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Leopold Federmair

Das rote Sofa

Leopold Federmair

Das rote Sofa

Geschichten von Schande und Scham

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1213-9
eISBN 978-3-7013-6213-4

© 2013 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Coverbild: Michael Fröhlich, www.mf-fotografie.de

Inhalt

Das rote Sofa

Die Scheune

Brief an meinen Bruder über Kremsmünster

Sekuhara I

Sekuhara II

LOOK!

Exhibitionismus und Scham

Drei schwule Außenseiter

Freilassing

Epilog im Himmel

Das rote Sofa

Warum nicht ich? Diese Frage stelle ich mir im nachhinein, Jahrzehnte später, jetzt, wo alle von dem reden, worüber jahrzehntelang niemand zu reden wagte, auch nicht die Opfer, die Geschädigten oder die, die im nachhinein einen Grund dafür finden, warum es ihnen im Leben schlecht ergeht. Der Mönch, der sie im Kindesalter mißbraucht hat, ist schuld. Da ist ihnen unverhofft eine Erklärung zugeflogen, die immer in Reichweite war.

Von meinem elften bis zum sechzehnten Lebensjahr bin ich in diese Klosterschule gegangen, habe im Internat gelebt, bin aber nicht mißbraucht worden. Warum eigentlich nicht? Seltsam, daß diese Frage jetzt auftaucht.

Ja, hätte dir das denn gefallen? Auch die Gegenfrage muß ich mir stellen, auf die weiß ich sogar eine Antwort (aus Schaden wird man klug): Nein, das hätte mir nicht gefallen. Der alte Mann, den alle aus Scham, oder weil es die Rechtsprechungsgepflogenheiten so wollen, Pater A. nennen, leitete damals den Knabenchor, und ich hätte in diesem Chor gern mitgesungen. Der Pater, auch als Musiklehrer tätig, nahm mich nicht auf, obwohl ich, wenn ich mir alte Fotos ansehe, doch ein hübscher Junge mit weichen Zügen war. Genau die Art, die nach dem Geschmack der Pädophilen vom Schlage des Paters sind. Die Schüler redeten untereinander über die schwulen Patres: Erfahrungen, Vermutungen, Gerüchte, manch einem wurde sicher unrecht getan. Es gab ein Wort, das auf dem Land gern verwendet wurde: „warm“. Der ist ein Warmer, hörte man, und ein Elf-, Zwölfjähriger, der noch nicht eingeweiht war, fragte sich beunruhigt, was es damit auf sich haben mochte. Anspielungen und Gekicher: „Ein warmer Leberkäse…“ Die Schüler redeten, aber wenn wirklich einer an die Reihe kam, wenn er ins Zimmer des Musiklehrers mußte, um sich dort auf dem roten Sofa „untersuchen“ zu lassen, dann gestand er es nicht direkt, und das hieß: Er konnte sich nicht wehren. Die Scham der Opfer wirkte auch bei uns, bei den Kleinen, die gern groß gewesen wären.

Wahrscheinlich war ich als Sänger nicht gut genug, obwohl ich mir einbildete, in der Gruppe ohne weiteres mitsingen zu können. Wie ich auch kein guter Fußballspieler war: das redete mir der Betreuer ein, um mich bei der Stange zu halten. Aber ich hätte gern gesungen, und ich spielte gern Fußball. Im Musikunterricht kam es vor, vielleicht nicht jede Stunde, aber doch ziemlich oft, daß einer der Schüler nach vorne zum Pult des Lehrers mußte, um eine Ohrfeige in Empfang zu nehmen. Wir fürchteten uns davor, die Prozedur war grausam, und oft war es unverständlich, warum es diesen traf und jenen nicht. Warum ich? Warum nicht ich? Genießerische Willkür von Macht und Grausamkeit. Macht ist gleich Grausamkeit, das prägte sich mir damals ein. Der Pater saß auf einem Stuhl, der ausgewählte Schüler ließ sich auf seinem Oberschenkel nieder, und auf dem runden Gesicht des Paters verzogen sich die wulstigen – oft feuchten, wie mir die Erinnerung sagt – Lippen zu einem breiten Grinsen. Der Kopf des Knaben lag in der riesigen Handmuschel des Paters, der mit der anderen Hand ausholte, eine Sekunde verstreichen ließ, zehn Sekunden, die Situation genießend, zwanzig Sekunden, um dann langsam die Hand herabsinken zu lassen und die Wange des Knaben eine Weile zu streicheln, zu liebkosen. Das war’s, der Knabe durfte aufstehen und gehen, zurück auf seinen Platz.

Nein, so lief es nicht immer. Ebenso oft sauste die Riesenhand des Paters nieder und traf das Kind mit voller Wucht. Der da vorne wie in einer Pietà-Szene auf dem Schoß des Paters saß oder an seiner Brust lehnte, konnte niemals sicher sein, daß ihn die Liebkosung treffen würde und nicht die Gewalt. Glaubte er, noch einmal davongekommen zu sein, und lachte er über die Scherze, die während des Rituals über die Lippen des Paters kamen, wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Pater am Ende doch noch fürs Zuschlagen entschied. Ganz sicher konnte man nie sein, immer war beides möglich, Liebkosung, Gewalt. Damals wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, der Pater könne in seinem Präfektenzimmer im Schrank hinter dem roten Sofa Schußwaffen aufbewahren. Ein Priester und solche Waffen? Nein, wenn es auf der Welt Hüter des Friedens gab, dann sie, unsere Pfarrer, Lehrer, Erzieher. Als ich im September 2010 zufällig eine Zeitungsnotiz mit der reißerischen Überschrift „Der Pumpgun-Pater von Kremsmünster“ las, wunderte ich mich nicht. Der Artikel, im Stil der berühmten Kronenzeitungspoesie gehalten, bezog sich auf den mittlerweile berüchtigten Pater A. Daß Leute wie er nur allzu gern mit der Gewalt spielen, wußte ich aus eigener Erfahrung. Wer das Austeilen von Ohrfeigen genießt, bekommt früher oder später Lust auf einen stärkeren Kitzel.

Aber… Warum nicht ich? Die Frage steht immer noch im Raum, und ich taste nach einer Antwort, und während ich taste, beginne ich zu glauben, daß sie nicht nur mich betrifft, sie ist nicht nur mein persönliches Problem. Weil mir der Pater, der bestimmt feinfühlig war, feinfühliger als die anderen, die sich an niemandem vergriffen haben – weil mir der Pater ansah, daß ich störrisch war. Weil er meinen Widerstandsgeist spürte, mit dem ich damals nichts anzufangen wußte, außer daß ich mich irgendwie querstellte, abwandte in den entscheidenden Augenblicken, ohne jedes Talent, zu einem Anführer zu werden und eine Masse, eine Klasse hinter mir zu versammeln. Kein kleiner Volksheld, nur eben dieses Störrische, das die feuchten Hände erkalten ließ, wenn sie über die Wange des Knaben strichen. So einen Knaben konnte der Musiklehrer in seinem Chor nicht brauchen. Wenn dieser Knabe krank war, verschwieg er es, um der „Untersuchung“ zu entgehen. Dieser Schlaumeier und Drückeberger! Mit zwölf, dreizehn Jahren war mein Gesicht noch nicht entstellt, ich hatte noch nicht die schwere Akne bekommen, unter der ich während der Pubertät und noch Jahre danach litt. Mit fünfzehn, sechzehn hätte ich verstanden, daß mich der Pater nicht auf sein Sofa holte. Aber da war ich ohnehin schon zu groß, kein Knabe mehr, und das Singenwollen war mir auch vergangen, die Stimme gebrochen. Nur noch Fußball spielen und Bücher lesen. Letzteres ein einsames Vergnügen, das mich – auch wenn es seltsam klingt – mehr als mein störrisches Wesen mit der Ordnung des Internats in Konflikt brachte. Aber vielleicht hängt beides zusammen: störrisches Wesen und Literatur.

Fußball spielte ich nicht auf dem Sportplatz des Stifts, sondern in meinem wenige Kilometer entfernten Heimatort. Im Konvikt mußten wir die meiste Zeit Feldhandball spielen, weil der Sportlehrer ein Nostalgiker war und hartnäckig an dieser im Aussterben begriffenen Sportart festhielt. Dieser Lehrer war weder Priester noch schwul, sondern nur gewalttätig, ohne Zärtlichkeiten, und seine Nostalgie bezog sich nicht nur auf Handball, sondern auch auf die Nazizeit, während der er einmal den Führer aus dem brennenden Berlin herausgeholt habe, wie er erzählte, wenn er bei Laune war. Der Mann war auch Lehrer für Geschichte, aber er neigte dazu, Fakten und Phantasie zu vermischen.

Nein, zum Fußball holte mich ein Mann ab, der gleich hinter den Klostermauern bei seiner alten, weißhaarigen Mutter wohnte und unter seinem Bett eine Unmenge von Sexheften aufbewahrte, mit schwarzweißen Fotos auf Zeitungspapier. Nachtbote hieß eine dieser Zeitschriften, und ich glaube, ich habe dort auch die St.-Pauli-Nachrichten gesehen. Der Mann war ein sanftmütiger Schwuler, natürlich unverheiratet und in der Bezirkshauptstadt in irgendeinem staatlichen Büro angestellt, obwohl er nicht einmal richtig Schreibmaschine schreiben konnte. So kam ich vom Regen in die Traufe: vom Kloster auf den Fußballplatz. In der Traufe gefiel es mir besser. Der schwule Betreuer holte mich mit seinem Wagen vor den Klostermauern ab, brachte mich zum Training oder zum Spiel, danach wieder zurück ins Internat. Ich verbrachte viel Zeit in diesem Wagen, der auch andere Kinder durch die Gegend kutschierte, zum Beispiel Bauernkinder, die fern vom Ortszentrum wohnten. (Die Bauern begannen sich damals zaghaft für Fußball zu interessieren.) Eine Zeit lang litt ich unter Leistenzerrungen: gefundenes Fressen für einen schwulen Betreuer, der gern die Penisse seiner Schützlinge betrachtet und, wenn sich die Gelegenheit bietet, auch betastet. Wir fuhren in ein entfernter gelegenes Krankenhaus, wo ein sogenannter Sportarzt wirkte, der mir, nachdem er mit einem Kugelschreiber einen winzigen Kreis neben meine Hoden gezeichnet hatte, eine Spritze versetzte, und das ziemlich oft, Leistenzerrungen sind hartnäckig.

Einmal geschah es, daß mich der schwule Betreuer unterwegs betastete. In seinem schon ein wenig klapperigen Wagen fuhr er so langsam, daß ich Angst hatte, irgendwann würde uns einer von hinten rammen, und knöpfte mir die Hose auf. Die Berührung seiner Finger war mir unangenehm, aber ich sagte nichts. Ich wehrte mich innerlich dagegen, aber schließlich ejakulierte ich – zu meinem Erstaunen. Das Aufseufzen des Betreuers habe ich immer noch im Ohr. Er nannte den Namen meines Bruders und sagte, der sei „leidenschaftlicher“ als ich. Oder ein ähnliches Wort, das ich selbst nie gebrauchte. Ich verstand, daß er meine Widerstandskraft meinte, die er schließlich doch noch gebrochen hatte, bevor wir die Klostermauern erreichten. Der Betreuer fuhr mich noch oft zum Sportplatz oder ins Krankenhaus, er heftete seine Augen noch oft auf meinen Penis, und noch heute behauptet er, ich sei ein großes Fußballtalent gewesen, aber die Hose hat er mir nicht mehr aufgeknöpft. Warum nicht? Seltsam, diese Frage treibt mich nicht um.

Die Welt der musischen und sportlichen Kindererziehung war und ist voll von schwulen Knabenliebhabern, das wird sich nicht ändern. Man soll nicht etwas ändern wollen, was nicht zu ändern ist. Man soll auch keine Drogen verbieten, wenn man weiß, daß kein Mensch ohne Drogen auskommen kann, abgesehen von ein paar Heiligen hinter Klostermauern. Man soll die Sexualität nicht verbieten und nicht verdrängen, wenn man weiß, daß so gut wie jeder sie auf seine Weise ausleben muß, sogar die Mönche hinter den Klostermauern. Daß mein Fußballbetreuer schwul ist, wußte meine Mutter, und ich glaube, alle im Ort wußten es, jedenfalls behauptete meine Mutter: „Das wissen doch alle, daß er ein Warmer ist.“ Warum redete sie aber so auf mich ein, wenn sie ohnehin alles wußte? Sie wollte von mir ein Geständnis. Sie wollte aus meinem Mund hören, daß der Betreuer mich verführt hatte. Sie wollte, daß ich sage, was sie wußte. Vorher war sie nicht zufrieden.

Sie drang in mich, sie bearbeitete mich mit ihren Sätzen. Ich erinnere mich ganz genau an den Ort, die sogenannte Gaststube, eigentlich ein kleiner Saal, der an den meisten Tagen geschlossen war und den wir, mein Bruder und ich, zum Ballspielen nützten, Stürmer und Tormann, Tormann und Stürmer. Die türkisgrünen Bodenfliesen. Ich sehe mich, am Ende des Verhörs meiner Mutter, auf diesen Bodenfliesen liegen, erschöpft. Ich hatte widerstanden. Ich hatte nichts gesagt. Ich hatte nicht „nein“ gesagt, aber auch nicht zugegeben, daß mich der Betreuer verführt hatte. Schließlich war er ein Freund. Ich sah und sehe ihn immer noch, Jahrzehnte danach, als Freund, obwohl – nein: weil ich mich nicht zum Schwulsein habe bekehren lassen. Gibt es das überhaupt, jemanden zum Schwulsein bekehren? Genießen die Pädophilen, die Liebhaber der Knaben, nicht gerade die Überwindung des Widerstands? Ja, wenn er nicht zu stark ist…

In jenem Kampf mit meiner Mutter konnte ich siegen, weil ich ihr am Höhepunkt der Verzweiflung mit einer Waffe kam, gegen die sie machtlos war. „Die Warmen, das sind die Pfaffen. Deine Pfarrer, Mutter, die sind doch alle warm.“ Dagegen wußte sie kein Argument. Ich sehe ihren offen stehenden Mund und dann, zwei Sekunden später, die Tränen, das hervorbrechende Schluchzen. Wir hätten miteinander weinen können, aber sie zog es vor, die Gaststube zu verlassen. Sie schoß regelrecht durch die Schwingtür, durch die an Tagen, wenn ein Autobus kam oder eine Veranstaltung war (zum Beispiel die Weihnachtsfeier vom Sportverein), die Speisen und Getränke getragen wurden. Keine Versöhnung, der Kampf endete mit meinem kommentarlosen Sieg. Daß die Pfarrer, die Mönche, die sie grundsätzlich verehrte, so schweinische Sachen treiben könnten, ging über ihr Vorstellungsvermögen. Die Vorstellung davon hätte ihr ganzes katholisches Weltbild zusammenstürzen lassen. Im Krieg, auf dem Bauernhof, als sie ein Mädchen war und auf dem Feld arbeitete, während die Brüder in Rußland fielen, hatte die Familie einen widerständigen Pfarrer vor den Nazis versteckt, und nach dem Krieg, vor ihrer Heirat, hatte sie im Stift Kremsmünster als Köchin gearbeitet, und den ersten Sohn weihte sie Gott, sie hätte ihn am liebsten in einer schwarzen Kutte an dem Ort gesehen, an dem sie gedient hatte. Im Internat, wenn wir unserem Haß gegen die Mönche Ausdruck geben wollten, nannten wir sie „die Schwarzen“. Die warmen Schwarzen.

Mein Schwuler gegen die deinen, Mutter. Mein vereinzelter Fußballschwuler gegen deine Bande von Gotteswarmen. Wer ist stärker? Kommt das alles nicht aufs selbe hinaus? Müssen wir denn kämpfen? Brauchen wir den Widerstand? Ich gestehe, Mutter, ich bin mißbraucht worden. Und ich gestehe, ich habe Widerstand geleistet. Meinen Fußballschwulen aber, den verrate ich nicht, weder dir noch den anderen. Es kommt vor, daß ich ihn treffe, auf einen Kaffee im Gasthaus meines… Nein, diese Details verrate ich nicht. Heute ist er ein alter, zuweilen fröhlicher, immer noch aktiver Mann, und er lebt immer noch in der Wohnung seiner Mutter, die inzwischen gestorben ist. Wir reden ein wenig über Fußball und Fußballknaben, über den und jenen, die alten Zeiten, etwas anderes interessiert ihn nicht. Ich könnte ihm sagen, daß dort, wo ich unterrichte, hin und wieder Professoren wegen sexueller Belästigung von Studentinnen entlassen werden, alles in allem zu meinem Bedauern, denn die Universitäten werden auf diese Weise auch nicht besser. Ich würde sagen, daß ich immer noch Sympathien hege für die alte griechische Idee und Praxis, erotische Anziehung, diese unauslöschliche Energie, als Grundlage jeder Lehre und Erziehung zu betrachten.

Ich selbst versuche das zu praktizieren: Umwandlung erotischer in pädagogische Energie, dieses Widerspiel, diese leise Spannung, die man lieber nützen als ausrotten sollte. Übertragungsliebe hat Freud das genannt. Richtig, das ist nicht dasselbe, insofern diese Liebe vom Untergebenen ausgeht, vom Leidenden, nicht vom Arzt. Und doch ist es ein verwandtes Phänomen. Man sollte die Liebe, die Energie, den Eros nicht ablehnen, nicht wegschauen, sondern sich die Energie zunutze machen. Der Lehrer sollte so sein, sich so verhalten, meinetwegen auch: so ausgebildet werden, daß ihn die Schüler lieben können. Daß die Liebe erwacht – mag sein, auch die erotische. Was ich hingegen nicht schätze, würde ich zu meinem sanftmütigen Betreuer sagen, ist Gewaltanwendung und Machtmißbrauch. Zugegeben, ein bißchen davon kommt in der körperlichen Liebe immer wieder vor. Sie kann Quelle der Lust sein, auch für den Passiven, den Leidenden. Aber keine Ohrfeigen, keine erzwungene Penetration. Kein Gewehr im Schrank. Das ist dann doch etwas anderes. Da würde ich auch nicht schweigen. Da sollten wir reden, meinst du nicht?

Die Scheune

Als Heranwachsender verbrachte ich in den Sommerferien oft einige Tage oder Wochen auf dem Bauernhof eines entfernten Verwandten. In der Familie gab es zwei Kinder, beide jünger als ich, sie gingen in die Volksschule, ich ins Stiftsgymnasium. Der Hof war ein Vierkanter, von gewaltigen Ausmaßen, wie alle Bauernhöfe in der Gegend. Die Schlafzimmer waren im Winter eiskalt, im Sommer angenehm. Im Bad und auf den Toiletten herrschte ein eigenwilliger Modergeruch, der auch auf den Flur strömte; ich konnte mich nur schwer daran gewöhnen. Außer den beiden Jungen lebte ein Mädchen meines Alters auf dem Hof, Cäcilie, Zenzi genannt, eine Halbschwester der Bäuerin; weiters eine Magd, die geistig ein wenig beschränkt, aber freundlich und arbeitsam war. Und dann war da noch ein älterer Mann von gedrungenem Wuchs, der zwei „schlechte Hände“ hatte, wie man sagte; vor langer Zeit war er einmal in eine Sägemaschine geraten und hatte die meisten seiner Finger verloren. Die Hofbewohner nannten ihn „Opa“, auch Zenzi nannte ihn so. Ich ahnte, daß er ihr Vater war, wagte aber nie, nachzufragen.

Mit Zenzi glaubte ich nicht viel gemeinsam zu haben. Bei den Mahlzeiten saßen wir mit den anderen am großen Tisch in der Küche, langten beide in die Schüssel mit dem Krautsalat oder den gedünsteten Äpfeln. Ich las viel, ging hin und wieder mit dem Bauern über die Felder, brachte seinen Buben das Fußballspiel bei. Trotzdem dachte ich an Zenzi, als mich nach den großen Ferien ein Schulkamerad im Internat fragte, ob ich eine Freundin hätte. Ich beschrieb sie und deutete an, welche Abenteuer wir zusammen erlebt hätten. Der Schulkamerad wurde drängend, er wollte Genaueres wissen. Also dann, wir sind halt ins Kukuruzfeld gegangen… In Wahrheit hatte ich dort, zwischen den Stauden, die so hoch waren, daß man auch einen im Feld laufenden Riesen nicht entdeckt hätte, einmal die Tochter vom benachbarten Hof gesehen, sie und ihren Freund, den sie später heiratete. Die Kukuruzfelder waren der ideale Ort für verbotenes Treiben. Ich liebte es, nackt darin herumzustreifen, hängte meine Kleider an den Kolben einer Staude, von der ich sicher war, daß ich sie wiederfinden würde, und begab mich ins Labyrinth. Da wurde ich auf die Stimmen aufmerksam, ein Flüstern und Kichern, ich näherte mich vorsichtig und sah, sah zuerst das Weiß der Körper im grünen Halbdunkel… Ich löste mich von dem Anblick, von den Stimmen, den Geräuschen, lief weiter, allein, ließ mich von den scharfen Kukuruzblättern streicheln. Aber das erzählte ich dem Schulkameraden nicht. Wenn ich von Zenzi sprach, von unseren angeblichen Abenteuern, gab ich ihr einen anderen Namen. Der wirkliche war mir peinlich, so hieß doch heutzutage kein Mensch, nicht einmal auf den abgelegensten Höfen.

Mein Zimmer im Bauernhof befand sich neben dem der beiden Buben; Zenzi schlief auf der anderen Seite der Stiege zwischen dem Ehepaar und dem Opa. An einem jener frühen und frischen Sommermorgen, die einen unendlichen Tag ankündigten, sah ich die angelehnte Tür des Bubenzimmers und hörte etwas, ein Geräusch, etwas Unbestimmbares, jedenfalls schob ich die Tür ein Stück weiter in den Raum und erblickte den Älteren auf seinem Bett, versunken, geistesabwesend, ganz bei der Sache. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, der kleine Körper lag dort im Pyjama, der Arm des Buben quer über seinem Bauch, die rechte Hand am Hosenschlitz. Mein Blick fiel zuerst auf sein Gesicht, die Wimpern, die gesenkten Lider, den Sehspalt, die Zungenspitze zwischen den Lippen. Aus dem Hosenschlitz hatte er sein Glied geholt, und dieses Glied war steif, ein Stäbchen, nicht sehr groß, aber auch nicht so harmlos klein, wie man es bei einem kleinen Buben erwartet hätte. Es war steif, und der Junge spielte damit. Er rieb nicht daran, seine Bewegungen waren ruhig, nicht so hektisch wie bei masturbierenden Männern. Er schien sein Spiel zu genießen und war, anders kann ich es nicht sagen, bei sich, indem er einen Kreis schloß, von den Fingern über den Arm und den Oberkörper bis zu dem Fortsatz dort, dem Stäbchen, dem länglichen Pilz (ich erinnere mich, daß die rosarote Eichel ein wenig größer war als der Schaft). Lange stand ich dort, in den Anblick des Versunkenen versunken. Das Bett seines Bruders befand sich hinter der Tür, so daß ich nicht wissen konnte, ob er dort lag und zusah, mucksmäuschenstill, oder ob er vielleicht schon aufgestanden war, bei der Mutter im Kuhstall hockte, wo auch immer. Ich schaute lange, wollte den Ausgang wissen, das Sekret, ob wirklich eines kam, das Geheimnis dieses Sekrets, und es kam, kam nicht in dieser kleinen Ewigkeit. Bis ich die Tür schließlich zuzog, so sachte, wie ich sie geöffnet hatte. Ich ging ins Bad, duschte, spielte mit meinem eigenen Glied. Das Ende ließ nicht lang auf sich warten.