Handbuch der Chronobiologie

Gesund im Timetable der inneren Uhren

Dr. med. Jan-Dirk Fauteck und Imre Kusztrich


Impressum

IGK-Verlag, 7100 Neusiedl/Österreich

Handbuch der Chronobiologie
Gesund im Timetable der inneren Uhren

Juni 2013

Copyright: © 2013 Dr. med. Jan-Dirk Fauteck, Imre Kusztrich

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Diese Version basiert auf dem Handbuch der Chronobiologie

„Leben mit der inneren Uhr“

(ECON Verlag, 2006, ISBN 978-3-430-12670-0) derselben Autoren,

aktualisiert und um neue Studienergebnisse bis Juni 2013 erweitert.


Einführung

Auf einemum die Sonne kreisenden Planeten sind Tag und Nacht eminent wichtige Zeitgeber für denEinklang mit dem Universum. Aber uns lenkt nicht nur ein Rhythmus, sondern es sind Tausende, die jede Funktion unserer Organe steuern. Je genauer wir sie kennen, je stärker wir uns an ihnen ausrichten, umso besser. Besonders wertvoll ist dieses Wissen, wenn der Körper Unterstützung braucht. Damit wir das Richtige nicht zum falschen Zeitpunkt tun. Denn im Stellwerk der inneren Uhren hat alles seine Zeit – die Ernährung der grauen Zellen, die Kräftigung des Herzens, die Reparatur der Knorpelflächen, die Regulierung des Blutzuckerspiegels und die Unterdrückung einer Krebserkrankung.

Die Chronobiologie ist eine noch junge Wissenschaft. Wir begreifen immer mehr.

Am 8. Februar 2011 veröffentlichte die Zeitschrift „The Endocrine Society“ eine Studie von zehn Wissenschaftlern der medizinischen Universitäten in den brasilianischen Millionenstädten Sao Paulo und Campinas. Ihre Erkenntnisse zur Entstehung des Diabetes mellitus waren revolutionär.

Weltweit greift die Zuckerkrankheit mit epidemischen Ausmaßen um sich und prägt negativ bereits die Lebensqualität von vielen Millionen Menschen – achtzehn Millionen allein in den USA und acht Millionen in Deutschland. Vermutlich doppelt so viele haben bereits krankhaft erhöhte Blutzuckerspiegel, ohne es zu wissen, und noch mehr Menschen in einem prä-diabetischen Zustand steuern auf den Ausbruch dieses Leidens in ihrem Körper zu - fast unrettbar, weil sie es nicht einmal ahnen.

Abgesehen von etwaigen genetischen Vorprägungen sind es immer kritische Faktoren des persönlichen Lebensstils, die mit Diabetes mellitus in einem Atemzug genannt werden: falsche Ernährung, dabei vor allem Kohlenhydrate, zu wenig Bewegung, zu viel Stress, zu langes Starren auf Bildschirme, zu hohes Körpergewicht. Jeder einzelne Punkt ist eine Art Anklage für die einen Patienten, Auslöser von Schuldgefühl bei den anderen.

Von all dem stand nichts in der Untersuchung aus Brasilien – das machte sie so spektakulär. Und noch etwas…In der für Nicht-Mediziner unverständlichen Überschrift („Fehlen von Melatonin bewirkt Nachtzeit-Leber-Insulin-Widerstand und erhöhte Glukosebildung durch Stimulation von nächtlich nicht entfalteter Eiweiß-Reaktion“ – „Absence of Melatonin Induces Night-Time Hepatic Insulin Resistance and Increased Gluconeogenesis Due to Stimulation of Nocturnal Unfolded Protein Response“) bezogen sich zwei Wörter auf eine bestimmte Zeit des Tages, „Nachtzeit“ und „nächtlich“, und ein drittes betraf das so genannte Schlafhormon Melatonin. Vereinfacht lautete dementsprechend die Aussage der Studie, auf den Punkt gebracht: Diabetes startet in der Nacht – wenn durch das Fehlen des Schlafhormons Melatonin eine bestimmte Funktion irrtümlich nächtlich aktiviert wird.

Noch nie wurde ein Hormonmangel zu einer bestimmten Tageszeit mit dieser Volkskrankheit, die heute bereits jede Nation mit großen finanziellen und sozialen Kosten belastet, in Verbindung gebracht.

Die wissenschaftliche Welt hätte also aufschreien müssen. Doch sie tat es genau so wenig, als zwei Jahre später, zeitgleich am 3. April 2013 sowohl die führende amerikanische Medizin-Fachzeitschrift „The Journal of the American Medical Association“ („Melatonin Secretion and the Incidence of Type 2 Diabetes“)als auch das „Deutsche Ärzteblatt“ („Melatonin-Mangel als Diabetesrisiko“) von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Auslösung einer Zuckererkrankung bei einer Störung der Schlafgesundheit berichteten. Wieder die Nacht als Faktor, der zum Diabetes mellitusführt.

Was genau hatte die erste Studie ergeben?

Eine von der Tageszeit abhängige Steuerung reguliert normalerweise in der Leber die Verarbeitung von Fetten und Kohlenhydraten der Nahrung, sowie von Fremdstoffen wie Umweltchemikalien. Das erscheint logisch. Aus unserer größten Drüse benötigt der aktive Körper bei Tag andere Stoffe und in größeren Mengen als der regenerierende Organismus während der Nacht.Wenn diesem Stoffwechselorgan von rund eineinhalb Kilogramm nachts eine zu geringe Menge des Schlafhormons zur Verfügung steht, fällt die vorgesehene Umschaltung auf die vielfältigen nächtlichen Aufgaben aus. In der Folge produziert die Leber auch nach Einbruch der Dunkelheit weiterhin neue Zuckermoleküle und leitet sie in das Blut über, während der ruhende Organismus sie kaum noch zur Gewinnung von Energie braucht. Jede Überproduktion von Glukose führt zu den diabetischen Folgeschäden, auch diese.

Für die zweite Untersuchung wurden viele Jahre zurück nachträglich die Laborwerte Tausender Frauen miteinander verglichen. Einige erkrankten lange nach der Messung an Diabetes, während die meisten gesund blieben. Im Blickpunkt standen bei dieser Studie ebenfalls die nächtlichen Effekte des Melatonin. Dabei zeigte sich ganz eindeutig: Wer später an Zucker erkrankte, hatte in den Jahren davor einen deutlich niedrigeren Schlafhormon-Spiegel im Blut. Das passte in das Bild, denn verschiedene Hinweise gab es seit langem, dass das Hormon Melatonin im Rahmen der von ihm gesteuerten biologischen Prozesse nachts auch beim Zuckerstoffwechsel mitmischt. Beispielsweise besitzt auch die Bauchspeicheldrüse Andockstellen für dieses Hormon. Damit empfängt sie nach Einbruch der Dunkelheit vom Melatonin bestimmte Impulse, worauf sie die die Ausschüttung von Insulin bremst. Das ist doppelt logisch. Der Körper im Schlafzustand kommt mit wenig Glukose aus, und die Drüse kann wie fast jedes andere Organ auch eine Auszeit nehmen. Aber offensichtlich stumpfen im Laufe der Jahre und durch überhöhte Reizung diese Kontaktpunkte an der Bauchspeicheldrüse für das Schlafhormon ab, und der normale Schaltmechanismus setzt sich nicht mehr durch. Ohne diese natürliche Bremse arbeitet die Quelle für Insulin und andere Hormone Tag und Nacht mit gleicher Intensität durch. Jede Übertreibung führt bei Milliarden Zellen zu einem Widerstand, zur so genannten Insulin-Resistenz, und eine Diabetes-Erkrankung ist unausweichlich.

Auch dieses Mal: Melatonin-Mangel.

In diesem Buch werden Sie lesen, dass das Schlafhormon weit mehr Funktionen hat, als sein populärer Name vermuten lässt.Es ist eminent wichtig für jedes einzelne Lebewesen,egal ob Pflanze, Tier oder Mensch.In unserem Gehirnübersetzt es denWechselvon Licht und Dunkelheit in ein Signal.Melatoninist die entscheidendeRegelsubstanz, das Mutterhormon der Chronobiologie. Allerdings gibt es ein gravierendes Problem. Leider bricht die körpereigene Produktion schon Mitte vierzig deutlich ein, vonoptimaleinhundertzwanzig Pikogramm je Milliliter aufweniger alszwanzig. Im Körper eines Achtzigjährigen erreicht die nächtliche Melatonin-Intensität nur noch etwa ein etwa Zehntel der Intensität im Blut eines Zehnjährigen. Zu wenig, um präzise über den inneren Zeitzustand zu informieren.

Deshalb ist es wichtig zu wissen, ab wann ein Melatonin-Mangel vorliegt und wie er auf natürlichste Weise aufgefüllt wird.

Was ist das eigentlich, die Chronobiologie ?

Die Top Ten des Welt-Tennis würden sich für jeden Anschauungsunterricht darüber hervorragend eignen.Zehn bis elf Monate pro Jahr wechseln sie die Kontinente fast im Wochenrhythmus. Kontinuierlicher Jet-Lag wird für einen rätselhaften Zusammenbruch ihrer Abwehrsysteme verantwortlich gemacht. In keiner anderen Sportart ist die Kombination aus größtem körperlichen Einsatz und den Folgen der Zeitverschiebung auf die inneren Uhren derart krass.Super-Athleten wieRoger Federer, Andy Roddick, Robin Soderling, Mario Ancic und John Isner, beziehungsweise Klassesportlerinnen wie Jarmila Gajdosova, Heather Watson und McHale erlebten zwischen 2009 und 2013 alle die gleiche Diagnose: Pfeiffer’sches Drüsenfieber. Irgendwann wird es auch einem Organismusin Bestform zuviel, wem ihm die Erholungsphasen verwehrt werden.Das Krankheitssyndrom derinfektiösen Mononukleose wirdneckisch auch Studentenkusskrankheit genannt, weil es vor allem in post-pubertären Beziehungen durch einen Herpesvirus übertragen wird.

Es handelt sich um eine schwere fieberhafte Erkrankung mit tastbarer Vergrößerung der Lymphknoten und der Milz, sowie mit Gewichtsverlust. Das Virus wird im Speichel von Person zu Person übertragen, und die Infektion bricht aus, sobald das Immunsystem schlapp macht – das kann Wochen, Monate oder Jahre später sein.
Über die inneren Uhren des menschlichen Körpers haben die meisten von uns noch recht wenig gehört, denn
dieChronobiologiegewinnt erst seitdreiJahrzehnten an Bedeutung. Sie besagt:Der menschliche Organismus kann sich dem Tag-Nacht-Wechsel durch die Erdumdrehung nicht entziehen. Licht und Dunkelheit haben die Menschheitsgeschichte von Beginn an geprägt. Auch das 1. Buch Moses beginntdamit.

Dieser fundamentale Rhythmus wirkt über ein beeindruckend umfangreiches Steuerpaket aus genetisch festgelegten inneren Zeitgebern tief in unseren Körper hinein. Je intelligenter wir uns an diesen Informationen ausrichten, umso mehr Nutzen ziehen wir daraus. Von besonderer Bedeutung sind diese Zusammenhänge für die Abwehr von Krankheit und für jede Heilung.Dank der Erfahrungen durch die Chronopharmakologie wissen wir heute genauer als je zuvor, welche Substanz zu welcher Tageszeit die stärkste Wirkung bei geringsten Nebenwirkungen erzielt, und welche besonderen Umstände dabei besser berücksichtigt werden. So dass jeder von außen zugeführte Stoff den Effekt genau dann erzielt, wenn er am besten zum Auf und Ab in unserem Körper passt. Die Berücksichtigung der inneren Rhythmen ist Grundlage einer intelligent konzipierten Unterstützung durch Nahrungsergänzung.


Vorwort

Sie sitzen am Steuer Ihres Wagens und unterhalten sich angeregt mit den Mitfahrenden. Sie nähern sich einer Kreuzung, an der Sie nach links abbiegen wollen. Sie reihen sich ein und schenken dem Gegenverkehr deshalb mehr Beachtung.

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie dafür Ihr Gespräch ganz einfach unterbrechen und erst dann wieder reden, wenn Sie die Fahrt fortsetzen.

Das ist Chronobiologie. Nicht in ihrer spannendsten Form, aber dennoch ein Beispiel für unterschiedlich intensive Aktivität unseres Körpers. Denn nicht Sie verstummen. Ihr Kopf wird das entscheiden. Ihr Gehirn führt es aus. Seine linke Hälfte beherrscht die Vorgänge der Kommunikation. Die andere Hälfte steuert logisches Denken. In Ihrem ureigensten Interesse hat die eine Abteilung sich zurückgenommen und die Hauptverantwortung der anderen übertragen.

Die Intelligenz unseres Organismus beruht auf Myriaden von Funktionen, die wir noch nicht einmal alle kennen. Aber eines wissen wir: Jedes Organ, ja, sogar jede einzelne Zelle folgt einem inneren und eigenen Rhythmus. Leistung, Hochleistung, Entspannung, Ruhe, Regeneration, Reaktion, Dominanz und Partnerschaft lösen einander ab. In unserem Gehirn findet etwa alle eineinhalb bis zwei Stunden sogar ein großer Stabwechsel statt. Dabei nimmt der Körper eine biologische Denkpause. Würden Sie jetzt versuchen, ein Nickerchen zu machen, gelingt es leichter als in anderen Momenten.

Erst nach und nach beginnen wir, unsere innere Uhr zu sehen, den Stand ihrer Zeiger zu erkennen und mit ihren Schwingungen zu leben.

Noch nicht einmal die Kreativdirektoren großer Werbeagenturen haben es begriffen. Mit Botschaften wie „Befreien Sie sich von Raum und Zeit“ preisen sie die Vorteile von Telebanking und 24-Stunden-Callcenters, als seien diese Strukturen lästige Hindernisse, die wir zu beseitigen hätten. Immer stärker wird das moderne Leben auf eine Non-Stopp-Gesellschaft zugeschnitten. Schichtarbeit ist nicht länger nur das Schicksal von Beschäftigten in Autofabriken, Kraftwerken, Polizeistationen oder Krankenhäusern. Software-Entwickler, Devisenhändler, Web-Designer, Service-Trupps stehen rund um die Uhr im Einsatz. Das Handy wurde zum Symbol für „Immer und Überall“. Die auf alle Erdteile platzierten Rennen der Formel 1 werden so getaktet, dass maximal viele Menschen sie je nach Region zwischen acht Uhr früh und 21 Uhr abends live an den Bildschirmen erleben können. Die tageshelle Telefonstimme aus dem Buchungszentrum Ihrer bevorzugten Fluggesellschaft kommt vermutlich längst aus dem nächtlichen Mumbai (Indien). Und auch der Null-Cent-Wochenend-Tarif der Telekommunikationsunternehmen ist ein typischer Versuch modernen Zeitmissbrauchs. Die New Economy powert im 24/7-Takt.

Wer kennt noch die Worte des Predigers Salomo: „Alles zu seiner Zeit“?

Doch die Rhythmen des Lebens sind nicht unsere Gegner. Drei Basiszyklen wirken auf uns ein. Infradiane Rhythmen benötigen mehr als einen Tag zu ihrer Vollendung – Beispiel: der Fruchtbarkeitszyklus der Frau. Circadiane Rhythmen umspannen etwa einen Tag – Beispiel: die Effekte der Erdrotation auf den Organismus. Ultradiane Rhythmen vollführen mehrere Wiederholungen innerhalb eines Tages. Sie regulieren geistige, körperliche und emotionale Funktionen. Beispiel: die uns seit Urzeiten innewohnende Neigung zu gelegentlichen Nickerchen, nicht nur nachmittags, hängt mit einer nur 90 bis 120 Minuten langen Aktivitätskurve zusammen.

Sie alle sind Zeitgeber, und wir profitieren, je stärker wir uns an ihnen ausrichten. Das merken Sie doch selbst: Der Adrenalinspiegel ist nun mal erheblich schwächer, wenn auf dem Bildschirm die Motoren von Ferrari & Co schon zu nachtschlafender Stunde aufheulen.

Das Weltraumteleskop Hubble steht für den grenzenlosen Freiheitsdrang des Menschen. Fast darf es als Beweis dafür gelten, dass wir uns für fernste Sphären des Alls stärker interessieren als für unsere eigene Welt. Dieses Wunderwerk tastete bereits ein Dutzend Jahre lang den äußeren Rand nebulöser Planetensysteme ab, als dem Neurowissenschaftler Professor Dr. David Berenson von der amerikanischen Brown-Universität in Providence eine Entdeckung von sensationeller Tragweite gelang – mitten unter uns, auf der Erde, in den Augen einer Katze. In der Februarausgabe 2002 berichtete die US-Fachzeitschrift Science: Die Netzhaut verfügt über spezielle Sensoren, die bisher unbekannt waren. Sie nehmen Licht völlig anders wahr als jene Sehzellen, die uns Darstellungen in Schwarz-Weiß und in Farbe vermitteln.

Diese Gewebebestandteile erkennen nicht irgendwelche Gegenstände – sie erahnen Schwingungen und Stimmungen. Sie verändern ihre Aktivität mit der Morgen- und Abenddämmerung. Sie registrieren die Jahreszeit. Sie arbeiten im Takt von Sekundenbruchteilen.

In diesem Sinne besitzen wir Menschen eine Orientierung, wie wir sie aus der Pflanzenwelt kennen. Jedes Gewächs verfügt über Fotorezeptoren. Sie steuern jene Bewegung, mit der es sich am Lauf der Sonne orientiert. Sie geben der Blüte den Befehl, sich am Morgen zu öffnen und am Abend zu schließen.

Von der Netzhaut bis ins Zwischengehirn des Menschen konnten Forscher direkte Nervenverbindungen der Sensoren für die spezielle Hell-Dunkel-Wahrnehmung verfolgen. Sie enden in einem Wirkmechanismus, der in seiner Gesamtheit als Hauptstellwerk aller inneren Uhren bezeichnet werden kann. Diese Zentrale überträgt den Tag-Nacht-Wechsel von außen auf unzählige Rhythmen in unserem Körper und stimmt sie gleichzeitig aufeinander und untereinander ab - vermutlich Abertausende. Mit dem spektakulären Fund wurde erstmals ein Phänomen erklärt, das an blinden Menschen beobachtet werden konnte. Die Zapfen- und Stäbchenzellen ihrer Netzhaut hatten völlig die Funktion verloren – und dennoch erlebten diese Personen den normalen Wach-Schlaf-Rhythmus wie wir Sehenden. Sobald jedoch aus kosmetischen Gründen ihre Augen durch künstliche Gebilde ersetzt worden waren, verloren sie diese wichtige Orientierung.

Während wir Menschen schon den unleugbaren Tagesrhythmus der Erde mehr und mehr negieren, sollte es nicht verwundern, dass wir uns für andere Zeitformen des Organismus überhaupt nicht interessieren. Wer weiß, dass das Auge fünf Wahrnehmungen – etwa Mini-Blitze – innerhalb einer Sekunde einzeln erkennen kann, mehr nicht? In derselben Zeitperiode trennt unser Gehör etwa einhundert unterschiedliche Tonimpulse – leistet also das Zwanzigfache. Selbst das Wachstum unserer Fingernägel, rund zwei Millimeter pro Monat, findet seinen Gegenpol im Universum: Es entspricht genau der Geschwindigkeit, mit der Kontinentalplatten aneinander reiben.

Die Tendenz zur Ruhelosigkeit und zur Beschleunigung darf eines nicht in Vergessenheit geraten lassen: Menschliche Leistungsfähigkeit hat Grenzen – auch solche, die wir nicht kennen oder akzeptieren. Das Leben ist rhythmisch. Seine Rhythmen verändern sich. Sie zeigen erstaunliche Vielfalt und Flexibilität. Nicht Gleiches wiederholt sich im menschlichen Körper, sondern Ähnliches.

Die Schwankungsbreite der möglichen Reaktionen ist enorm. Unser Stoffwechsel zeigt bei einigen seiner Leistungen innerhalb eines einzigen Tages Unterschiede von bis zu 400 Prozent. Erst diese von einer höheren Ordnung geprägte Steuerung ermöglicht eine großartige Anpassung an unterschiedliche Bedingungen. Denken wir nur an Zeitzonen-Reisen oder an Nachtarbeit.

Aber von besonderem Nutzen ist das Wissen um die Eigenzeit der Organe bei Fragen von Krankheit und Heilung. Die Chronobiologie beschäftigte den Menschen bereits vor fünf Jahrtausenden. Die Akupunktur der chinesischen Medizin basiert auf der Vorstellung einer Organuhr.

Aber erst die vergangenen zwei, drei Jahrzehnte mit ihren modernsten Messtechnologien haben uns fundierte Kenntnisse geliefert. Jeder Tag schenkt uns zusätzliche. Unsere inneren Zeitgeber enthalten uns noch eine Reihe von Antworten vor. Denn wir kennen noch nicht einmal alle Fragen. Doch unumstritten ist bereits jetzt: Jedes Leiden hat seine Zeit.

Aber auch jede Heilung.


Zahnarzt? 
Erst am Nachmittag!

Universum. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und heißt wörtlich: ein Vers, ein Lied, ein Klang.

In vollem Einklang präsentiert sich die höhere Ordnung des Kosmos. Vielstimmig. Vielfältig. Aber feinst abgestimmt, in Harmonie. Ebbe und Flut. Tag und Nacht. Wie die Symphonie eines gigantischen Orchesters unter einem göttlichen Herbert von Karajan.

Ihr Körper spürt den Takt. Kennen Sie ihn ebenfalls? Dann kann man Ihnen nur gratulieren.

Ihren Zahnarzttermin legen Sie in den Nachmittag. Schmerz quält uns dann am wenigsten intensiv.

Wir alle haben die riesigen Satellitenschüsseln der Radioastronomen vor Augen. Signale aus dem All erreichen uns in Gestalt elektromagnetischer Schwingungen und Frequenzen. Mehr als hundert chemische Substanzen des Weltalls können so geortet und erkannt werden. Sie enthalten Informationen über Vorgänge in fernsten Welten, in vergangenen Zeiten.

Ähnliche Oszillationen gibt der Körper preis. Erst fanden wir die elektromagnetische Handschrift des Gehirns und des Herzens. Heute wissen wir: Die Funktion aller bedeutender Organe lässt sich in Gestalt von Sinuskurven abbilden. Ihre Abbildungen sind oft verwirrend überlagert. Doch dank Hochgeschwindigkeitscomputern und der Genialität von Programmierern ringen wir dem Körper mehr und mehr seiner Geheimnisse ab.

Die meisten Arbeitsrhythmen des Körpers spiegeln die Dauer einer Erdrotation wieder. 24 Stunden. Unsere Körpertemperatur sinkt während des Schlafes. Kurz vor dem Erwachen steigt sie steil an. Aber längst nicht alle. Viele Rhythmen wiederholen sich bereits alle Paar Stunden. Der längste, in Abhängigkeit von den Jahreszeiten, erstreckt sich wieder und wieder über zehn bis vierzehn Monate. Ein Beispiel: Männer verüben Selbstmord im Mai (sogar die bevorzugte Stunde kann vorhergesagt werden).

Jüngste Forschungsergebnisse lenken unsere Aufmerksamkeit auf ein Phänomen, das die Wissenschaft Basic Rest Activity Cycle (BRAC) nennt – eine grundsätzliche Veranlagung zu einer regelmäßigen Abfolge von Entspannung und Anstrengung. Ihre Impulsgeber sind in den Genen verankert. Würden wir stärker in uns hineinhorchen und weniger nach den Regeln des 21. Jahrhunderts leben, würden wir in unserer alltäglichen Wachphase Abschnitte von etwa 90 bis 120 Minuten spüren und ein bisschen natürlicher nach ihnen leben. Getrennt werden sie von kurzen, existenziell wichtigen Erholungsphasen. Wir alle kennen den Begriff 5-Minuten-Schlaf.

Dieser ultradiane Zyklus ist ein Fundament wichtigster Lebensprozesse.

Hollywood hat seine Handlungen diesem Format angepasst. Die Fußball-Bundesliga ebenfalls. Wir nicht.

Die Chronobiologie ist die Wissenschaft unseres Körpers und unserer Sinne in ihrer Beziehung zur Zeit. Daraus entsteht der Leistungsmix unserer Organe. Die Gene, die Umwelt, die Jahreszeit und die monatlich und täglich wiederkehrenden Aktivitäten sind seine Bausteine.

Körperrhythmen bestimmen den Druck und die Zusammensetzung unseres Blutes und Myriaden weiterer Elemente unseres Stoffwechsels – und damit die Lebensumstände jeder einzelnen Zelle.

Die Chronotherapie untersucht die Wirkung therapeutischer Maßnahmen im Einklang mit der inneren Uhr. Für den engagierten Arzt ist dieses Wissen unendlich wertvoll. Es kann verhindern, das Richtige zum falschen Zeitpunkt zu tun. Die Chronotherapie kann der entscheidende Faktor sein, den Körper gerade dann zu unterstützen, wenn die Hilfe größte Wirkung auslöst.

So erhöhen wir Effizienz. So verringern wir störende Nebenwirkungen. So eliminieren wir vielleicht schwere Risiken.

Aus demHealth Science Center an der Houston University of Texas stammt die eindeutige Erkenntnis: Die Nachtstunden empfehlen sich nicht für die Entfernung einer Gallenblase per Schlüsselloch-Chirurgie. Wissenschaftler konnten die Folgen an fünfhundertneunundvierzig Patientinnen und Patienten bewerten, die sich in den Jahren 2010 und 2011 in einem Krankenhaus in Orlando (Florida, USA) diesem Eingriff unterziehen mussten. Wegen beschränkter Möglichkeiten bei großem Bedarf angesichts einer älteren Bevölkerung werden dort die chirurgischen Einrichtungen rund um die Uhr benutzt, auch nachts. Obwohl das durchschnittliche Alter der für die Schicht von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens ausgewählten Personen mit sechsunddreißig Jahren um zwei Jahre niedriger war, waren sie deutlichhäufiger von Komplikationen betroffen, etwa Entzündungen, Verletzungen der Gallengänge oder übersehene Gallensteine. Ihre Verweildauer im Krankenhaus betrug drei Tage – dreimal so lange als normal Je älter die betreffende Person war, desto wahrscheinlicher wurde eine Wiederaufnahme ins Krankenhaus innerhalb von dreißig Tagen.

Philosophen betrachten die Chronobiologie sogar als Teil einer höheren Ordnung. Sie stellt die aktivste Verbindung zwischen Universum und Individuum dar. Sicherlich erahnen wir erst einen Bruchteil ihrer Geheimnisse.

Doch in die Beurteilung und Behandlung einiger weit verbreiteter Leiden ist die Chronotherapie heute bereits integriert. Hier wären Allergie, Angina, Asthma, Arthritis, Bluthochdruck, Depression, Herzattacken, Krebs, Magengeschwüre, Schlafprobleme und Stoffwechselstörungen des Gehirns zu allererst zu nennen.

Noch bedeutendere Fortschritte scheinen zum Greifen nahe. Wir beginnen zu erkennen, zu welcher Stunde Krebszellen sich teilen. Sie folgen einer anderen Uhr als gesundes Gewebe. Es kommt also sehr darauf an, den Körper therapeutischen Zellgiften genau dann auszusetzen, wenn sie bösartiges Wachstum am stärksten hemmen und normale Zellen am wenigsten belasten.

Aber noch mehr Möglichkeiten führen unmittelbar zur Lösung der kleineren oder größeren Probleme unseres Alltags.

Vielen von uns ist das Auf und Ab von Energie, Wohlgefühl und Hoffnung nur vage bewusst. Veränderungen, die sich über Wochen und Monate einstellen, sind noch schwieriger zu erkennen. Und doch sind die biologischen Zyklen mindestens ebenso Teil unseres Organismus wie Nerven, Knochen, Gefäße. Hier ist jeder gefordert, seine Chancen wahrzunehmen. Denn: Wo Auffälligkeiten der Körpertemperatur, des Herzschlags oder der Arbeit unserer Nieren im Voraus zu berechnen sind, dort verdienen auch unsere Gefühle, unser Leistungsvermögen oder unsere Eigenheiten mehr Verständnis.

Die rhythmische Aktivität unserer Organe spiegeln sich innerhalb ihrer Zyklen in unterschiedlichen Kurven wieder.

Die meisten Menschen kennen noch nicht einmal ihr biologisches Grundformat. Sind Sie ein Morgenmensch? Oder laufen Sie am Abend zu Höchstform auf? Der Unterschied macht immerhin etwa zwei Stunden aus.

Wir beginnen, selbst das Altern mit anderen Augen zu sehen. Es ist vielleicht weniger der Verlust oder die Reduzierung von Hormonen. Sondern vielmehr ihr Problem, sich aufeinander abzustimmen. Ähnlich ist die Chronobiologie dabei, auch den Schlaf, die Sexualität, das Gedächtnis, den Schmerz oder die Depression besser zu verstehen.

Unzählige Rhythmen steuern unsere Organe. Wir erwachen, wenn unsere Körpertemperatur ansteigt. Wir erwarten den Schlaf, wenn sie sinkt. Herz und Lunge dürfen wir als ein Team betrachten. Auf vier bis sechs Pulsschläge folgt ein Atemzug. Beide Zyklen steigen tagsüber und fallen nachts. Ein unsichtbarer Pauseknopf schaltet offensichtlich in den meisten Rhythmen unaufhörlich um zwischen Aktivität und Erholung. Selbst der Luftstrom, den wir einatmen, wird abwechselnd durch den einen, dann durch den anderen Nasenflügel geleitet.

Vier Elemente der Chronopharmakologie

Die optimale Substanz

Die richtige Menge

Das angesteuerte Zielorgan

Der wirksamste Zeitpunkt

Unser Leben steht unter der Kontrolle Tausender Regulatoren. Obwohl sie mit größter Wirksamkeit agieren, sind sie uns noch kaum bewusst. Dabei liefern sie die Ursachen der periodischen Veränderungen von so überaus wichtigen Eigenschaften wie Stimmung, Wachsamkeit und Erinnerungsvermögen.

Zum Beispiel ist bei der Wirksamkeit vieler Arzneistoffe die Aktivität des Magens ein wichtiger Faktor. Die Durchblutung der Verdauungsorgane ist in der Nacht und am frühen Morgen sehr hoch. Um die Mittagszeit ist sie deutlich geringer. Erst nach 18 Uhr steigt sie wieder an. Die Verweildauer fester Bestandteile ist auch abhängig vom Volumen des Mageninhalts. Die Passage erfolgt nicht über 24 Stunden mit der gleichen Geschwindigkeit.

Wirksamkeit

Die Chronokinetik untersucht den Faktor Tageszeit auf die Effektivität eines Wirkstoffes. Ob eine therapeutische Substanz morgens oder abends eingenommen wird, beeinflußt entscheidend die Zeit bis zum Erreichen der höchsten Konzentration im Blut. Häufig – aber nicht immer – beschleunigt eine Einnahme zu Beginn des Tages den Ablauf um bis zu zwei Stunden. Bei wenigen Arzneistoffen sogar länger.

Viele Rätsel des Organismus sind schwer zu durchschauen. Unser Gehirn ist auch aktiv, während wir schlafen. Doch nur höchstens fünf Prozent unserer Träume werden aufgezeichnet. So sehr wir morgens auch grübeln: Die meisten sind aus dem Gedächtnis verbannt.

Allmählich gelingt es uns, Krankheiten als Rhythmusstörungen zu erkennen. Gravierende Veränderungen ereignen sich oft schon im Laufe eines Tages. Aber auch in den Gezeiten der Jahreszeiten, beispielsweise bei Depression. Wie das Leiden selbst schwanken auch Werte der Diagnose. Sobald jene innere Uhr identifiziert ist, die hier aus dem Takt geriet, haben wir mehr Ansätze für eine erfolgsversprechendere Therapie. Wir wissen, dass Licht ein mächtiger Impulsgeber ist. Das Überleben nach einem

Herzinfarkt kann davon abhängen, ob durch die Fenster der Intensivstation Sonne scheint oder nicht. Betten in einem Nordtrakt stehen in einem mysteriösen Zusammenhang zu mehr Todesfällen. Doch der Wechsel zwischen Helligkeit und Dunkelheit durch die Rotation der Erde erklärt keinesfalls jedes Auf und Ab in der Biologie unserer Organe. Genau so wenig wie Aktienkurse nur vom Schein des Mondes bestimmt werden – aber ein bisschen offensichtlich schon.

Betrachten wir zum Beispiel einen neuartigen Weg, auf intelligente Weise unser Gewicht zu regulieren. Wir kennen Substanzen, die unsere Nahrung direkt in Energie umsetzt. Die unsere Fettzellen knackt und verbrennt. Die unser Hungergefühl hemmt. Aber nicht alles zur selben Zeit. Den Stoffwechsel sollten wir morgens auf Touren bringen. Auch Entschlackungsprozesse sind Teil des Abnehmens. Ebenso Stressabbau. Das ist eine sinnvolle Nachtaufgabe für den Körper.

Kurz: Nahrung ist nicht nur die Quelle unserer Kalorien. Sie hat immensen Einfluss auf die biologische Funktion unserer Hormone. Geschickt eingesetzt, verspricht sie Abnehmen ohne Verzicht.

Die Chronobiologen wurden anfangs ausgelacht. Heute ist ihre Wissenschaft die anerkannte Erforschung von Zusammenhängen zwischen Körper, Geist und Zeit. Machen Sie sich auf Überraschungen gefasst!