Inhaltsverzeichnis
In Bedrängnis
Das Vaterunser
Go West
Weg aus dem Nichts
Hungrig nach mehr Leben
Baron von Wartburg
Car-Napping
Unternehmen PHANTOM
Der Porsche-Coup
Rocco di Palermo
Immer lächeln
Jessica
Judas
Dokumentenecht
Sonderkommission
Hahnenkamm
Schach dem König
Bad News
Interpol
Rien ne va plus
Die Falle
Schicksalstag
Das Spiel ist aus
Sonnenfinsternis
Munich Royal
Schach dem Grafen
Flucht nach Rio
Au Weyer con dios
Die Fakultät
Die Überfälle
Der Gnom
Die Copacabana
Ein Ort jenseits von Eden
Der Sprengmeister
Die Todesschwadron
Samba, Samba
Docs rätselhaftes Verschwinden
Die Polizei, dein Freund und Räuber
Wende und Rückkehr in den Osten
Die Kugel rollt
Hansen & Partner
Das süße Leben auf der Zuckerinsel
Das Tor zur Bundesliga
Die Vertreibung aus dem Paradies
As The Music Stopped
Dem Tod geweiht, der Lust verfallen
Steuerfahndung
Flucht nach Rio II
Rio te amo
Harry III
Vila Mimosa
Casablanca
Flucht über die Dächer von Rio
Last Exit - Paradiso tropical

Die skandalöse Harry König Biografie


Ein Leben reicht nicht









Impressum:

HarryKönigMedia, 04315 Leipzig, Deutschland

© Copyright 2013: Harry König

Produktion: IGK-Verlag, 7100 Neusiedl, Österreich

Quellen-Hinweis: Fotos von PEOPLE PICTURES, Willi Schneider, QUICK (Kuck),

PEOPLE IMAGE, Michael Tinnefeld, Thomas Veszelits, Jürgen Dommnich,

Harry König, privat

Druck: SOWA

1. Auflage August 2013

ISBN PRINT: 978-3-00-042896-8


Dieses Buch widme ich meinem Sohn Harry II

und meinen lieben Freunden - ohne die dieses

schöne Leben nie so aufregend wäre.

Und eine herzliche Umarmung

all den vielen schönen Frauen

für die traumhaften Momente des Lebens,

die mich glücklich gemacht haben.


„Welch triste Epoche,

in der es leichter ist,

ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!“

Albert Einstein



Vorbemerkung

Von Harry König


Einige haben diese Beschreibung vor der Drucklegung schon gelesen, und ihre Meinung hat mich geschockt.

Überwiegender Tenor: Das kann so nicht gewesen sein, das ist nicht möglich.

Irgendwie kann ich sie verstehen. Ja, eigentlich reicht ein Leben wirklich nicht, um solche Abenteuer einzugehen, diese Risiken auf sich zu ziehen und gegen alle Chancen zu überleben. Und am Ende noch eine Bilanz zu ziehen, die jedem Menschen mit normalen Moralvorstellungen wahrscheinlich zu schaffen macht.

Zweiflern sage ich: Bei genauer Lektüre wird die intelligente Leserin, der intelligente Leser genügend Details orten, die hilfreich sein könnten, die Authentizität zu bestätigen. Ich habe mein bisheriges Leben ja nicht in Zurückgezogenheit verbracht, sondern gewissermaßen im Glashaus, und ich habe bei meinem Weiterstreben eine Reihe von Zeitzeugen zurückgelassen, die positiv oder negativ über mich berichten können.

Dabei würde sich herausstellen, dass ich statt zu übertreiben sogar weggelassen habe. Über meinen unglaublichen Sommer 1996 in Athen verliere ich in dieser Biografie kein Wort, denn dieses Abenteuer beschreibt ein eigener Thriller über Beutekunst, Gier, Moral und Liebe, ART NAPPING (ISBN 978-3-9503215-0-0 als gedrucktes Buch, ISBN 978-3-9557712-6-3 als eBook). Und meine engsten Freunde werden auch jede Erwähnung vermissen, was ich mit der jugoslawischen Mafia erlebt oder zum Glück nur beinahe erlebt habe.

Sie haben sich für dieses Buch entschieden, und ich wünsche mir, dass Sie dafür reich belohnt werden. Mein Beispiel zeigt: Das Leben ist, zum Teil wenigstens, das, was wir uns zutrauen, und das, was wir wollen.


Rio de Janeiro,

Vila Mimosa, Casablanca Club an der Amüsiermeile,

zwischen Zentrum und dem Maracana-Stadion,

am 17. Juli 2005, morgens um 3 Uhr 15.





Ein Feigling stirbt tausend Tode -

ich nur einen.

H. K.


Von Harry König

In Bedrängnis


Levantar-se!“ „Aufstehen!“ Ein Stich in die Herzgegend weckt dich. Du schreckst hoch, reißt die Augen weit auf. Was ist passiert?

Ein harter, kalter Gegenstand an deinem Kopf drückt dich wieder zurück auf das Laken.

Scheiße, scheiße, scheiße.

Als du wahrnimmst, dass die Wunde nicht sehr tief sein kann, wagst du, wieder zu atmen, du versuchst, Ordnung in deine Gedanken zu bringen.

Nicht so, ganz bestimmt nicht so! So soll es nicht enden!

Du drehst den Kopf, willst losbrüllen, schaust in ein maskulines, entschlossenes Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und dünnen Lippen. Beim Blick nach oben begegnest du einem Augenpaar, das so ausdruckslos ist, dass du weißt, es wird keine Verhandlungen geben. Auch keine Gefangenen.

Scheiße, scheiße, scheiße!

An deiner Stirn ein Revolver, eine silberne 44er Magnum! Blut tropft aus deiner Brust. Ein Eispickel droht nur wenige Zentimeter vor deinem Herzen - es ist ein Grund zu kooperieren.

Lieber Gott, lass es bitte einen bösen Alptraum sein…

Die Realität ist kompromisslose einen Meter achtzig groß und um die achtunddreißig Jahre alt. Diesem Brutalo mit den kalten Augen hängt sein sarkastisches Lächeln wie eingefroren in den Mundwinkeln. Ein athletischer Typ mit schwarzer Lederweste und Basecap aus Leder. Sein Verhalten ist soldatisch, mit unverkennbarer Gewaltbereitschaft.

Mit der Waffe in der Rechten befiehlt er dir nun wortlos aufzustehen. Durch Restalkohol im Blut etwas benommen, erhebst du dich und erhältst gleich blitzartig zur weiteren Einschüchterung den Kolben der Smith & Wesson 11 mm gegen die linke Schläfe. Du siehst Sterne, nein, einen Meteoriteneinschlag, und… fühlst dich benommen wie ein Boxer beim Anzählen.

Dir ist schwindlig. Du hörst das Rauschen deines Blutes in den Ohren, musst dich kurz an der Wand stützen und bist geneigt, ihm deinen Mageninhalt zu zeigen.

„Ich habe aufstehen gemeint.“ Die Stimme ist grob, arrogant und einschüchternd, während er gelassen sein Tötungswerkzeug in ein schmales Lederetui am Gürtel zurücksteckt.

„Was? Was haben Sie gesagt!?“

Plötzlich ist er in deinem Gesicht, Nase an Nase. Das Schwarz seiner Augen verengt sich, fixiert dich.

Dein Herzschlag setzt gefühlt aus und beginnt dann zu rasen. Auf deiner Stirn bildet sich Schweiß. Dein Kreislauf rotiert bedenklich, aber jetzt gilt es, einen gelassenen Eindruck zu vermitteln. Nach dem Motto: Wer kann, befiehlt, und wer vernünftig ist, gehorcht.

Dineiro! Geld!“ spürst du seinen Atem im Gesicht, und er reibt vor deinen Augen den Daumen an dem gekrümmten Zeigefinger.

Du atmest tief durch und versuchst, deine Reaktionen in den Griff zu bekommen.

Du findest diese Aktion total überzogen, denn du bist schon reichlich beeindruckt. Da setzt er noch einen drauf und verhöhnt dich:

„Oh, hat er Aua bekommen?“

Du könntest ihn umbringen - aber womit? Du stehst barfüßig, nur mit Shorts bekleidet, hilflos im Raum. In deinem Kopf pulsiert der Schmerz, dein ganzer Körper ist verspannt. Du fühlst dich vollkommen wehrlos.

Du bemühst dich um dein inneres Gleichgewicht.

Wie früher in ähnlichen Situationen beginne ich, das Unerwartete einfach als gegeben hinzunehmen. Schließlich weiß ich, dass ich nichts ändern kann.

Durch den hohen Adrenalinschub sind die Schmerzen noch erträglich, und so konzentriere ich mich nun auf den unfreundlichen Besucher. Jetzt nur nichts verkehrt machen.

Ich sehe ihn an. Die Augen sind tief dunkelbraun. Die Stimme des Gewaltmenschen hat den bedrohlichen Unterton eines gnadenlosen Killers, der schon viele Seelen mit Vergnügen ins Jenseits befördert hat.

Es dürfte jetzt Mitternacht sein.

Der Nachmittag begann angenehm. Jorge und Ferdinand, Unternehmer aus Deutschland, besuchen mich in meinem neuen Club „Casablanca“ mitten in Rios Rotlichtviertel. Ich mag die zwei, wir waren verabredet, Skat zu spielen. Meine Gäste: Bankiers, internationale Geschäftsleute und das halbe deutsche Konsulat. Copa-Jorge überbrachte mir ersehntes Geld aus Deutschland, und wir feiern ein wenig ab. Berliner Schmäh, gepaart mit Alkohol. Einige achtzehn bis zwanzig Jahre alte Schönheiten, die sich an unseren Tisch setzen, bleiben unbeachtet. Wir reizen lieber mit achtzehn, zwanzig oder Grand. Sie verstehen nada und ziehen kopfschüttelnd wieder weiter. Irgendwann, es wurde schon dunkel, trennen wir uns, und ich lege mich alkoholisiert in meiner Privatsuite hier im Club aufs Ohr.

Jetzt aber bin ich völlig ernüchtert. Ich werde in meinen Salon geführt. Die Kopfschmerzen bringen sich stärker in Erinnerung. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber die Schmerzen tun’s ja auch.

Von unten kommt Priscilla, eine Krankenschwester, geführt von zwei weiteren Pistoleros, die Treppe hoch in mein Wohnzimmer. Jetzt sind es schon drei!

Was dann folgt, geht so rasend schnell, dass ich es kaum richtig sehe. Plötzlich geht mein Wecker, der erste Typ, bestimmt ihr Anführer, katzenartig und Furcht einflößend auf sie zu. Er holt kurz aus und schlägt mit der freien Hand voll in ihr schönes Gesicht, so dass sie abhebt und an der Wand benommen zu Boden sinkt.

Ich sehe, wie der Schmerz in ihr explodiert. Keine Heldentat, denn der Schlag kommt unerwartet gegen eine wehrlose, zierliche junge Frau. Einer der Bodyguards hält ihr ein großes Kampfmesser an den Hals und gibt ihr mit einem Finger quer über die Lippen zu verstehen: kein Muckser. Die arme Kleine schluckt schwer und ist nahe dran, sich zu übergeben. Sie tut mir leid. Symptome der Angst zeigen sich: Sie erblasst, die Farbe entweicht aus der Haut. Sie würgt, sie spuckt Blut, sie rüttelt an ihren Zähnen, sie hält sich den linken Unterkiefer mit schmerzverzerrtem Gesicht. Hoffentlich wurde ihr kein Knochen gebrochen.

Ich fühle mich mitverantwortlich, denn ich habe sie für mein Camp Projekt angeworben und sie bis zum Start als Bedienung umfunktioniert. Erst jetzt erkenne ich das Ausmaß ihrer Blessuren, ihre Lippen sind aufgeplatzt, die Nase blutet und verbreitert sich. Das restliche Blut entweicht ihrem Gesicht. Au! Ich fühle mit.

Die Dumpfbacke spielt nun lüsternd mit dem Messer bedrohlich vor ihrem hübschen Gesicht, dann legt er die Klinge wieder flach an ihren Hals. Priscilla bemüht sich, ihre Unterwäsche nicht zu beschmutzen. Tapfer, sie ist sehr tapfer!

Als nächster wird Marcus durch die Tür gestoßen, ein Informatiker, mein Techniker und DJ. Deutscher wie ich, Computer-Programmierer, achtundzwanzig Jahre alt und verliebt in Priscilla. Ihn trifft der Schlag auch unverhofft, und unfreiwillig gesellt er sich zu seiner namorada (Geliebten) am Boden. Liebe und Schicksal verbindet.

An seinem Hals ein Messer mit langer, spitzer, geschwungener Klinge und kantigem Griff – damit werden normalerweise Seehunde zerlegt. Wo sie dieses Mordwerkzeug her haben? Die rasierscharfe Schneide ritzt an seiner linken Halsseite leicht die Haut auf.

„Es gäbe auf der Welt nichts Besseres, um rohes Fleisch zu schneiden“, meint lustvoll der Farbige, der preto, wie man hier sagt, und hält sein Finnenmesser, das alles zerschneidet wie Butter, dem wehrlosen Marcus gefährlich gegen die Hauptschlagader. Sein Körper ist wie gelähmt.

Er schaut mich hilfeflehend und verzweifelt an. So ähnlich müssen die jungen Seehunde in ihrer größten Not einmal geschaut haben.

Der Raum füllt sich. Acht Bewaffnete beleben nun ungebeten meine Wohnung und stellen alles auf den Kopf. Möbel rücken, filzen ist angesagt. Zweimal wird mein Schlafzimmer professionell durchsucht. Jedes Stoffteil wird abgetastet nach verräterischen Schwellungen, während Ohren auf papierenes Rascheln zwischen drückenden Fingern lauschen. Mit einer Nagelfeile sticht der Suchende in Cremetöpfe meiner Ex und drückt verschiedene Tuben aus, gleichzeitig auf verräterische Hinweise meiner Augenrichtung hoffend.

Wasser, Wasser! Ich frohlocke schon insgeheim. Zu früh. Der dritte Typ schlägt wie ein Suchhund plötzlich an. Freudig erregt hält er mit zwei Fingern einen getragenen weißen Kinderschuh am Schnürsenkel hoch. Er apportiert den ledernen Sportschuh eines sechsjährigen Jungen zu seinem Herrchen. Wortlos fingert der Capo dieser kriminellen Vereinigung einen weißen Kindersocken aus dem Schuh. Nickend entnimmt er dem Socken, wie bei Nikolaus, das gebündelte Bargeld in großen Scheinen.

Aus Zorn drängt Wasser in meine Augen. Das ist kein normaler Geldverlust, sondern die erste Rate für das auserwählte Areal in Capo Frio, das Hoffnungs-Camp, wo Kinder aufwachsen und für das Leben lernen sollen, um später nicht zu solchen Banditen zu werden wie diese Typen hier. Aufbewahrt im Schrank, am Boden zwischen meinem Schuhwerk, auserkoren als Versteck in meinem Glücksbringer, dem Andenken an die Kindheit meines Sohnes Harry II.

Mein geplanter Eintritt in eine bessere Welt. Endstation Sehnsucht in meinem Reifeprozess.

Nun will er Marcus an die Wäsche. Seine Wertsachen. Doch alles, was er an Wert besitzt, Priscilla, ist schon in ihrer Gewalt. Sein restliches Kapital befindet sich als Wissen und Fähigkeit in seinem Kopf.

„Ich habe kein Geld, ich bin augenblicklich mittellos“, druckst er heraus und sitzt verängstigt wie ein geprügeltes Kind am Boden. Priscilla kauert in Wirbelsäule-verkrümmender Embryohaltung am Boden, betrachtet ihre Schuhe, nickt und bemüht sich jetzt vergeblich, den Harndrang aufzuhalten.

Es beruhigt mich, dass ich auch unter Druck Contenance bewahre.

„Was machst du denn in Rio ohne Geld?“ fragt die Lederkappe Marcus bedrohlich, und die bösartigen Augen funkeln hinterlistig. „Hier kannst du als gringo kein Geld verdienen. Und wenn, dann nehmen es dir die Weiber und die ladrones (Straßenräuber) wieder weg. Und, solltest du trotzdem noch Geld haben, dann besuchen wir dich“, schließt er mit einem verschlagenen Grinsen und schlägt das Kreuzzeichen vor seiner Brust. Er ist wohl darauf trainiert, den Tod willkommen zu heißen – bei den anderen. Er tötet sicher so häufig, dass es ihn mächtig erscheinen lässt. Nichts, absolut nichts bringt ihn in Verlegenheit, auch nicht das fünfte Gebot.

Ein Pistolero, in Jeans und weißem T-Shirt, der gerade meinen alten zwölfjährigen Chivas Regal-Whisky in eine Plastiktüte einsackt, grinst über die Aussage seines Chefs und nickt zustimmend. Überall wird nun wie im Schlussverkauf kostenlos zugegriffen. Ich stehe machtlos daneben und verabschiedete mich stumm von allen meinen Wertsachen. Ich werde sie nie wieder sehen…


Das Vaterunser


Zeca, so wird der Anführer von den Pistoleros genannt, insistiert weiter gegen Marcus: „Sag uns alles, und morgen früh wird die Sonne wieder scheinen.“

Ich gestatte mir ein sichtbar erzwungenes Lächeln und will diesen Zeca von Marcus ablenken:

„Mein Haus ist das Ihre“, sage ich bewusst in Deutsch mit einladender Geste.

„Ich verstehe kein Deutsch. Sprich Portugiesisch!“ erwidert er gereizt.

„Eigentlich ist das ein altes spanisches Sprichwort. Mi casa, su casa. Mein Haus ist Ihr Haus. Es ist mir wichtig, dass Sie sich wohl fühlen.“

Im Raum erklingt schallendes Gelächter, wobei Zeca nur schmunzelt. Sein Blick schweift herum, und seine Männer fuchteln mit ihren Waffen. Beängstigend!

Er tritt an mein Schachbrett. Die schlanken Figuren, in der Grundstellung aufgebaut, haben es ihm angetan. Er fühlt sich davon angezogen, berührt den König, hebt ihn an und setzt ihn ungeschickt auf ein Feld.

„Das ist ein unqualifizierter Zug“, kann ich mir nicht verkneifen.

Er nimmt kurz sein Basecap ab, kratzt sich die Kopfhaut, und so kann ich Zeca näher betrachten. Sein Haar ist schwarz, auf dem Schädel gelichtet und darum auch die Kappe. Es sind die Augen, sage ich mir. Wenn er spricht, verengen sich die Augen, und die schwarzen Pupillen funkeln gebündelt bösartig. Unheimliche Augen, denke ich mir und schaue woanders hin.

„Du magst noch so gut Schach spielen, aber jetzt nutzt es dir gar nichts.“

„Das stimmt“, bestätige ich und denke: Wo er Recht hat, hat er Recht.

Er sagt das ins Blaue hinein und findet den Satz sicher nicht übel. Zeca lächelt, ein Lächeln ohne jeden Humor, und wendet sich wieder Marcus zu. Er blickt ihn durchdringend an, und sein Kopf scheint auf eine verrückte Idee zu kommen.

Meinen Landsmann nennen sie hier, wegen der Aussprache, Marco. Jetzt sitzt er in der Hocke und beugt sich nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Sein in Schweiß gebadetes Gesicht hat die Farbe von Buchbinderkleister. In seinem Ausdruck mischen sich Sorge und Verzweiflung, während er mich ansieht.

„Wenn du uns anlügst, war das deine letzte Lüge!“ sagt der Saukerl gefährlich und zeigt zur Bekräftigung mit der 44er im gestreckten Arm auf seinen Kopf.

Der Macho bleibt einen Augenblick lang regungslos stehen, kneift die Augen zusammen und macht mit einem Ausdruck lustvoller Gemeinheit im Gesicht drohend einen Schritt in Richtung zu dem gringo.

Ich flehe den Himmel um Hilfe an.

Hemingway schrieb einmal, dass, wer an Orten wie diesen hier leben will, im Stande sein muss zu töten. Ich bin überzeugt, er meinte das ganz wörtlich: Dass man dazu wirklich im Stande sein muss, damit man überlebt. Nur so zu tun, reicht nicht.

Der Baseballschläger steht griffbereit an der Tür. Meine germanischen Krieger-Gene melden sich. Angstgefühle kenne ich nicht. Ich weiß, ein gestörtes Fehlempfinden. Über meine Einfältigkeit bin ich beunruhigt. Dieser Trade war eindeutig ein Verlustbringer. Lächerlich, denke ich, und sehe das lange Küchenmesser über dem Türrahmen. Schwarzauge sieht es ebenfalls und fordert beinahe mich mit einer Bewegung seiner Augen auf, die dort zur Gefahrenabwehr deponierten Gegenstände in Besitz zu nehmen. Ich hüte mich und hoffe jetzt nur noch – Abrakadabra! - auf einen glimpflichen Ausgang. König, du Depp, warum bist du eigentlich nicht in Cartaguases und spielst mit deinem kleinen Sohn? Alter Depp! Idiot!

„Wir lassen nicht mit uns spassen und zögern nicht, dich hundert Meter weiter gefesselt auf die alten Bahngleise zu legen“, sagt er nun zu Marco. Zeca spielte diese Verhör-Komödie noch einige Sekunden weiter: „Antworte, gringo! Sag, wo du das Geld hast, dann kannst du vielleicht dein Leben retten.“

Noch ehe Marco eine weitere Erklärung abgeben kann, zielt der Mistkerl auf seine Stirn. Schlagartig befällt Marco Todesangst. Seine Hände zittern. Was kann er tun? Nada. Schreien? Unmöglich. Sein Mund ist so ausgedörrt wie das Tal des Todes um zwölf Uhr mittags, seine Pupillen weiten sich.

„Du schmorst schon im Höllenfeuer, bist schon verbranntes Fleisch. Mach Deinen Frieden mit IHM“, er zeigt mit dem linken Finger nach oben. „Ich gebe dir fünf Sekunden. Sag dein Gebet auf.“

„Ich kenne kein Gebet!“ stammelt er verzweifelt.

„Das Vaterunser wirst du ja können.“

„Ich kann das Vaterunser nicht.“

„Bete!“

Marc ist total verwirrt und blockiert.

„Dann bete ich für dich. Müde bin ich, geh zur Ruh’, schließe beide Äuglein zu.“

Da! Höchste Gefahr. Nur wenige können es wahrnehmen: das Versteifen der Schultern, das Zusammenkneifen der Augen, die finale Entschlossenheit.

„Mein Gott, nein, Sie Schwachkopf!“ schreie ich auf und hebe beschwichtigend beide Arme mit offenen, abwehrenden Handflächen.

Das fünfte Gebot wird nicht beachtet.

Eiskalt drückt er ab. Die Detonation kommt unverhofft und erinnert mich sofort wieder an die Schüsse bei meiner Flucht in Berlin…


Kein Preis ist zu hoch für das

Privileg, sich selbst zu gehören.


Friedrich Nietzsche



HARRY KÖNIG:

MEINE GESCHICHTE


Go West


Berlin-Mitte, 15. August 1961, 21 Uhr 27


„Halt! Stehen bleiben! Volkspolizei! Bleiben Sie stehen...“ Feuer speiend ballert eine Maschinenpistole in unsere Richtung. Vervielfacht hallen die Detonationen im Tunnel.

Hastig und verschreckt stolpern wir entlang der Schienen über die Schwellen. Querschläger heulen in der Dunkelheit wie Sirenen. Wildes Hundegebell im

Rücken lässt uns um unser Leben rennen. Panisches Entsetzen. Der Schäferhund kommt näher. Haben wir eine Chance?

„Hier! Schnell, Harry!“

Als erster hat Klaus die Nische des Notausstiegs erreicht. Artistisch hebelt er sich nach oben. Die Eisenbahnerlampe behindert mich. Auf halber Höhe greife ich einmal daneben, rutsche eine Sprosse durch. Im Sprung schnappt die wölfische Töle nach meinem linken Fuß und reißt einen Fetzen aus dem Hosenbein. Wütend werfe ich die Lampe nach ihr. Muss ein Volltreffer gewesen sein. Kein Jaulen, kein Winseln. Sofort erstirbt das Bellen.

Bloß raus hier!

Inzwischen hat Klaus das Eisengitter des Luftschachts zwanzig Zentimeter hochgestemmt. Mit eingezogenem Kopf späht er vorsichtig auf die Straße.

Ich rücke ungeduldig nach. Doch sofort drückt er mich sacht wieder nach unten, lässt gleichzeitig das Ausstiegsgitter in die Aufhängung zurück gleiten und setzt seinen rechten Fuß auf meine rechte Hand.

„Scheiße!“ zischt er. „Draußen sind Vopos!“

Er hat einen Funkwagen gesehen. Einer sitzt drinnen und telefoniert. Das gibt’s doch gar nicht! Wir sitzen in der Falle.

Scheiße! denke auch ich, fühle meine gequetschten vier Finger und Tränen benetzen meine Augen, aber kein Laut kommt über meine Lippen. Hätte ich meine Hand weggezogen, wäre er abgestürzt und hätte mich mitgerissen.

Unter uns stolpern die Stiefel der Verfolger auf dem Schotter zwischen den Schwellen vorbei. Sächsische Laute rufen nach dem Hund. Aus der Gegenrichtung rast ein Zug heran. Er wirft flackerndes Licht in den Ausstiegsschacht. Da sehe ich Hasso, den Vierbeiner, betäubt am Boden liegen. Neben ihm die Untertag-Leuchte mit zersplittertem Glas.

Sie werden zurückkommen und ihren Hund entdecken. Dann ist es vorbei. So lange hängen wir noch wie Klammeraffen auf der Steigleiter des feuchten Ausstiegsschachts. Wieso steht draußen ein Streifenwagen? Sollte das am Ende nur ein Zufall sein? Wenn sie uns greifen, gibt es von der Stasi ordentlich eines auf die Ohren und zwischen die Augen. Ein paar Jahre Zuchthaus sind bei einer missglückten Republik-Flucht garantiert.

Wir sind beide klatschnass. Der Achselschweiß von Klaus stinkt penetrant. Merkwürdig, dass der eigene Körpergeruch selten als unangenehm empfunden wird. Plötzlich hören wir Motorengeräusche. Die Bullen hauen ab! Sofort drückt Klaus das Gitter hoch und schaut auf die mäßig erleuchtete Wilhelm-Pieck-Strasse. Die Rücklichter des Polizeiwagens leuchten in der Ferne.

Nichts wie weg! Schon hören wir neues Gebrüll aus dem Tunnel. Eilig katapultieren wir uns ins Freie, überqueren die Wilhelm-Pieck- Strasse und laufen in die Tucholsky rein. Nach fünfzig Metern biegen wir links ab in die Linienstraße. Hier kennen wir uns aus, hier ist unser Kiez. Nach einigen Schritten runter von der Straße ins nächste Haus. Weiter geht es über zwei, drei Hinterhöfe. An Teppichstangen und Mülltonnen vorbei. Nur weg, und nicht gefasst werden! Als wir uns in Sicherheit glauben, rebellieren unsere Körper. Übelkeit überkommt uns. Unser Magen begreift als erster, wie knapp wir davongekommen sind. Wir kotzen unsere Überanstrengung hinaus. Und immer schön das Kinn nach unten halten, wenn du kotzt. Wir sind zu erschöpft, um uns voreinander zu schämen. Große Helden gibt es nur im Kino.

Klaus wischt sich den Rest sehr gewissenhaft an seiner der Hose ab.

„Was macht deine Hand, Harry?“

„Geht schon, mit der musste ich ja Gott sei Dank nicht loofen.“

„Ha, ha, ha, morgen hast du vier dicke bunte Finger als Souvenir. Und, wat musste och deine Finger unter meinen Stiefel stecken!?“

„Sehr witzig! Du musstest ja nicht so lange drauf stehen.“

Als sein Grinsen nicht aufhört schiebe ich nach: „Du hättest dich wenigstens entschuldigen können.“

„Bitte? Küss’ die Hand gnädige Frau. In so eener Lage verschwendet man keene Höflichkeitsfloskeln – oder?“

Etwa zwei Stunden harren wir sicherheitshalber in der finstersten Ecke des Hinterhofes aus. Eine Ewigkeit.

„Klaus, wenn uns die Mädels hier so sehen, spricht sich das ganz schnell rum, dass wir keen Zuhause haben.“

„Hast Recht, lass uns abhauen.“

Als die ersten Werktätigen der Frühschicht die Straße beleben, traben wir nach Hause. Ausgelutscht. Enttäuscht.

Der Arbeiter- und Bauernstaat lässt uns nicht fort. Offiziell war ich ja gar nicht hier, sondern bei Verwandten in Westberlin. Deshalb kann ich jetzt nicht nach Hause. Der Parteiapparat straft Angehörige unbarmherzig wegen Mitwisserschaft. So gehe ich mit zu Klaus.

Seine Eltern sind in Urlaub. In ihrer Wohnung haben wir unsere Flucht vorbereitet: Situationen durchgespielt und Eisenbahneruniformen besorgt. Als Schienen-Inspektoren mit rußgeschwärzten Gesichtern würden wir am von uns ausbaldowerten Grenzbahnhof Nordbahnhof nicht auffallen. Dort gab es keine Ausreisekontrollen, denn die Züge rasten ohne Halt hier durch. Ein paar Meter Richtung Westen, und wir wären drüben gewesen. Wenn der verdammte Köter nicht gewesen wäre!

Zweiundvierzig Stunden später. 17. August 1961 15 Uhr 20

Wir drehen weiter unser russisches Roulette. Wir sind wieder auf dem Weg ins Sperrgebiet. Diesmal auf Rädern. Als Schornsteinfeger. Rußgesichtig, mit authentischer Kluft, und über der linken Schulter das zusammengerollte Seil mit Kugel und Besen. Wir sind definitiv entschlossen. Heute soll es passieren!

Wir radeln mit erhöhter Aufmerksamkeit die Ackerstraße hoch bis zum Sophienfriedhof. Der Friedhof grenzt an die Bernauerstraße und ist in unseren Augen eine Fluchtmöglichkeit. Wir steigen von den Rädern und schieben sie durch das Tor. Auch junge Schornsteinfeger können Angehörigen die Ehre erweisen. Zwischen den Gräbern nähern wir uns der Friedhofsmauer.

Sie gilt es zu überwinden, und wir wären im Französischen Sektor von Berlin. Über diese rotbraune Ziegelsteinmauer müssen wir, und die Freiheit lacht. Diese Aktion wird für einiges Aufsehen sorgen: Wir werden die Totenruhe stören müssen.

Als wir uns nähern, sehen wir Vopos, die Friedhofsbesucher kontrollieren.

„Ohne Grabschein kommt niemand hier durch“, hören wir die Grenzpolizisten. Und dann trauen wir unseren Augen nicht.

Ein Trupp in Uniformen beginnt, die sterblichen Überreste in den Gräbern nahe unserer Mauer auszubuddeln! Wir schauen uns ungläubig an und bekommen, sinnbildlich den Tod vor Augen, ein mulmiges Gefühl.

„Klaus, das ist aber ein sehr morbides Omen für unser Unternehmen – findest du nicht auch?“

„Los, lass uns hier verschwinden. Die Sache is jestorben, toter jeds nicht.“

„Ja Klausi, der Zuch is abjefahren, wir müssen die Zukunft neu überdenken.“

Unser Elan bekommt einen Dämpfer. Betroffen ziehen wir uns zurück.

Wir fahren die Invalidenstraße entlang und biegen in die Brunnenstraße ein, nähern uns dem nächsten Sperrgebiet.

„Halt!“

Zwei Vopos versperren uns den Weg. Mir blähen sich die Nüstern.

„Ich hab’s ja gleich gesagt: Das klappt nicht, wir hätten abbrechen sollen!“, winselt Klaus.

„Schnauze, Klaus!“, zische ich, ohne die Lippen zu bewegen. „Immer schön geschmeidig bleiben.“

Wir bremsen, nehmen ein Bein vom Drahtesel und erwarten unsere Verhaftung. Wer ohne Aufenthaltsberechtigung im Sperrgebiet angetroffen wird, ist ausnahmslos dran. Die Uniformierten kommen dicht an uns heran, strecken einen Arm nach uns aus, führen ihre rechte Hand grüßend an den Mützenschirm und berühren uns symbolisch am Oberarm.

„Wenn das kein Glück bringt!“ meint einer von ihnen „Zwei Schornsteinfeger“ - mit diesen Worten lassen sie uns ziehen. Erst als wir aus Sichtweite sind, können wir Glücksbringer unser eigenes Glück glauben...

Jetzt gibt es kein Zurück mehr, wir bekommen neuen Mut. Hier, im Hundert-Meter-Sperrgürtel entscheiden wir uns für ein Haus direkt am Bahndamm, der die Grenze bildet. Wir stellen die Räder im Hauseingang ab. Schon fühlen wir uns besser. Mühelos gelangen wir über die Treppe durch die Luke bis aufs Dach hinaus. Während wir eine Kaminreinigung vortäuschen, sondieren wir ungestört die Gegend. An dem langen Seil mit der Eisenkugel lasse ich langsam den Drahtbesen hinunter. Klaus steht mir direkt gegenüber und beobachtet hinter meinem Rücken die Umgebung. Eine ganze Stunde überlegen wir die nächsten Schritte. Wir entschließen uns, auf die Dunkelheit zu warten. Die Nacht ist der Freund der Schwarzen.

Zwei Schornsteinfeger am Kamin oben auf dem Dach – ein gewohnter Anblick. Die Beine bequem ausgestreckt, mit einem Fernglas bewaffnet. Gesprochen wird kaum. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich durchlebe speziell die letzten Tage und die Nacht des Mauerbaues.


13. August 1961. Samstagnacht


Klaus und ich waren mit unseren Lieblingsfrauen Samstag in Westberlin unterwegs. Saturday Night Action war angesagt. Wir kehrten gegen Mitternacht zurück in den Ostteil der Stadt und machten es uns bei Klaus gemütlich. Im Radio leise Musik vom RIAS, gepaart mit lustvollen Gestöhne. Etwa 3 Uhr 25. Mitten im Rhythmus eine Unterbrechung:

„Starke Verbände der kommunistischen Volkspolizei haben in der Nacht zum Sonntag die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin abgeriegelt.“

Mein Glied erschlaffte auf der Stelle. Ich ahnte nichts Gutes, sprang auf und ging, von den ungläubigen Blicken meiner Verlobten Regina verfolgt, zur Tür.

Klaus schlief.

„Aufstehen, Alter!“ rief ich. „Die Grenze ist zu.“

„Um diese Uhrzeit?“ murmelte Klaus.

Im nächsten Moment sprang er in seine Klamotten. Jetzt waren alle hellwach. Die Mädchen machten sich blitzschnell zurecht, kochten Kaffee. Gemeinsam überlegten wir.

„Was bedeutet das für uns?“ fragte Regina.

„Ich muss abhauen! Ich habe meinen Grenzgängerstatus nicht angegeben. Von nun an wird es die größte Verhaftungswelle seit dem 17. Juni 1953 geben. Und ich werde dabei sein“, sagte ich sorgenvoll.

„Ich bin dabei, wenn du gehst“, sagte Klaus entschlossen.

„Aber wie abhauen, jetzt, wo alles abgesperrt ist?“, wendete Christa, seine Freundin, ängstlich ein. „Ihr nehmt uns doch mit – oder?“

„Genau so machen wir das“, flachste ich, „und fahren als Reisegruppe an die Grenze, ja?“

Bei Regina flossen bereits Tränen.

Neue Meldungen kamen durch. Schließlich trieb es uns zur Grenze. Hoffnung kam auf. Wir gingen alle zu Fuß zur Bernauer Strasse 4. Da sahen wir es mit eigenen Augen: Die aus rotem Backstein im neugotischen Stil erbaute Versöhnungskirche war auf unserer Seite mit Stacheldraht abgesperrt! Auf der Ostseite hielten Kampfgruppen und Volkspolizei die Umstehenden mit Maschinenpistolen in Schach. Niemand konnte hinein in das Gotteshaus und in den Westteil, hinten wieder hinaus. Die evangelische Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, doch obwohl sie ab 1945 genau zwischen dem sowjetischen und französischen Sektor Berlins lag, wurde sie 1950 wiederhergestellt und bis zum heutigenTag für Gottesdienste genutzt. Bedeutungsschwanger blickte die steinerne Jesusstatue am Eingang auf das Gewimmel aus Uniformen. Auch die Blicke der nächtlichen Augenzeugen und Mitglieder der Versöhnungsgemeinde verrieten Bestürzung und Verzweiflung. Das von Kaiserin Auguste Victoria gestiftete Gotteshaus war mein religiöses Zuhause, hier bekam ich auch die heilige Kommunion. Ich zündete meine mitgebrachten Kerzen an und suchte Trost in einem stillen Gebet.

Jetzt überall Stacheldraht, Betonfertigteile, Waffen, Panzer. Betroffen begriff ich: Da schlug’s dreizehn! Die Geschützrohre zeigten nicht in den Westen. Sie waren ostwärts gerichtet!

Mich erfasste ohnmächtige Wut. Ich will mich nicht russifizieren lassen! Totale Abkehr vom kommunistischen Gottvater Marx. Die Spaltung Deutschlands für sowjetische Machtinteressen - eine Unterdrückung von Freiheit und Menschenwürde.

„Diktatur!“ rufe ich laut. „Lieber tot als rot.“

Regina bekommt Angst. Schon kommt ein Politoffizier auf mich zu und verbietet mir den Mund. Kurzer Wortwechsel. Argumente gegen seine einstudierten Phrasen. Zwei Sprachen ohne Verständigung.

Der Spitzbart Ulbricht und sein Chefplaner Honecker lassen mit Billigung Moskaus quer durch Berlin eine Mauer ziehen. Zahllose Arbeiter aus der ganzen DDR richten die unüberwindlichen Betonteile auf und schaffen so unser und ihr eigenes Gefängnis. Unfassbar!

Das nächtliche Heerlager ist von Scheinwerfern erhellt. Ein Wasserwerfer dreht seine Kanone drohend auf unsere Gruppe. Regina sagt:

„Soviel Kopp habe ich gar nicht, wie ich schütteln möchte.“

In den folgenden Stunden haben wir systematisch die Grenze zum Westen abgesucht. Die Mädchen am französischen, Klaus am englischen, ich am amerikanischen Sektor. Ergebnis: Möglichkeiten waren gewiss da. Aber zu riskant für die Mädchen. Klaus und ich entschieden: Wir gehen solo und holen sie später nach.

Wenn das so einfach wäre! Es gelang uns nicht, unser Gewissen zu beruhigen. Aber die Girls hörten ja selbst im Radio stündlich von tödlich endenden Fluchtversuchen. Also gut: Sie mussten mit!

Am Abend saßen wir in der Wohnung von Klaus’ Eltern, überlegten, redeten. Einmal, gerade beim Essen, warfen sich Christa und Regina verschwörerische Blicke zu, und dann verkündete die eine:

„Ihr müsst uns mitnehmen! Regina bekommt ein Baby.“

Ich schaute meine Verlobte an. „Ja, Harry, du wirst Vater. Der Arzt hat es mir heute bestätigt. Ich bin im zweiten Monat.“

Sollte ich mich freuen oder jubeln?

„Zu riskant“, entschied nun Klaus. „Det jeht nich. Loofen könnta nich schnell. Klettern könnta nich.“

„Aber schwimmen können wa!“ konterte Regina.

Also gingen wir am nächsten Morgen mehrere Stunden ins Schwimmbad trainieren. Dann suchten wir die passende Fluchtstelle. Damit waren wir alle rund um die Uhr beschäftigt und entschieden uns, gleich am nächsten Tag die Spree hinter dem Reichstagsgebäude zu durchqueren. Wir standen unter Druck, denn an unserer Gefängnismauer wurde vierundzwanzig Stunden gearbeitet und es wurde täglich mit Sicherheit schwieriger.

Wir machten uns bereit zum Türmen und nutzten jede freie Minute für die Vorbereitungen. Als wir am 15. August alle losmachen wollten, hörten wir im Radio die letzten Nachrichten vor unserem Aufbruch: Genau an der von uns ausgeguckten Stelle starben zwei Männer beim Durchschwimmen der Spree im Kugelhagel der Vopos! Mann, das hätten wir sein können. Wir waren alle plötzlich deprimiert. Und das im zwölften Jahrestag der Gründung der DDR.

„Hör zu, Christa. Pass auf, Regina“, sagte ich und ging im Raum auf und ab. „Det is wirklich alles zu riskant. Ick muss mit Klaus zuerst mal alleene rüber. Wir machen noch heute Plan B, den Eisenbahner-Coup. Det wird schon jut jeh’n.“

„Ick lass dir aber nich weg“, opponierte Regina verzweifelt.

„Ach, Regina, wat biste doch for een Pessimist? Wenn et in die Hosen geht, isset noch früh jenug, dir zu quälen.“

Aber für Regina gab es keine Besänftigung, keinen Trost. Sie mahlte enttäuscht in der Kaffeemühle die Bohnen und stampfte dann trotzig mit dem Fuß: „Wir werden uns nie wieder sehen! Ick spüre det tief in mir.“

Es war verrückt. Was mir Glück verhieß, bedeutete ihr Schmerz. Ich nahm sie in meine Arme. „Ach, du denkst, ick werde dir schnell vergessen. Na, ja, noch sind wir nicht drüben.“ Beruhigend streichelte ich mit der Hand über ihren Kopf. „Liebes, ick muss rüber machen. Ick wäre mit dem Leben hier trotz deiner Liebe unglücklich. Et jibt keene Sicherheit im Leben, ooch in der Liebe nich. Du weeßt, dass ick dir immer lieben werde. Aba wa wissen beede nich von da Zukunft.“ Und nach einer Pause, leise: „Liebe muss frei sein.“

Regina konnte dem nicht zustimmen. „Mein Glück und det Kind, det is dir schnurz ejal - nur an dir denkste! Jeh’ doch los, werde mit deinem Klaus drüben glücklich! Lass mir einfach sitzen - det is mir allens recht.“

„Verzeih!“, sagte ich hilflos. Ich wollte nur weg, bevor ich noch schwach werde.

„Natürlich“, höhnte sie. „Und wat hab’ ick davon? Det du mit jutem Jewissen abrückst, det hab ick davon!“ Sie hob den Kopf und blickte mich von unten her an. Tränen liefen über beide Wangen.

„Ick wünsche dir alles Jute!“ Sie kämpfte gegen das Schluchzen.

„Weeßte, ick bin sehr traurig und verzweifelt. Mach’s jut, Harry!“

„Tschüss, Regina.“

Nur nicht neue Wehmut aufkommen lassen. Sonst bleibe ich noch hier. Regina Lichtenberg flüchtet ins Bad.

Es zerriss mir das Herz. Ich bat Christa, in der nächsten Zeit auf Regina acht zugeben und verabschiedete mich. Ein Mann muss nach seinem Traum leben und seinem Stern folgen. Bliebe ich hier, es würde ein vertanes Leben.

Aber Regina hatte sich geirrt. Wir sahen uns wieder. Nach dem missglückten Eisenbahner-Coup schöpften beide Frauen neue Hoffnung. Jedoch zwei Tage später, am 17. August, kam der nächste Abschied - von zwei Schornsteinfegern, getarnt, gerußt in ihrer Küche.

„Mit wat willste die andere Stulle?“ fragte Regina. „Wurst oder Käse?“

„Mit Schinken“, antwortete ich.

„Nee, ick bin dir keene Fessel. Es is meine Schuld, dass ick falsch jehofft habe, nich deine.“

Erst in den letzten Stunden hatte sie diese geduldige Stärke gefunden.

„Ick weeß, du musst deinen Weg gehen. Jeder hat nur ein Schicksal. Jetzt wieder groß verabschieden macht allet nur noch schlimmer. Det is vorbei, Harry.“

Ihr schönes Gesicht kam ganz dicht heran, als sie flüsterte: „Ick weeß, det kann nich vorbei sein. Dafor liebe ick dir zu sehr. Ick komme nach! Und wenn nich, tröstet mich Klein-Harry. Deinen Namen solla hab’n und so ha ich dir uff ewig... Gib mir noch’n Süßen“, bat sie.

Diesmal spürte ich die endgültige Trennung.

Jetzt hocke ich hier seit zwei Stunden auf dem Dach. Den Magen voll Beklommenheit und Reginas Bierwurst aus der Konsum-Genossenschaft. Bin ich mir denn sicher, dass es wirklich klappt?

August 1961. Genau vor siebenhundertundvierundzwanzig Jahren soll Berlin gegründet worden sein. Ich lasse mir von Klaus das Fernglas reichen und nehme suchend Abschied von den Plätzen meiner Kindheit. Das Glas scharf einstellend, wandere ich mit den Augen noch einmal durch unsere Novalisstraße bis zur Friedrichstraße. Entlang der Mauer. Checkpoint Charlie. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, um das die Mauer einen breiten Bogen macht. Dort eine Baubrigade mit gelben Schutzhelmen. Schwere US-Panzer vom Typ F-25 sind in Stellung, Visier auf die Sowjetpanzer.

Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht befallen mich. Mitten in der Stadt steht so ein unförmiges graues Ding und versperrt dir den Weg und die Plätze, wo du dich vor ein paar Wochen noch bewegen konntest. Man muss etwas dagegen tun!

Von den Dächern der grauen Mietskasernen im Ostberliner Bezirk Mitte wandern meine Blicke weiter über den Potsdamer Platz, über den nun getöteten Prachtboulevard Unter den Linden. Mein Blick streift auch das hässliche Mahnmal des unbekannten sowjetischen Soldaten, des unbekannten Plünderers und Vergewaltigers. Mein Herz pocht, als ich die alte Volksschule erkenne, das Dynamo-Stadion, wo ich Fußball spielte, und ich nehme Abschied von dem quadratischen Turm mit dem spitzen Helm. Das Hauptportal der Kirchenmauer ist etwa zehn Meter von dem Gebäude, vier Meter hoch zugemauert. Sie befindet sich im Todesstreifen wie wir.

Vom Westen ist zunächst nichts zu erwarten. Die große Vision, amerikanische Räumkommandos wälzen die ersten Mauerabschnitte und die Stacheldrahtzäune platt, erweist sich als trügerisch. Der Bundestag schweigt. Nur die Westberliner Bürger tun was. Eine halbe Million protestiert auf dem Rudolf-Wilde-Platz. Der DGB ruft zum Boykott der sowjetzonalen S-Bahn auf. Fortan fährt sie leer.

Mit zynischer Pedanterie und verräterischer Materialschlacht, die eine lange Planung voraussetzte, betoniert die Einheitspartei die Teilung.

„Um“, wie der olle Staatsratsvorsitzende Ulbricht im Radio behauptet, „vor einem Überfall der BRD sicher zu sein.“ Drei Wochen vorher hatte dieser verlogene Spitzbart noch getönt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Autosperren statt Häuser. Betonpfeiler statt Bäume. Stacheldrahthecken statt Grünflächen.

Dann die andere Seite. Ein Dutzend Bahngeleise. Eine Böschung. Ein Unterstand der Grenzposten.

Klaus reißt mich aus meinen Gedanken. „Harry, wenn et allet funktioniert und wa heil rüber kommen, wat is dein größter Wunsch?“

„Dat wa zu viert irgendwann ‘ne Pilgerfahrt machen, nach New York zur Miss Liberty. Ich möchte die Inschrift an der Freiheitsstatue sehen: ‘Schickt mir die Armen und Bedrängten mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit’.“

Klaus Müller, wie ich neunzehn Jahre alt. Seit der ersten Schulklasse sind wir dicke Freunde. Klausi ist mit seinen Einsachtundachtzig eine „abgebrochene Bohnenstange“, aber sehr gut beieinander. Nun bekreuzigt er sich und erfleht göttlichen Beistand. Darauf allein möchte ich mich aber nicht verlassen. Gott hat ja auch diese verdammte Mauer zugelassen.

Klaus zieht den Reserve-Tank aus der Brusttasche und reicht mir seinen Flachmann.

„Kumpel, zum Aufwärmen. Es zieht hier oben.“

Ich nehme zwei Schlucke. Den zweiten, um mir Mut zu machen. Offen gestanden, habe ich Schiss. Das Kommende ist ungewiss und unheilsschwer. Doch ein Zurück gibt es nicht. Ich kann zwar mit jeder Ausrede abbrechen und vom Dach klettern. Aber diese Feigheit würde mein ganzes Leben prägen. Ich muss da durch. Also, zeig deine Furcht nicht, Harry. Denn Klaus, der wiederum meinen Mut bewunderte, ging es sicherlich nicht besser als mir.

Das würde ich mir merken. So muss man die Dinge angehen. Mutig, entschlossen, tatkräftig.

Ich male mit weißer Kreide an den Schornstein: Freiheit ist ein Licht, für das viele Menschen im Dunkel gestorben sind. Fluchtgemeinschaft H&K 17.08.1961

„Wat schreibste denn da?“ Klaus schaut neugierig über meine Schulter.“