scharfe Schönheit, als würden diese kleinen hellen Blüten die Luft durchschneiden oder in den Atem schneiden, man spürte sie als Schnitte im Atem; die stechende Gewissheit, dass aus diesen Blüten Äpfel werden sollten. Hätte ich den Blick gehoben, ich hätte gesehen, wie die Elstern ihre Nester bauten: Ast um Ast, sorgfältig zu einem Korb geschichtet und geflochten, drinnen eine Lage Gras, Gras und Erde, mit Wasser verkittet, kleine Baumeister, diese Vögel; hier würden sie ihre Eier legen, weiß und grau, als wäre die Tönung der Schalen ein Vorzeichen auf das Gefieder der Jungen, das Fehlen von Farbe.

Der Himmel blau. Der Rhododendron rot. Der Huflattich gelb.

Ich sah nichts von all dem.

Ich verlor den Tag, bedeutete das, dass mir auch die Farben verloren gingen?

Vögel, Farben, Möglichkeiten, Freuden; ich konnte sie nicht mehr sehen; ich hatte eine meiner Lieblingsgewohnheiten eingebüßt, den Spaziergang zum Laden, mit ihm verlor ich den Tag, wahrscheinlich auch den folgenden Tag und etliche Tage mehr, ja, meine gesamte Zukunft auf der Insel; ich musste eine neue Strecke finden, eine Gewohnheit, falls meine Zeit auf der Insel nicht ohnehin vorüber war: dann würde ich umziehen müssen.

War wirklich nicht mehr nötig als dies, um meinen Tag, meine ganze Zukunft zu verdüstern: dass eine einzige Gewohnheit unterbrochen wurde? Ja, es braucht nicht mehr, um mich aus der Fassung zu bringen und in Finsternis zu stürzen, ein ernster Augenblick, und alles war schwarz. Einen ernsten Augenblick lang war es, als verlöre ich alles; Tag und Augenlicht, Mut und Willen, ich wollte nichts anderes mehr als aufgeben.

Einen ernsten Augenblick lang war alles vorbei; ich hatte den Anfang verloren.

Ich war unterwegs zum Laden, ich sah nichts mehr. Keine Bäume, keinen Weg, keine Freiheit, keine Zukunft, nichts.

Das war also eine zerbrechliche Konstruktion, mein Tag; ich musste ihn auf festeren Grund bauen, ihn auf einer tieferen Notwendigkeit gründen, vielleicht war es nötig, alles umzustürzen, all meine Gewohnheiten durch neue zu ersetzen? Oder, noch schwieriger: allen Gewohnheiten vollständig abschwören?

Oder ich musste sehen lernen: dasselbe mit neuem Blick sehen lernen. Umzuziehen verändert gar nichts. Hierzubleiben, noch einen Frühling, noch einen Sommer, am selben Ort, im selben Haus, das wird alles verändern.

Eine Morgens erkannte ich beim Aufwachen das Zimmer, in dem ich lag, nicht wieder; ich nahm an, ich hätte bei einem Freund übernachtet, oder vielleicht schlief ich in einem Hotelzimmer, das Bett stand beim offenen Fenster; ich war bei Janne in der Stadt. Es war still und kalt, kein Straßenverkehr, kein Atem, keine Wärme von einem Körper neben mir; ich lag allein im Bett. Also lag ich im Schlafzimmer in Bergen. Hatte ich endlich das Bett ins Wohnzimmer gestellt, neben die Balkontür, so dass ich bei offener Tür schlafen konnte, mit Blick auf Berge und Meer statt in den Hinterhof? Nein, daraus war nie etwas geworden. Ich hatte es nicht geschafft. War umgezogen, hatte in aller Eile umziehen müssen; ich lag in dem Haus auf der Insel vor der Stadt, auf Askøy. Bald würden die Mädchen aufwachen, erst die Jüngere, dann die Ältere, dann die Mutter, stets in dieser Reihenfolge, es war noch nichts von ihnen zu hören. Sollte, müsste die Mutter nicht bald aufstehen? Erst nach einer kleinen Weile erinnerte ich mich, dass sie krank war, gestorben war, dass Harriet ausgezogen war und ich mit Amalie allein lebte. Wo war sie? Ich konnte nichts von ihr hören, war sie auch ausgezogen? Wie alt war sie inzwischen? War schon alles vorbei; das Licht kam durch ein Fenster hoch oben an der Wand, ich konnte die Arme nicht bewegen, die Füße nicht, wie lange lag ich schon so? Jetzt fiel es mir wieder ein, als ich einschlief, war sie fünfzehn gewesen, sie wollte auf eine Party; sie hatte sich geschminkt, fast ein erwachsenes Mädchen. Ich hatte mich ins Wohnzimmer gelegt, um auf sie zu warten, um es mitzubekommen, wenn sie nach Hause kam, nachts durch die Haustür, ein Kind noch. Und ein paar Sekunden lang erkannte ich das Zimmer, in dem ich lag, nicht wieder, das genügte, um mich sowohl Name wie Alter vergessen zu lassen.

Mein erster Name war Olsen. Alfred Johan Olsen war ein kurz gewachsener, stämmiger Mann mit einem freundlichen Gesicht, so wurde gesagt, einem dunklen, offenen Gesicht, sagte Elly Alice, meine Großmutter väterlicherseits, und er hatte kräftige Hände, das fiel ihr gleich auf; sie begegneten einander zum ersten Mal in einer Hütte, die ein paar Arbeitskameraden im Wald oben am Hang auf dem Weg zum Løvstakken gebaut hatten. Er arbeitete auf der Werft in Solheimsviken, den Namen Olsen hatte er angenommen, als er in die Stadt gezogen war. Eigentlich hieß die Familie Fjøsanger, ein bäurischer Familienname, er war der Jüngste von acht Kindern, von einem kleinen Hof unweit der Stadt, auf die sie von der Hütte aus, vor der sie jetzt saßen, kartenspielend und pfeiferauchend, Aussicht hatten. Ihnen waren die beiden jungen Mädchen schon aufgefallen, die wie zufällig jeden Abend Arm in Arm an der Hütte vorbeikamen. Eines Abends nahmen die Freunde ihren Mut zusammen und riefen die Mädchen herein. Es waren Schwestern, Margit und Elly Alice, neunzehn und siebzehn Jahre alt. Die Jüngere war die Hübschere. Sie stand auf der Schwelle und zögerte hereinzukommen. Margit saß schon auf einem Stuhl, sie war diejenige, die redete, sie erzählte, dass sie allein mit ihrem Vater lebten. Er hatte seine Frau verloren, als die Mädchen noch klein waren. Jetzt hatte er eine jüngere Frau kennengelernt, Thea, gerade einmal zwei Jahre älter als Margit, so berichtete Ellen Alice es mir später.