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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Fußnoten

Vgl. Rainalter 1925, S. 76.

Vgl. Zweig, »Sigmund Freud«, S. 343.

Vgl. Zweig, Welt von Gestern, S. 476. Zu Zweigs Verhältnis zu Freud vgl. z. B. Strelka 1982, S. 4252.

Der Novellenband ist allerdings nicht Freud, sondern der schwedischen Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key gewidmet, deren wichtigstes Werk Das Jahrhundert des Kindes 1902 in deutscher Übersetzung erschien und mit der Zweig seit 1903 in Kontakt stand.

Vgl. dazu die programmatischen Essays, die Hermann Bahr als theoretischer Kopf der Autoren von ›Jung Wien‹ seit Ende der 1880er Jahre veröffentlichte, wiederabgedruckt in: Bahr 1968.

Vgl. Zweig, Welt von Gestern, S. 360.

Vgl. Doktor von Aigner in Schnitzlers Tragikomödie Das weite Land (1910): »Das Natürliche … ist das Chaos. Ja – […] die Seele … ist ein weites Land« (Schnitzler 2002, S. 88).

Von seinen Romanprojekten hat Zweig nur das Spätwerk Ungeduld des Herzens (1939) vollendet.

Vgl. Zweig, Welt von Gestern, S. 364 f.

Vgl. Zweig, Tagebücher, S. 40.

Auf Zitate aus dem vorangestellten Text der Novelle verweisen hier und im folgenden die Seitenangaben in den runden Klammern.

Zu diesem Modell und seiner Umsetzung in anderen Werken Zweigs vgl. zuletzt Landshuter 2009, S. 151170.

Neue Freie Presse, Beilage, 24. August 1913, S. 32.

Neue Freie Presse, Beilage, 31. August 1913, S. 31.

Vgl. Zweig, Tagebücher, S. 67.

 

 

Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig mußte sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen. Es war nicht das erste Mal, daß sie den gefahrvollen Besuch wagte, dieser jähe Schauer ihr keineswegs fremd, immer unterlag sie trotz aller innerlichen Gegenwehr bei jeder Heimkehr solchen grundlosen Anfällen unsinniger und lächerlicher Angst. Der Weg zum Rendezvous war unbedenklich leichter. Da ließ sie den Wagen an der Straßenecke halten, lief hastig und ohne aufzuschauen die wenigen Schritte bis zum Haustor und dann die Stufen eilend empor, und diese erste Angst, in der doch auch Ungeduld brannte, zerfloß heiß in einer grüßenden Umarmung. Aber dann, wenn sie heim wollte, stieg es fröstelnd auf, dies andere geheimnisvolle Grauen, nun wirr gemengt mit dem Schauer der Schuld und jenem törichten Wahn, jeder fremde Blick auf der Straße vermöchte ihr abzulesen, woher sie käme, und mit frechem Lächeln ihre Verwirrung erwidern. Noch die letzten Minuten in seiner Nähe waren schon vergiftet von der steigenden Unruhe dieses Vorgefühls; im Fortwollen zitterten ihre Hände vor nervöser Eile, zerstreut fing sie seine Worte auf und wehrte hastig den Nachzüglern seiner Leidenschaft, fort, nur fort wollte dann immer schon alles in ihr, aus seiner Wohnung, seinem Haus, aus dem Abenteuer in ihre ruhige bürgerliche Welt zurück. Dann kamen noch jene letzten, vergeblich beruhigenden Worte, die sie vor Aufregung kaum hörte und jene horchende Sekunde hinter der bergenden Tür, ob niemand die Treppe hinauf oder hinab ginge. Draußen aber stand schon die Angst, ungeduldig sie anzufassen, und hemmte ihr so herrisch den Herzschlag, daß sie immer schon atemlos die wenigen Stufen niederstieg.

Eine Minute stand sie so mit geschlossenen Augen und atmete die dämmerige Kühle des Treppenhauses gierig ein. Da fiel von einem oberen Stockwerk eine Tür ins Schloß, erschreckt raffte sie sich zusammen und hastete, indes ihre Hände unwillkürlich den dichten Schleier noch fester zusammenrafften, die Stufen hinab. Jetzt drohte noch jener letzte furchtbarste Moment, das Grauen aus fremdem Haustor auf die Straße zu treten; sie senkte den Kopf wie ein Springer beim Anlauf und eilte mit jähem Entschluß gegen das halb offene Tor.

Da stieß sie hart mit einer Frauensperson zusammen, die offenbar eben eintreten wollte. »Pardon«, sagte sie verlegen und mühte sich, rasch an ihr vorbeizukommen. Aber die Person sperrte ihr breit die Tür und starrte sie zornig und zugleich mit unverstelltem Hohn an. »Daß ich Sie nur einmal erwische«, schrie sie ganz unbekümmert mit einer derben Stimme. »Natürlich, eine anständige Frau, eine sogenannte! Das hat nicht genug an einem Mann und dem vielen Geld und an allem, das muß noch einem armen Mädel ihren Geliebten abspenstig machen …«

»Um Gottes willen … was haben Sie … Sie irren sich …«, stammelte Frau Irene und machte einen linkischen Versuch durchzuwischen, aber die Person pfropfte ihren massigen Körper breit in die Tür und keifte ihr grell entgegen: »Nein, ich irre mich nicht … ich kenne Sie … Sie kommen von Eduard, meinem Freund … Jetzt habe ich Sie endlich einmal erwischt, jetzt weiß ich, warum er so wenig Zeit für mich in der letzten Zeit hat … Wegen Ihnen also … Sie gemeine …!«

»Um Gottes willen«, unterbrach sie Frau Irene mit erlöschender Stimme, »schreien Sie doch nicht so«, und trat unwillkürlich in den Hausflur wieder zurück. Die Frau sah sie höhnisch an. Diese schlotternde Angst, diese sichtliche Hilflosigkeit schien ihr irgendwie wohlzutun, denn mit einem selbstbewußten und spöttisch zufriedenen Lächeln musterte sie jetzt ihr Opfer. Ihre Stimme wurde vor gemeinem Wohlbehagen ganz breit und beinahe behäbig.

»So sehen sie also aus, diese verheirateten Damen, die nobeln, vornehmen Damen, wenn sie einem die Männer stehlen gehen. Verschleiert, natürlich verschleiert, damit man nachher überall die anständige Frau spielen kann …«

»Was … was wollen Sie denn von mir? … Ich kenne Sie ja gar nicht … Ich muß fort …«

»Fort …, ja natürlich … zum Herrn Gemahl … in die warme Stube, die vornehme Dame spielen und sich auskleiden lassen von den Dienstboten … Aber was unsereiner treibt, ob das krepiert vor Hunger, das schert ja so eine vornehme Dame nicht … So einer stehlen sie auch das letzte, diese anständigen Frauen …«

Irene gab sich einen Ruck und griff, einer vagen Eingebung gehorchend, in ihr Portemonnaie und faßte, was ihr gerade an Banknoten in die Hand kam. »Da … da haben Sie …, aber lassen Sie mich jetzt … Ich komme nie mehr her … ich schwöre es Ihnen.«

Mit einem bösen Blick nahm die Person das Geld. »Luder«, murmelte sie dabei. Frau Irene zuckte unter dem Wort zusammen, aber sie sah, daß die andere ihr die Tür freigab und stürzte hinaus, dumpf und atemlos, wie ein Selbstmörder vom Turm. Sie spürte Gesichter als verzerrte Fratzen vorbeigleiten, wie sie vorwärts lief und rang sich mühsam mit schon verdunkeltem Blick durch bis zu einem Automobil, das an der Ecke stand. Wie eine Masse warf sie ihren Körper in die Kissen, dann wurde alles in ihr starr und regungslos, und als der Chauffeur endlich verwundert den sonderbaren Fahrgast fragte, wohin der Weg ginge, starrte sie ihn einen Augenblick ganz leer an, bis ihr benommenes Gehirn seine Worte schließlich erfaßte. »Zum Südbahnhof«, stieß sie dann hastig heraus und plötzlich vom Gedanken erfaßt, die Person könnte ihr folgen, »rasch, rasch, fahren Sie schnell!«

In der Fahrt erst spürte sie, wie sehr diese Begegnung sie ins Herz getroffen hatte. Sie tastete ihre Hände an, die erstarrt und kalt wie abgestorbene Dinge an ihrem Körper niederhingen und begann mit einem Male so zu zittern, daß es sie schüttelte. In der Kehle klomm etwas Bitteres empor, sie spürte Brechreiz und zugleich eine sinnlose, dumpfe Wut, die wie ein Krampf das Innere ihrer Brust herauswühlen wollte. Am liebsten hätte sie geschrien oder mit den Fäusten getobt, sich freizumachen von dem Grauen dieser Erinnerung, die fest wie ein Angelhaken in ihrem Gehirn saß, dieses wüste Gesicht mit seinem höhnischen Lachen, dieser Dunst von Gemeinheit, der aufstieg vom schlechten Atem der Proletarierin, dieser wüste Mund, der voll Haß ihr hart bis ins Gesicht die niedrigen Worte gespien, und die gehobene rote Faust, mit der sie ihr gedroht hatte. Immer stärker wurde das Übelkeitsgefühl, immer höher klomm es in die Kehle, dazu schleuderte der rasch rollende Wagen hin und her und eben wollte sie dem Chauffeur bedeuten, langsamer zu fahren, als ihr noch rechtzeitig einfiel, sie hätte vielleicht nicht mehr genug Geld bei sich, ihn zu bezahlen, da sie doch alle Banknoten an diese Erpresserin gegeben. Hastig gab sie das Signal zum Halten und stieg zu neuerlicher Verwunderung des Chauffeurs plötzlich aus. Glücklicherweise reichte der Rest ihres Geldes. Aber dann fand sie sich in einem fremden Bezirk verschlagen, in einem Geschiebe geschäftiger Menschen, die ihr physisch weh taten mit jedem Wort und jedem Blick. Dabei waren ihre Knie wie aufgeweicht von der Angst und trugen unwillig die Schritte vorwärts, aber sie mußte heim, und alle Energie zusammenraffend, stieß sie sich von Gasse zu Gasse fort mit einer übermenschlichen Anstrengung, als ob sie durch einen Morast watete oder knietiefen Schnee. Endlich kam sie zu ihrem Hause und stürzte mit einer nervösen Hast, die sie aber sofort wieder mäßigte, um nicht durch ihre Unruhe aufzufallen, die Treppe hinauf.

Jetzt erst, da ihr das Dienstmädchen den Mantel abnahm, sie nebenan ihren kleinen Knaben mit der jüngeren Schwester laut spielen hörte und der beruhigte Blick überall Eigenes faßte, Eigentum und Geborgenheit, gewann sie wieder einen äußeren Schein von der Gefaßtheit zurück, indes unterirdisch die Woge der Erregung noch schmerzhaft die gespannte Brust durchrollte. Sie nahm den Schleier ab, glättete mit dem starken Willen, arglos zu scheinen, ihr Gesicht und trat in das Speisezimmer, wo ihr Mann bei dem abendlich gedeckten Tisch die Zeitung las.

»Spät, spät, liebe Irene«, grüßte er mit sanftem Vorwurf, stand auf und küßte sie auf die Wange, was ihr unwillkürlich ein peinliches Gefühl der Scham erweckte. Sie setzten sich zu Tische und gleichgültig, kaum von der Zeitung weg, fragte er: »Wo warst du so lange?«

»Ich war … bei … bei Amélie …, sie mußte da noch etwas besorgen … und ich ging mit«, ergänzte sie und schon zornig über die eigene Unbedachtsamkeit, so schlecht gelogen zu haben. Sonst rüstete sie immer im voraus eine sorgfältig ausgeklügelte, allen Möglichkeiten der Überprüfung trotzende Lüge, heute aber hatte die Angst sie daran vergessen lassen und zu einer so ungeschickten Improvisation gezwungen. Wenn, fuhr es ihr durch den Sinn, ihr Mann, wie jüngst in dem Stück, das sie im Theater sahen, hintelephonierte und sich erkundigte …

»Was hast du denn? … Du scheinst mir so nervös … und warum nimmst du denn den Hut nicht ab«, fragte ihr Mann. Sie schrak zusammen, als sie sich neuerdings in ihrer Verlegenheit ertappt fühlte, stand eilig auf, ging in ihr Zimmer, den Hut abzunehmen, und sah dabei im Spiegel ihr unruhiges Auge so lange an, bis der Blick ihr wieder sicher und fest schien. Dann kehrte sie in das Speisezimmer zurück.

Das Mädchen kam mit der Abendmahlzeit, und es wurde ein Abend wie alle anderen, vielleicht etwas mehr wortkarg und weniger gesellig als sonst, ein Abend mit einem armen, müden, oft hinstolpernden Gespräch. Ihre Gedanken wanderten den Weg unablässig zurück und schraken immer entsetzt empor, wenn sie zu jener Minute kamen, in die grauenhafte Nähe der Erpresserin: dann hob sie immer den Blick, um sich geborgen zu fühlen, griff Ding um Ding der beseelten Nähe, jedes durch Erinnerung und Bedeutung in die Zimmer gestellt, zärtlich an, und eine leichte Beruhigung kehrte in sie zurück. Und die Wanduhr, gemächlich mit ihrem stählernen Schritt das Schweigen durchschreitend, gab ihrem Herzen unmerklich wieder etwas von seinem gleichmäßigen, sorglossicheren Takt.

*