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Konrad Kramar

Mission Michelangelo

Wie die Bergleute von Altaussee Hitlers Raubkunst
vor der Vernichtung retteten

Wissenschaftliche Mitarbeit und Recherche:
Inge Korneck

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www.residenzverlag.at

© 2013 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4371-1

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-3315-6

Inhalt

Vorwort

Eine Geschichte – viele Geschichten

Der Traum des Zeichners

Der Raubzug beginnt

Europa wird geplündert

Die Flucht ins Dunkel

Der Nero-Befehl

Bomben im Berg

Der Wasserer und der Massenmörder

Ein Lügner fällt vom Himmel

Nachwehen

Bibliografische Hinweise

Vorwort

Eine Geschichte – viele Geschichten

„Es gibt Leute, die wollen immer noch nicht drüber reden – und die wissen auch genau, warum.“ Die Dame, die mir gegenüber im Café an der Hauptstraße von Altaussee sitzt, will darüber reden, über das, was vor inzwischen fast siebzig Jahren hier passiert ist: hier unten im Ort, wo sich die verbliebenen Köpfe der Nazi-Elite hinterrücks aus ihrem Krieg verabschieden wollten, und oben am Salzberg, dessen Stollen in diesem Frühjahr 1945 der größte Kunstschatz füllte, der je in Europa zusammengetragen worden war. Es ist jener Kunstschatz, den auf der Kinoleinwand eine Truppe aus Hollywoods berühmtesten Namen jagt: „The Monuments Men“ erzählt die Geschichte der Amerikaner, die am 9. Mai 1945, also einen Tag nach Kriegsende, in Altaussee eintrafen.

Dieses Buch aber will die Geschichte der Tage davor erzählen, jener Tage, als einer Handvoll Österreicher die Rettung dieses Kunstschatzes vor der Vernichtung gelang – eine Geschichte voller Helden, Schurken und vor allem mit zahlreichen Figuren, bei denen jene Schwarz-Weiß-Malerei nicht mehr zu greifen scheint.

Doch dieser Krimi ist bisher nicht um der Spannung willen erzählt worden, sondern benützt, um falsche Heldenmythen zu schaffen, Schuld zu tilgen und sich zu rechtfertigen, vor den Besatzern, den Gerichten, vor der Geschichte. Noch Jahrzehnte später tritt einem in vielen Büchern über die Ereignisse vor allem eines entgegen: ein Geschichtsbild, das den Tatsachen, den Verbrechen und denen, die dafür verantwortlich sind, ausweicht.

Für Österreich eigentlich wenig überraschend: Schließlich ist gerade die Rettung der Kunstschätze von Altaussee keine Geschichte, die man einfach aus ihrem historischen Rahmen heraustrennen kann. Sie steht fast exemplarisch für die Rolle dieses Landes und seiner Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus und für den Umgang mit der eigenen Geschichte in den Jahren und Jahrzehnten danach.

Nicht nur diese entscheidenden Tage zu Kriegsende in Altaussee, auch all das, was in diesem idyllischen Ort im Salzkammergut später geschah, was berichtet, als Gerücht weiterverbreitet und zuletzt niedergeschrieben wurde, steht im Schatten des Verbrechens, das in diesem Frühjahr sein tragisches Finale erlebte: Hitlers Vernichtungskrieg, mit seinen Tätern, Mittätern und Mitläufern.

In Altaussee blähte sich der Wahn, der hinter all dem stand, noch einmal zu einem der letzten Dramen auf und zerplatzte schließlich als seltsame Farce. Doch kaum sind die Nazi-Größen von dieser alpinen Bühne abgetreten und ihre Helfer fürs Erste verstummt, beginnen das Lügen, das Verdrängen und die Schuldzuweisungen, verschwinden die Tatsachen, weil die, die jetzt am Wort sind, die meisten davon nicht brauchen können. Nur wer sich durch diesen Schutthaufen an Geschichten durchwühlt, kann den Ereignissen, wie sie wirklich stattfanden, zumindest ein Stück näherkommen, und verstehen, warum so lange jeder, der sie aufgriff, seine eigene Geschichte daraus formte, etwas vortäuschte oder zu beweisen trachtete.

Dieses Buch will nichts beweisen, es versucht, die Geschichte von der Rettung der bedeutendsten Kunstschätze Europas mit all ihren Hintergründen zu erzählen und der Wahrheit dabei so nahe wie möglich zu kommen.

Meine Suche musste am Ort des Geschehens anfangen, bei Erinnerungen und Geschichten wie jenen, die mir die leidenschaftliche Hobbyhistorikerin im Café erzählte. Ihren Namen aber wollte sie – wie auch viele andere im Ausseerland – lieber nicht lesen. Zu viele Geheimnisse, auch solche, die man lieber auch drei Generationen später noch ins Grab mitnimmt, hatte sie zusammengetragen. Im Ausseerland halten sich nicht nur Traditionen hartnäckig, sondern eben auch Geheimnisse, Freund- und ebenso tiefsitzende Feindschaften. Hier werden politische Gräben nicht so einfach zugeschüttet.

So gibt es bis heute über diese entscheidenden Tage Ende April, Anfang Mai 1945 nicht eine Geschichte zu erzählen, sondern mehrere, viele – und sie widersprechen einander gänzlich. Wer sich all die Mythen, die man hier weitergibt, anhört, von den vergrabenen Nazi-Millionen bis hin zu den Stollen, in denen bis heute noch Kunstschätze unentdeckt liegen sollen, wer sich durch all die Bücher, die darüber geschrieben wurden, arbeitet, durch die wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Veröffentlichungen, der kommt der Wahrheit nur Schritt für Schritt näher. Warum? Weil es in diesem kleinen Ort im steirischen Salzkammergut zu viele ganz persönliche Erinnerungen an diese Tage und daher viel eigene Betroffenheit gibt: Familienmitglieder, Freunde spielten eine Rolle, manchmal freiwillig, manchmal von der Diktatur dazu gezwungen, manchmal ganz einfach vom Strudel der Geschichte mitgerissen.

Das ergibt Darstellungen, die so dreist dahergelogen sind, dass man anfangs gar nicht versteht, wie das jemand irgendwann glauben konnte. Die Antwort aber ist ganz einfach. Es waren manchmal genau die Lügen, die jemand brauchte, um diesen Krieg möglichst unbeschadet hinter sich zu lassen – manchmal war dieser Jemand sogar die neugegründete Republik Österreich. Vielleicht weil man in diesem Alpental seit jeher besonders eng beieinanderlebt, vielleicht auch, weil sich hier die ganze Tragik des Krieges noch einmal dramatisch zusammenballte, prallen in Altaussee und im ganzen Ausseerland im Krieg, aber auch heute noch gegensätzliche Welten und Weltanschauungen besonders heftig aufeinander. Wie hätte sonst der ehemalige Adjutant und engste Berater einer SS-Größe als hochangesehener Schuldirektor Auszeichnungen des Landeshauptmannes erhalten? Während einen Ort weiter der Mann, der sich selbst zum Anführer des Widerstandes, zum Retter der Kunstschätze stilisierte, eine Karriere machte, die ihn bis nach Wien ins Parlament führen sollte?

Hier lebten Nazi-Größen und Widerstandskämpfer oft Haus an Haus nebeneinander – und oft waren sie auch noch gute Nachbarn. Hier war einer NSDAP-Mitläufer, ohne groß darüber nachzudenken, und ein anderer Fanatiker, der noch an den Führer glaubte, als der schon längst tot war. Schicksale, so gegensätzlich und doch so dicht aneinander, dass eines am anderen nicht vorbeikommt, ohne es ein Stück zu verrücken – und das manchmal mit historischen Folgen.

Egal ob Politik oder Religion, ob Kaisertreue oder NS-Faschismus, im Ausseerland folgt jede Überzeugung, jeder Glaube eigenen Regeln. Die über Jahrhunderte einzigartigen Rechts- und Besitzverhältnisse im Salzkammergut haben sich im ganzen Leben dieser Region festgesetzt. Der Kirche, vor allem der katholischen, tritt man hier auffallend skeptisch gegenüber. Sinnsprüche wie „die bösen Leut musst vor der Kirchen suchen“ zeigen das deutlich. Die Gegenreformation kam in diesen Tälern nicht weit.

Über die Obrigkeit und deren Besitzansprüche setzte man sich ganz einfach beim Wildern hinweg. Der Wildschütz, gejagt von den Gutsherren, hat hier traditionell eine Heldenrolle. Dieser Nimbus der Rebellen in den Bergen bildete auch die ideologische Grundlage für die Widerstandsbewegung während Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Und da man im Salzkammergut aufgrund der jahrhundertelangen Abgeschiedenheit auch enger miteinander verwandt ist als anderswo in Österreich, wirkt auch die familiäre Unterstützung stärker. Ein Widerstandskämpfer, ein Deserteur findet leicht einen Unterschlupf oder jemanden, der ihm etwas zu essen in sein Versteck schmuggelt. Doch natürlich sind auch die Gegner nicht weit, sitzen die Nationalsozialisten in der eigenen Familie oder beim Nachbarn nebenan. Die Gräben, die das 20. Jahrhundert überall in Österreich aufgerissen hat, verlaufen in Altaussee mitten durchs Dorf.

Fester als anderswo in Österreichs ländlichem Raum waren auch die Arbeiterbewegung und damit der Sozialismus verankert. Unter den Bergknappen, die schon immer ein ausgeprägtes Standesbewusstsein und eine starke Solidarität untereinander hatten, schlugen sozialistische Überzeugungen rasch und tief Wurzeln. Unweigerlich fand auch der Nationalsozialismus unter den Arbeitern – auch aus Opposition gegen Kirche und Ständestaat – überdurchschnittlich viele Anhänger und Mitläufer.

Gerade in Altaussee aber prägt noch eine wichtige Gruppe das Alltagsleben: das Wiener Bürgertum, vor allem das jüdische Wiener Bürgertum, das hier sein Shangri La in den Alpen entdeckte: Friedrich Torberg, Hugo von Hofmannsthal, Jakob Wassermann. Generationen von Künstlern und Intellektuellen haben diesen Ort bevölkert, zuletzt auch Thomas Bernhard, der Altaussee natürlich leidenschaftlich hasste, die meisten von ihnen in Lederhose und Dirndl und auf der Suche nach der alpinen Idylle und nach der Seele der Einheimischen, die sich ihnen meist grantig und verschlossen entzog. Altaussee, scherzt man hier gerne ein bisschen selbstgefällig, sei ja der einzige Ort, in dem die Touristen alles täten, um sich den Einheimischen anzupassen – und nicht umgekehrt.

Eine Bühne der Eitelkeiten inmitten der Abgeschiedenheit, Kaisertreue neben Wildererstolz, Sozialdemokraten Tür an Tür mit fanatischen Nazis: In dieses wirre Gemisch drängen sich, je länger Hitlers Krieg dauert, neue gefährliche Mitspieler. Die Nazi-Elite entdeckt Altaussee: als Idylle – quasi eine österreichische Variante des Obersalzbergs – wie Joseph Goebbels, als Versteck, um dort den Krieg auszusitzen wie Ernst Kaltenbrunner, oder sich vielleicht sogar über die Berge davonzumachen wie Adolf Eichmann, der Altaussee als Absprungsort nach Übersee nutzen würde.

Doch bereits Ende 1943 entdeckt Adolf Hitler den Salzberg als Lager für seine Raubkunstschätze, als Zwischenlager für das geplante Führermuseum in Linz, das nie mehr als ein in Gips gegossenes Hirngespinst werden sollte. Züge, vollgeladen mit Kunst aus Europas größten Sammlungen, rollen an, füllen Stollen um Stollen in dem durch Jahrhunderte ausgehöhlten Berg. Die Lunte an diese explosive Mischung wird ein Führerbefehl legen, der – zumindest in den Ohren der letzten fanatischen Nazis – nichts anderes heißen kann, als diese Kunstschätze vor den Bolschewisten zu retten, und sei es durch völlige Vernichtung.

Doch als die ersten Amerikaner und ihre „Monuments Men“ über den Pötschenpass in Altaussee einrollen, ist nicht nur die Vernichtung bereits abgewendet – auch die Lügen türmen sich schon haushoch auf.

Bald werden sie sich vor den alliierten Offizieren und Inspektoren in Meineide verwandeln, geleistet und zu Papier gebracht vor allem aus einem Grund: um die eigene Haut zu retten, oder aber, um sich möglichst gut vor den neuen Herren, in diesem neuen Österreich zu verkaufen. Die Geschichte der Kunstrettung von Altaussee ist so von Anfang an zum Spielball von mehr als widersprüchlichen Interessen geworden. Und das sollte in den Jahren nach Kriegsende auch so bleiben. Bald nämlich kamen auch die zurück ins Spiel, die nach dem Krieg kurzfristig nichts mehr zu reden gehabt hatten – die ehemaligen Nationalsozialisten, seien sie Chefideologen, einfach nur Befehle ausführende Technokraten oder Manager in Hitlers Kriegswirtschaft gewesen. Jene, die während des Krieges die „Bergung“ der Kunst – die Einlagerung im Bergwerk – organisiert und durchgeführt hatten, melden jetzt ihre Rolle auch bei der Rettung der Kunstschätze an. Haben sie nicht die entscheidenden Befehle erteilt? Als gebildete Akademiker, die ihre alten Netzwerke rasch wieder aktivieren, spielen sie gegenüber den Bergleuten ihre Wortgewandtheit, ihre Fachkenntnisse und natürlich ihre tragende Rolle in der ganzen Bürokratie rund um die Rettung der Kunstschätze aus. Ihre Namen stehen in den Befehlen, die die Vernichtung der Kunstschätze zuletzt verhinderten, sie sind in den Protokollen der entscheidenden Sitzungen vermerkt. Die Bergarbeiter, so der Grundton ihrer Berichte, allen voran jene des Direktors der Salinen Emmerich Pöchmüller, hätten nur Befehle ausgeführt.

Das aber hört sich in den Erzählungen der Bergarbeiter ganz anders an: Von Widerstand und gemeinsam gefällten Beschlüssen gegen die Bergwerksleitung ist hier die Rede. Und hinter jenen, die sich zuallererst den Besatzern als Helden des Widerstands andienten, treten in diesen späteren Aufzeichnungen jene hervor, die aus sich selbst keine Helden machten und auch nicht von anderen dazu gemacht werden wollten. Jene, die im entscheidenden Moment das Richtige getan hatten, um die Kunstwerke, vor allem aber ihren Salzberg, ihre Lebensgrundlage seit Jahrhunderten zu retten. Sie kehrten nach dem Krieg in ihren Alltag zurück und nahmen ihre Geschichten nach Hause mit.

Wenn man sich heute mit ihren Kindern und Enkeln unterhält, merkt man, wie wenig sie daheim über diese Tage gesprochen haben und wie wenig die eigenen Nachkommen davon wissen, was wirklich oben am Salzberg geschehen ist. Dieses Klima konserviert Gerüchte und Geheimnisse gut, oft über Jahrzehnte. So wird dem Besucher dann vertraulich mitgeteilt, dass sich vielleicht der eine oder andere Bergmann doch ein besonders großes Haus gebaut habe, damals nach dem Krieg, und dass man doch einmal bei einem der Antiquitätenhändler auf dem Speicher nachschauen solle, was da alles gelagert wäre.

Vielleicht gäbe es noch viel mehr zu wissen oder sogar zu entdecken in den Häusern von Altaussee, wo sich zunächst Juden und kurz darauf Nazi-Größen versteckten, wo man das Gold Kaltenbrunners in einem Garten fand und jenes manch anderer Nazi-Verbrecher bis heute nicht aufgetaucht ist. Doch die Geschichte jener dramatischen Tage zu Kriegsende beginnt nicht in Altaussee und nicht in einem Bergwerk, sondern in Linz, fast ein halbes Jahrhundert früher, im Kopf eines eigenbrötlerischen jungen Mannes aus Braunau am Inn.

KONRAD KRAMAR,
Herbst 2013

Der Traum des Zeichners

Stundenlang soll er oft dagesessen und vornübergebeugt auf die leuchtend weißen Gipsblöcke gestarrt haben, die sich da vor seinen Augen auftürmten. Ein eigenes Beleuchtungssystem war in dem düsteren Bunker installiert worden, und wenn der Strom nicht gerade wieder einmal ausgefallen war, weil russische Granaten irgendwo einen Mast umgelegt hatten, strahlten Scheinwerfer auf jedes einzelne Gebäude dieses bizarren Minimundus. Tages- und Nachtzeiten ließen sich per Knopfdruck einstellen, und mit ihnen die Schatten, die auf die endlosen Arkaden mit griechischen Säulen fielen: auf den Opernplatz mit der Brucknerhalle, die ähnlich wie Bayreuth nur einem einzigen Komponisten gewidmet sein sollte, daneben das Pantheon der Architektur, ein Triumphbogen und als Mittelpunkt der Anlage das Führermuseum. Mit dem Louvre und den Uffizien werde es diese seine Bildergalerie aufnehmen können, hatte er vor Jahren angekündigt. 1950 sollte sie fertiggestellt sein, gemeinsam mit der völlig neugestalteten Führerstadt Linz.

Doch dieses Ziel war in den Apriltagen des Jahres 1945 viel weiter entfernt als bloß fünf Jahre Bauzeit. Es war zur Illusion geworden, und je mehr diese Illusion von der Realität im Bunker unter der Reichskanzlei fortrückte, desto strahlender, desto übermächtiger wurde sie – und desto länger wurden die Stunden, in denen Hitler dorthin flüchtete. „In solchen Augenblicken vergaß er den Krieg“, erinnerte sich seine Privatsekretärin Christa Schroeder, „er spürte dann keine Müdigkeit mehr und erläuterte uns stundenlang alle Einzelheiten der Veränderung, die er für seine Heimatstadt plante.“

Immer häufiger brach er die Stabsbesprechungen mit seinen letzten verbliebenen Offizieren frühzeitig ab. Ohnehin bestanden sie meist nur noch aus dem Hin- und Herschieben längst nicht mehr vorhandener Armeen, mündeten in einen Monolog Hitlers über das Versagen seiner Generäle, der Armee, des ganzen deutschen Volkes. Fast abrupt nahm er dann einen der Anwesenden an der Hand, führte ihn hinüber in den Bunker unter der Reichskanzlei. Dort stand das Modell, das Hermann Giesler, einer seiner Architekten, für ihn gebaut hatte: Linz, von der riesenhaften Stadtachse „In den Lauben“ bis hinauf zum Urfahrer Spatzenberg, wo in der Adolf-Hitler-Schule die nationalsozialistische Jugend erzogen werden sollte.

Giesler, der dem Nationalsozialismus nie abschwören sollte, hatte für Hitler schon in München gearbeitet, er hatte diverse NS-Bauten in Weimar errichtet und Hitlers Grabmal entworfen. In diesen Monaten des heranrückenden Untergangs hatte der Diktator den Düsseldorfer zu seinem Lieblingsarchitekten gemacht. Albert Speer, der Rüstungsminister, rückte immer mehr von ihm ab, er versuchte, statt den pathetischen Abgang des Nazi-Regimes mitzuinszenieren, lieber seinem Volk nach der unvermeidlichen Niederlage das nackte Überleben zu sichern. Im Herbst 1944 war Giesler in die sogenannte „Gottbegnadeten-Liste“ der größten deutschen Künstler und Architekten aufgenommen worden. Und Hitler war so oft wie möglich im Münchner Studio des Architekten erschienen, um gemeinsam das Projekt für die „Jugendstadt des Führers“, die einst zum deutschen Kunstzentrum werden sollte, zu besprechen und neue Ideen zu erörtern. Stolz erwähnte Hitler immer wieder öffentlich, wie intensiv er sich mit seinen Ideen in die Gestaltung des neuen Linz eingebracht habe, hatte er sich doch schon in seiner frühen Jugend als Architekt gesehen, den nur die Starrsinnigkeit der Wiener Kunstakademien und der Erste Weltkrieg an der großen Laufbahn gehindert habe.

Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und bis zum Untergang einer der verlässlichsten Organisatoren des Massenmordes, erinnerte sich später an eine solche Begegnung mit Hitler in der Reichskanzlei. Er habe ihn in dem kleinen Raum zum Modell geführt und begonnen, ihn über seine Vorstellungen für Linz – es war auch Kaltenbrunners Geburtsstadt – zu befragen. Wo sollten seiner Meinung nach die Brücken über die Donau, die neuen Fabrikanlagen, die Siedlungen für die Arbeiter stehen? Kaltenbrunner, der inzwischen heimlich an einem ohnehin illusorischen Separatfrieden mit den Amerikanern verhandelte und eigentlich gekommen war, um Hitler zu Verhandlungen zu drängen, meinte später, er sei ihm wie ein großes Kind vorgekommen, das begeistert sein liebstes Spielzeug präsentierte: „Mein lieber Kaltenbrunner, wenn wir beide nicht überzeugt wären, dass wir nach dem Endsieg dieses Linz gemeinsam bauen werden, würde ich mich heute noch erschießen.“

Kaltenbrunner war längst nicht mehr überzeugt, und Hitler sollte sich tatsächlich wenige Wochen nach dieser letzten Begegnung erschießen, doch das war in diesem Moment noch weit weg: Die Idee von der Führerstadt, von seinem Museum, nur die sollte bestehen bleiben. So steht es auch im letzten von Hitler verfassten Schriftstück, seinem privaten Testament. Die große Kunst als nicht realisierte Illusion sieht auch die österreichische Kunsthistorikerin Brigitte Schwarz als wesentlichen Grundbaustein von Hitlers Selbstbild. In ihrem maßgeblichen Buch „Geniewahn, Hitler und die Kunst“ hat sie diese Obsession, die Hitler ein Leben lang begleitet, ja bestimmt hat, untersucht.

Die künstlerischen Pläne des Braunauers grenzten bereits früh an Größenwahn, als er in Linz als Pubertierender seine ersten Begegnungen mit der Oper und seinem Lieblingskomponisten Richard Wagner hatte. „Rienzi“, ein Frühwerk Wagners über einen letztlich gescheiterten römischen Volkstribun, soll ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen sein. Hitlers Jugendfreund August Kubizek, den er bei den Opernaufführungen im Linzer Landestheater kennengelernt hatte, erinnert sich, dass Hitler nach der Vorstellung die halbe Nacht mit ihm auf dem Freinberg, einem Hügel über Linz, verbracht habe, um ihm seine Ideen für Linz, für die deutsche Kunst und das ganze deutsche Volk zu schildern. Der Traum, Bauwerke oder vielmehr Baudenkmäler zu schaffen, ganze Städte zu gestalten, findet sich also bereits sehr früh in Hitlers Vorstellungen. Dass zur Realisierung dieser Träume eines Tages absolute politische Macht notwendig sein würde, war ihm offensichtlich schon damals bewusst. „Man kann erst bauen, wenn die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind“, soll er dem Jugendfreund verdeutlicht haben.

Der Einzelgänger verbrachte auch viele Nachmittage allein auf dem Freinberg, entwarf im Geist Gebäude, die er später dem Freund schilderte, und zeichnete Architekturentwürfe. Er soll damals schon, so erinnert sich ein Kostgänger bei seiner Mutter Clara, Skizzen für einen Neubau des Landestheaters angefertigt haben. Auch Kubizek erinnert sich an diese Zeichnungen und daran, dass sich sein Freund schon sehr früh in die Diskussion um einen Neubau des Linzer Theaters eingemischt habe. Die Ausführung aber sei für ihn schon damals das Nebensächlichste bei seinen architektonischen Planungen gewesen. Es ging ihm darum, einen, wenn auch theoretischen, Beitrag zum Theaterbau zu leisten, oder wie Brigitte Schwarz es formuliert, „um eine Selbstbestätigung als Genie“.

Doch dieses Genie sollte in den Jahren danach einige schmerzhafte Niederlagen und Rückschläge einstecken müssen. Geprägt von Künstlerbiografien, die er als Jugendlicher vermutlich reichlich konsumiert hatte, beschloss Hitler, Maler zu werden. „Ein großer Künstler“ gab er gegenüber einem Nachbarn als Lebensziel an, und als der einwendete, dass dem inzwischen zur Vollwaise gewordenen jungen Hitler wohl die finanziellen Mittel dafür fehlen würden, ließ sich dieser davon nicht beeindrucken: „Makart und Rubens haben sich auch aus ärmlichsten Verhältnissen emporgearbeitet.“

Dass Hitler sich ab 1907 zwei Mal um eine Aufnahme an der Wiener Kunstakademie bemühte und kläglich scheiterte, ist hinlänglich bekannt. Er selbst war völlig überzeugt, spielend durch die Prüfung zu kommen: „In der Realschule war ich schon weitaus der beste Zeichner meiner Klasse gewesen, seitdem war meine Fähigkeit noch ganz außerordentlich weiterentwickelt worden.“ Die Ablehnung mit der legendären Begründung „wenig Köpfe“, was wohl auf seine Schwäche im Zeichnen von Figuren abzielte, traf ihn tief, fügte sich aber bestens in das schon damals recht ausgeprägte Selbstbild des verkannten Genies. Hitler, der vor allem Schopenhauer, aber auch Nietzsche verschlungen hatte, hatte sich aus seiner Lektüre ein Künstlerbild zusammenfantasiert, in dem das Scheitern ein ganz zentraler Baustein war. Diese bornierten Professoren an der Akademie waren einfach zu verbohrt gewesen, um sein Talent zu erkennen. Aus der intensiven Schopenhauer-Lektüre – er behauptete später, die völlig zerlesenen Werke des Philosophen sogar während des Krieges an der Front bei sich gehabt zu haben – baute sich der junge mittellose Künstler nicht nur sein Selbstbild vom verkannten Genie, sondern er nutzte sie auch als Rechtfertigung für seinen Antisemitismus. Schopenhauer habe die Juden als „Meister der Lüge“ erkannt, meinte er immer wieder, auch wenn sich das angebliche Zitat bei Schopenhauer nicht finden lässt. Gut ins Bild passten natürlich auch Biografien anderer großer Künstler, die in Wien und an der Akademie angeblich keinen Erfolg gehabt hätten, auch wenn diese Lebensläufe – etwa der des Malers Hans Makart oder Anselm Feuerbachs – für diese Zwecke ziemlich grob zurechtgebogen und umgedeutet werden mussten. Doch dem jungen Mann aus der Provinz, der gerade dabei war, in Wien in Armut und Elend abzurutschen, halfen sie, sein Selbstbewusstsein trotz dieser Enttäuschung zu bewahren. Seine Verachtung für die „Phäakenstadt Wien“, die ja von Linz in seinen Plänen eines Tages völlig in den Schatten gestellt werden würde, hat vermutlich in diesen Jahren begonnen.

Eine wichtige Botschaft aber nahm Hitler von seinen kurzen Ausflügen an die Akademie mit. Verbittert und verstört über die Abweisung, schaffte er es, bis zum Rektor vorzudringen und nach den Gründen für sein Scheitern zu fragen. In „Mein Kampf“ schrieb er später über das wahrscheinlich ziemlich kurze Gespräch. Der Rektor habe ihm versichert, dass seine Zeichnungen deutlichmachen würden, dass er keinerlei Begabung als Maler habe. Als Architekt allerdings, so die Darstellung Hitlers, seien eindeutig große Fähigkeiten zu erkennen. Im Führerhauptquartier soll er Jahre später, während des Krieges, noch einmal über diese Begegnung gesprochen haben. Zumindest schildert er sie Christa Schroeder so: „Der Professor fragte mich, was für eine Bauschule ich besucht hätte. Wieso, ich habe keine Bauschule besucht! Sie müssen doch eine Bauschule besucht haben? Sie haben ersichtlich Talent für die Architektur.“

Damit hatte der schon im ersten Anlauf an der akademischen Karriere gescheiterte Maler seine Bestätigung: Er war offensichtlich ein Naturtalent. Hatte der Rektor nicht auf den Besuch einer Architekturschule geschlossen, obwohl er nie an einer gewesen war? Die Augen habe ihm dieses Gespräch, schreibt er in „Mein Kampf“, für seine wirkliche Bestimmung geöffnet: „In wenigen Tagen wusste ich auch selber, dass ich einst Baumeister werden würde.“

„Jawohl, ich wollte Architekt werden“, sollte er Jahre später sogar vor Gericht aussagen. Vorerst aber wurde das so sehr verkannte Genie etwas ganz anderes: Postkartenmaler mit Wohnsitz im Obdachlosenasyl und danach im Männerwohnheim.

Das klingt allerdings weit dramatischer, als es tatsächlich war. Das unter Kaiser Franz Joseph 1904/1905 gewissermaßen als Vorzeige-Anstalt errichtete Männerheim in der Wiener Meldemannstraße war damals beispielhaft, was Hygiene, Ernährung und sogar die individuellen Arbeitsmöglichkeiten betraf. So saß Hitler im Jahr 1910 so ziemlich jeden Tag im Wohnheim an einem Tisch und malte, was man ihm aufgetragen hatte: Postkarten und Bilder mit Stadtansichten von Wien. Er war von seinem Pritschennachbarn aus dem Obdachlosenasyl, einem gewissen Helmut Hanisch, quasi engagiert worden, denn dieser – ein Typ aus der Wiener Halbwelt und außerdem ein notorischer Betrüger – hatte Möglichkeiten gefunden, die Arbeiten des jungen Kunstmalers einigermaßen lukrativ zu verkaufen. Als Kunden hatte er Touristen, vor allem aber auch Geschäfte für Bilderrahmen und Künstlerbedarf. Die schmückten mit den Erzeugnissen aus der Meldemannstraße ihre Bilderrahmen, um sie attraktiver aussehen zu lassen. Der Handel, der übrigens hauptsächlich mit jüdischen Geschäftsleuten abgewickelt wurde, verlief, auch dank Hanischs Schläue ziemlich gut. Der gerade 21-Jährige Hitler konnte erstmals in seinem Leben selbst für seinen Unterhalt aufkommen, auch wenn dieser Unterhalt ziemlich bescheiden und der Arbeitsalltag ziemlich monoton gewesen sein dürfte. Hitler kopierte im Akkord Kupferstiche mit Ansichten von Wien, die dann um drei bis fünf Kronen verkauft wurden. Das Geschäft mit den Bildern aber sollte nicht auf Dauer gut gehen, Hanisch und Hitler zerstritten sich und Hanisch ging schließlich – auch weil Hitler vor der Polizei gegen ihn ausgesagt hatte – ins Gefängnis.

Hitler selbst schätzt die Qualität seiner Arbeit, vor allem aber ihren künstlerischen Wert, ziemlich gering ein: „Ich wollte ja kein Maler werden. Ich habe diese Sachen nur gemalt, damit ich meinen Lebensunterhalt verdienen und studieren konnte“, meint er später über diese Zeit. Das, was er da fabriziert habe, sei „Lohnarbeit im Auftrag des Verbrauchers, nichts anderes als die kunstvolle Torte eines Konditors oder die Brötchen, die der Bäcker zum Morgenkaffee schickt“. Als die Bilder Jahre später, nach Hitlers Machtergreifung, auf einmal als große Kunstwerke gehandelt wurden und entsprechende Preise erzielten, war das dem Diktator sogar selbst peinlich. Der „echte Hitler“, der um 10 000 Reichsmark gehandelt wurde, sei gerade einmal ein Zehntel davon wert: „Es ist Wahnsinn, wenn man dafür mehr Geld hergibt.“ Der Gauner Hanisch, der seine Chance auf das große Geld witterte, war inzwischen wieder aktiv geworden und schleuste Unmengen von angeblich „echten Hitlers“ in den Markt. Die einst im Akkord gefertigten Bildchen ließen sich ziemlich leicht kopieren. Das Hauptarchiv der NSDAP in München musste eine eigene Einheit von Spezialisten zusammenstellen, die sich auf die Jagd nach den Fälschungen machen sollten, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Schließlich ließ man den Verkauf sogar verbieten und Hanisch ging wieder einmal ins Gefängnis.

Während Hitler von den Postkarten und Stadtansichten später nichts mehr wissen wollte, blieben ihm seine Architekturzeichnungen aus dieser Zeit immer wichtig. Leider, so vermerkte er selbst, seien sie fast alle verloren gegangen.

Dass Hitler auch in seinen ersten Jahren in Wien an seiner Leidenschaft für Architektur festhielt, belegen aber die Erinnerungen von Zeitzeugen wie Kubizek. Der war seinem Freund inzwischen nach Wien gefolgt und berichtet, dass dieser ständig damit beschäftigt sei, in seiner Fantasie Wien gänzlich neu zu bauen. Er habe Museen, Schlösser und öffentliche Plätze entworfen und sich auch mit den Planungen für hygienische geräumige Arbeiterwohnungen beschäftigt. So sollte der Bau von Arbeiterwohnsiedlungen später zu den Kernstücken nationalsozialistischer Architektur gehören, in Linz etwa entstanden Hunderte Wohnungen dieser Art.

Nach dem Ende der Zusammenarbeit mit Hanisch – zumindest nehmen das die Kunsthistoriker an – soll sich Hitler wieder verstärkt mit Architektur beschäftigt haben, er arbeitete vermutlich sogar als Architekturzeichner im Büro des bekannten Stadtplaners und Architekten Max Fabiani. Der erhielt zahlreiche öffentliche Großaufträge wie etwa die Wiener Urania, und so konnte sich der junge Zeichner auch wieder mit Prachtgebäuden, oder zumindest einigen Details dieser Gebäude, beschäftigen. Wirklich anhaltenden Erfolg aber hatte das „Naturtalent“ Hitler damit auch nicht. Fabiani wurde ihn offensichtlich ziemlich rasch los, was Hitler endgültig zu der Überzeugung brachte, dass eine Stadt wie Wien kein Verständnis für ihn hatte, weswegen er 1913 nach München zog.

Dort meldete er sich gleich in seinem ersten Quartier als „Architekturmaler aus Wien“ an und versuchte, in einem großen Architekturbüro als Zeichner unterzukommen. Auch in München blieb sein Einkommen so bescheiden, dass er Stadtansichten malen musste, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Wirklich große künstlerische Leistungen hat der junge Oberösterreicher nach dem Urteil der Kunsthistoriker auch in München nicht vollbracht. Er soll über lange Zeit einfach in den Tag hinein gelebt haben. Um eine Aufnahme an der Akademie bemühte er sich nach den Erfahrungen in Wien nicht mehr, umso mehr, als er ja inzwischen von sich als Autodidakt völlig eingenommen war. Wie stark die Begeisterung ihn tatsächlich erfasst hatte, macht er selbst deutlich: „Dass ich dabei mit Feuereifer meiner Liebe zur Baukunst diente, war natürlich. Meine Beschäftigung mit ihr war unter solchen Umständen auch keine Arbeit, sondern höchstes Glück. So verstärkte sich mein Glaube, dass mir mein schöner Zukunftstraum, wenn auch nach langen Jahren, doch Wirklichkeit werden würde. Ich war fest überzeugt, als Baumeister mir dereinst einen Namen zu machen.“

So fest war der Begriff des Baumeisters und die dazugehörige Überzeugung in Hitler verankert, dass die Nazi-Propaganda und ihr Master Mind Joseph Goebbels später daraus einen Zentralbegriff in der Hitler-Darstellung machen sollten. „Der Baumeister des Reiches“ war ein Topos in vielen Reden des Propagandaministers, der auch gerne davon sprach, dass „unser Führer ein großer Künstler“ sei. „Er ist von Hause aus Baumeister und hat es auch später öfter lächelnd gesagt, dass er in seiner Jugend die Absicht gehabt habe, zu bauen.“

Dass es wohl etwas mehr als Absicht war, zeigt die Hingabe, mit der sich Hitler in sein Selbststudium stürzte. „Unermüdlich zeichnete er“, erzählt Kubizek. „Ich erinnere mich nicht, dass Adolf jemals eine Gelegenheit gesucht hätte, seine Kenntnisse praktisch zu erproben, oder doch an seminarmäßigen Übungen im Bauzeichnen teilnehmen zu können. Es war ihm gar nicht darum zu tun, mit Menschen gleicher beruflicher Interessen zusammenzukommen. Viel lieber als mit Fachkundigen zusammenzutreffen, saß er allein auf seiner Bank und führte an Hand seiner Bücher in Gedanken Zwiegespräche mit sich selbst.“