cover image

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Idiot

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Idiot

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hermann Röhl
EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1920
3. Auflage, ISBN 978-3-954183-32-6

www.null-papier.de/deridiot

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Ers­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Zwei­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Drit­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Vier­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Das Buch

»Der Idi­ot« ge­hört zu den be­kann­tes­ten Ro­ma­nen Do­sto­jew­skis, die zur ab­so­lu­ten Welt­li­te­ra­tur ge­zählt wer­den. Es ist die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft des 19. Jahr­hun­derts schei­tert.

Un­schul­dig und naiv ge­rät er hilf­los in die Int­ri­gen­spie­le der ge­ho­be­nen Mit­tel­schicht des rus­si­schen Adels. Trotz­dem er nur Gu­tes tut, wird er von al­len Sei­ten an­ge­fein­det, ver­lacht und aus­ge­nutzt.

Der Held bringt trotz al­ler sei­ner Güte nur Cha­os und ver­der­ben über sei­ne Um­welt.

Fürst Mysch­kin ge­hört so­mit ne­ben Don Qui­jo­te von Cer­van­tes und Mr. Pick­wick von Di­ckens zu den großen tra­gi­ko­mi­schen Idea­lis­ten der Welt­li­te­ra­tur.

Autor und Werk

F­jo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski (geb. 11. No­vem­ber 1821 in Mos­kau; gest. 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten rus­si­schen Schrift­stel­ler.

Fjo­dor Do­sto­jew­ski war das zwei­te Kind von Michail An­dre­je­witsch Do­sto­jew­ski und Ma­ria Fjo­do­row­na Netscha­je­wa. Er hat­te zwei Brü­der und drei Schwes­tern. Die Fa­mi­lie ent­stamm­te ver­arm­tem Adel; der Va­ter war Arzt. Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, 1837, ließ sich Do­sto­jew­ski mit sei­nem Bru­der Michail in St. Pe­ters­burg nie­der, wo er von 1838 bis 1843 Bau­in­ge­nieur­we­sen stu­dier­te. 1839 soll sein Va­ter auf dem hei­mi­schen Land­gut durch Leib­ei­ge­ne er­mor­det wor­den sein.

Do­sto­jew­ski war zwei­mal ver­hei­ra­tet. Sei­ne ers­te Ehe mit der Wit­we Ma­ria Dmi­tri­jew­na Isa­je­wa en­de­te 1864 nach sie­ben Jah­ren mit dem Tod Ma­ri­as und war kin­der­los. Sei­ne zwei­te Frau war Anna Gri­gor­jew­na Snit­ki­na. Aus der am 15. Fe­bru­ar 1867 ge­schlos­se­nen Ehe, die bis zu Do­sto­jew­skis Tod an­dau­er­te, gin­gen vier Kin­der her­vor, von de­nen je­doch nur zwei das Er­wach­se­nen­al­ter er­reich­ten.

Do­sto­jew­ski be­gann 1844 mit den Ar­bei­ten zu sei­nem 1846 ver­öf­fent­lich­ten Erst­lings­werk »Arme Leu­te«. Mit des­sen Er­schei­nen wur­de er schlag­ar­tig be­rühmt; die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik fei­er­te ihn als Ge­nie. 1847 trat er dem re­vo­lu­tio­nären Zir­kel bei. 1949 de­nun­zier­te man ihn, und er wur­de zum Tode ver­ur­teilt. Ei­gent­lich hät­te er am 22. De­zem­ber 3. Ja­nu­ar 1850 durch ein Er­schie­ßungs­kom­man­do hin­ge­rich­tet wer­den sol­len. Erst auf dem Richt­platz be­gna­dig­te Zar Ni­ko­laus I. ihn zu vier Jah­ren Ver­ban­nung und Zwangs­ar­beit in Si­bi­ri­en, mit an­schlie­ßen­der Mi­li­tär­dienst­pflicht. In der Haft in Omsk wur­de bei Do­sto­jew­ski zum ers­ten Mal Epi­lep­sie dia­gno­s­ti­ziert.

1854 trat er sei­ne Mi­li­tär­pflicht im Rah­men sei­ner Ver­ban­nung in Se­mei (Se­mi­pa­la­tinsk) an; 1856 wur­de er zum Of­fi­zier be­för­dert. Nach sei­ner Hei­rat 1857 und schwe­ren epi­lep­ti­schen An­fäl­len be­an­trag­te er sei­ne Ent­las­sung aus der Ar­mee, die je­doch erst 1859 be­wil­ligt wur­de, so­dass Do­sto­jew­ski nach St. Pe­ters­burg zu­rück­keh­ren konn­te.

1859, noch zur Zeit sei­ner si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, ent­stand sein Ro­man »On­kel­chens Traum«, un­mit­tel­bar vor den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem To­ten­haus« (1860).

Ge­mein­sam mit sei­nem Bru­der grün­de­te er die Zeit­schrift »Zeit« (Wremja), in der im dar­auf fol­gen­den Jahr sein Ro­man »Er­nied­rig­te und Be­lei­dig­te« er­schi­en.

Be­reits 1863 je­doch fiel die Zeit­schrift der Zen­sur zum Op­fer und wur­de ver­bo­ten. In der 1860er Jah­ren reist Do­sto­jew­ski mehr­mals durch Eu­ro­pa.

1863 spiel­te er zum ers­ten Mal Rou­let­te. 1864 star­ben in kur­z­er Fol­ge Do­sto­jew­skis ers­te Frau, sein Bru­der und sein Freund Apol­lon Gri­gor­jew; die Nach­fol­ge­zeit­schrift der »Zeit«, die »Epo­che«, muss­te er aus Geld­man­gel ein­stel­len.

1865 ver­spiel­te er beim Rou­let­te in der Spiel­bank in Wies­ba­den sei­ne Rei­se­kas­se. Im Mit­tel­punkt sei­nes 1866 er­schie­ne­nen Ro­mans »Der Spie­ler« steht ein Rou­let­te­spie­ler. Im sel­ben Jahr er­schi­en der ers­te der großen Ro­ma­ne, durch die Do­sto­jew­skis Werk Teil der Welt­li­te­ra­tur wur­de: »Schuld und Süh­ne« (oder auch in der Neu­über­set­zung: »Ver­bre­chen und Stra­fe«).

Kurz nach sei­ner zwei­ten Ehe­schlie­ßung, 1867, nach dem Zu­sam­men­bruch der mit sei­nem Bru­der ge­grün­de­ten zwei­ten Zeit­schrift ins Aus­land, um sich dem Zu­griff sei­ner Gläu­bi­ger zu ent­zie­hen. Er wohn­te län­ge­re Zeit in Dres­den.

Erst 1871 kehr­te er wie­der nach Russ­land zu­rück. Ent­ge­gen der weit­ver­brei­te­ten An­nah­me, Do­sto­jew­ski habe große Be­trä­ge am Rou­let­te­tisch ver­lo­ren, war er ein Spie­ler mit ge­rin­gen Ein­set­zen, der oft ta­ge­lang mit dem Geld ei­nes ge­ra­de ver­pfän­de­ten Klei­des sei­ner Frau spiel­te.

1868 er­schi­en sein zwei­tes Groß­werk, »Der Idi­ot«, die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft schei­tert.

Zu sei­nem Ende hin ver­lief das Le­ben Do­sto­jew­skis in ru­hi­ge­ren Bah­nen. Er ver­fass­te sei­ne bei­den letz­ten großen Wer­ke, den Ro­man »Der Jüng­ling« – in der Neu­über­set­zung »Ein grü­ner Jun­ge« – und schließ­lich den Ro­man »Die Brü­der Ka­ra­ma­sow«, den er in den 1860er Jah­ren, also in der Zeit der Ent­ste­hung von »Schuld und Süh­ne«, be­gon­nen hat­te und der die Ent­wick­lung der rus­si­schen Ge­sell­schaft bis in die 1880er Jah­re be­han­deln soll­te.

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski starb am 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg an ei­nem Lun­gen­em­phy­sem; an sei­nem Be­gräb­nis nah­men 60.000 Men­schen teil. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Tich­wi­ner Fried­hof des Alex­an­der-New­ski-Klos­ters.

Bild: 077_Der_Idiot_001.jpg

Erster Teil

I

Es war ge­gen Ende des No­vem­ber, bei Tau­wet­ter, als sich um neun Uhr mor­gens ein Zug der Pe­ters­burg-War­schau­er Bahn in vol­ler Fahrt Pe­ters­burg nä­her­te. Das Wet­ter war so feucht und neb­lig, dass das Ta­ges­licht kaum zur Gel­tung kam; man konn­te rechts und links von der Bahn aus den Fens­tern der Wa­gen nur auf zehn Schrit­te mit Mühe et­was er­ken­nen. Un­ter den Pas­sa­gie­ren wa­ren ei­ni­ge, die aus dem Aus­land zu­rück­kehr­ten; am meis­ten ge­füllt wa­ren aber die Ab­tei­le drit­ter Klas­se, und zwar fast aus­schließ­lich mit klei­nen Ge­schäfts­leu­ten, die aus nicht sehr wei­ter Ent­fer­nung ka­men. Alle wa­ren, wie das so zu sein pflegt, müde; al­len wa­ren wäh­rend der Nacht die Au­gen­li­der schwer ge­wor­den, alle frös­tel­ten, alle Ge­sich­ter wa­ren gelb­lich, von der­sel­ben Far­be wie der Ne­bel.

In ei­nem Wa­gen drit­ter Klas­se sa­ßen ein­an­der seit dem Mor­gen­grau­en dicht am Fens­ter zwei Pas­sa­gie­re ge­gen­über: bei­des jun­ge Leu­te, bei­de fast ohne Ge­päck, bei­de nicht ele­gant ge­klei­det, bei­de mit recht in­ter­essan­ten Ge­sich­tern und bei­de von dem Wunsch er­füllt, end­lich mit­ein­an­der in ein Ge­spräch zu kom­men. Wenn sie bei­de von­ein­an­der ge­wusst hät­ten, wo­durch sie ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick in­ter­essant wa­ren, so hät­ten sie sich ge­wiss dar­über ge­wun­dert, dass der Zu­fall sie so selt­sam in ei­nem Wa­gen drit­ter Klas­se der Pe­ters­burg-War­schau­er Ei­sen­bahn ein­an­der ge­gen­über­ge­setzt hat­te. Der eine von ih­nen war von klei­ner Sta­tur, etwa sie­ben­und­zwan­zig Jah­re alt und hat­te krau­ses, fast schwar­zes Haar und klei­ne, graue, aber feu­ri­ge Au­gen. Sei­ne Nase war breit und platt­ge­drückt, die Ba­cken­kno­chen tra­ten stark her­vor; die schma­len Lip­pen ver­zo­gen sich fort­wäh­rend zu ei­nem dreis­ten, spöt­ti­schen und so­gar bos­haf­ten Lä­cheln, aber sei­ne Stirn war hoch und gut ge­formt und ver­schön­te den un­vor­nehm ge­schnit­te­nen un­te­ren Teil des Ge­sichts. Be­son­ders auf­fäl­lig war an die­sem Ge­sicht sei­ne To­ten­bläs­se, die der gan­zen Phy­sio­gno­mie1 des jun­gen Man­nes trotz sei­ner ziem­lich kräf­ti­gen Kon­sti­tu­ti­on den An­schein der Er­schöp­fung ver­lieh und zu­gleich den An­schein ei­ner qual­vol­len Lei­den­schaft­lich­keit, die mit sei­nem fre­chen, un­höf­li­chen Lä­cheln und sei­nem schar­fen, selbst­zu­frie­de­nen Blick nicht recht im Ein­klang stand. Er war warm ge­klei­det, denn er trug einen wei­ten, schwar­zen, mit Tuch über­zo­ge­nen Pelz aus Lamm­fell, und hat­te in der Nacht nicht ge­fro­ren, wäh­rend sein Rei­se­ge­fähr­te an sei­nem frost­zit­tern­den Rücken die gan­ze An­nehm­lich­keit ei­ner feuch­ten rus­si­schen No­vem­ber­nacht hat­te aus­hal­ten müs­sen, auf die er of­fen­bar nicht hin­rei­chend vor­be­rei­tet war. Er trug einen ziem­lich wei­ten, di­cken Man­tel ohne Är­mel und mit ei­ner ge­wal­ti­gen Ka­pu­ze, von der Art, wie man sie oft auf Rei­sen zur Win­ter­zeit ir­gend­wo im fer­nen Aus­land be­nutzt, zum Bei­spiel in der Schweiz oder in Ober­ita­li­en, wo man da­bei na­tür­lich auch nicht mit so wei­ten Fahr­ten rech­net wie der von Eydt­kuh­nen nach Pe­ters­burg. Aber was in Ita­li­en taug­te und völ­lig aus­reich­te, er­wies sich in Russ­land als ganz un­taug­lich. Der Ei­gen­tü­mer des Man­tels mit der Ka­pu­ze war ein jun­ger Mensch, der gleich­falls im Al­ter von etwa sechs­und­zwan­zig oder sie­ben­und­zwan­zig Jah­ren stand, et­was über Mit­tel­grö­ße, mit sehr hell­blon­dem, dich­tem Haar, hoh­len Wan­gen und ei­nem klei­nen, spit­zen, fast ganz wei­ßen Bärt­chen. Sei­ne Au­gen wa­ren groß, blau und ru­hig; in ih­rem Blick lag et­was Stil­les, aber Be­drück­tes, et­was von je­nem ei­gen­tüm­li­chen Aus­druck, an dem man­che auf den ers­ten Blick den Epi­lep­ti­ker er­ken­nen. Das Ge­sicht des jun­gen Man­nes war üb­ri­gens an­ge­nehm, mit fei­nen Zü­gen und nicht zu flei­schig, aber farb­los, nur dass es au­gen­blick­lich ge­ra­de­zu blau ge­fro­ren war. An sei­nen Hän­den bau­mel­te ein schmäch­ti­ges Bün­del­chen, das in ei­nem al­ten, ver­bli­che­nen, sei­de­nen Tuch, wie es schi­en, sein gan­zes Rei­se­ge­päck ent­hielt. An den Fü­ßen hat­te er dick­soh­li­ge Schu­he mit Ga­ma­schen – al­les in nicht-rus­si­scher Art. Sein schwarz­haa­ri­ger Rei­se­ge­nos­se in dem tuch­über­zo­ge­nen Pelz mus­ter­te dies al­les ge­nau, zum Teil weil er nichts an­de­res zu tun hat­te, und frag­te schließ­lich mit je­nem takt­lo­sen Lä­cheln, durch das manch­mal in so un­ge­nier­ter, ge­ring­schät­zi­ger Wei­se das Ver­gnü­gen der Leu­te über das Miss­ge­schick des Nächs­ten zum Aus­druck kommt:

»Ist Ih­nen kalt?«

Er mach­te da­bei Be­we­gun­gen mit den Schul­tern.

»Ja, sehr kalt«, ant­wor­te­te der Rei­se­ge­nos­se mit großer Be­reit­wil­lig­keit, »und se­hen Sie, da­bei ha­ben wir noch Tau­wet­ter. Wie wäre es erst, wenn wir Käl­te hät­ten? Ich hat­te gar nicht ge­dacht, dass es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr ge­wohnt.«

»Sie kom­men wohl aus dem Aus­land?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»Füt! Nun se­hen Sie ein­mal an!«

Der Schwarz­haa­ri­ge tat einen Pfiff und lach­te.

Es kam ein Ge­spräch in Gang. Die Be­reit­wil­lig­keit des blon­den jun­gen Man­nes in dem Schwei­zer­man­tel, auf alle Fra­gen sei­nes schwarz­haa­ri­gen Ge­fähr­ten zu ant­wor­ten, war er­staun­lich; er merk­te in sei­ner Harm­lo­sig­keit of­fen­bar gar nicht, dass man­che die­ser Fra­gen sehr ge­ring­schät­zig klan­gen und höchst un­pas­send und mü­ßig wa­ren. Bei sei­nen Ant­wor­ten teil­te er un­ter an­de­rem mit, dass er tat­säch­lich lan­ge Zeit nicht in Russ­land ge­we­sen sei, über vier Jah­re; man habe ihn we­gen ei­ner Krank­heit ins Aus­land ge­schickt, we­gen ei­ner ei­gen­tüm­li­chen Ner­ven­krank­heit nach Art der Epi­lep­sie oder des Veits­tan­zes, die sich in Zu­ckun­gen und Krämp­fen ge­äu­ßert habe. Der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mann lä­chel­te beim Zu­hö­ren ei­ni­ge Male, na­ment­lich lach­te er auf, als auf die Fra­ge: »Na, sind Sie denn nun ge­heilt?« der Blon­de er­wi­der­te: »Nein, ge­heilt bin ich nicht.«

»Haha! Da ha­ben Sie also Ihr Geld ver­ge­bens be­zahlt, und wir hier schen­ken je­nen Leu­ten Ver­trau­en!« be­merk­te der Schwarz­haa­ri­ge spöt­tisch.

»Ja, das ist durch­aus rich­tig!« misch­te sich ein da­ne­ben­sit­zen­der schlecht ge­klei­de­ter Herr in das Ge­spräch, so eine Art von ge­rie­be­nem Amts­schrei­ber, etwa vier­zig Jah­re alt, kräf­tig ge­baut, mit ro­ter Nase und ei­nem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel. »Das ist durch­aus rich­tig; sie sau­gen uns Rus­sen das Mark aus, ohne selbst et­was da­für zu leis­ten!«

»Oh, wie Sie sich in mei­nem Fall ir­ren!« er­wi­der­te der Schwei­zer Pa­ti­ent in ru­hi­gem, ver­söhn­li­chem Ton. »Ich kann ja al­ler­dings nicht dar­über dis­pu­tie­ren, weil ich kei­nen Ge­samt­über­blick habe, aber mein Arzt hat mir von dem we­ni­gen, was er be­saß, noch das Geld für die Fahrt hier­her ge­ge­ben, und fast zwei Jah­re lang hat er mich dort aus sei­nen ei­ge­nen Mit­teln un­ter­hal­ten.«

»Wie? Hat­ten Sie wirk­lich nie­mand, der für Sie be­zahl­te?« frag­te der Schwarz­haa­ri­ge.

»Nein. Herr Paw­lischt­schew, der die Kos­ten mei­nes dor­ti­gen Auf­ent­halts ge­tra­gen hat­te, ist vor zwei Jah­ren ge­stor­ben; ich schrieb dann hier­her an die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na, eine ent­fern­te Ver­wand­te von mir, habe aber kei­ne Ant­wort er­hal­ten. So bin ich denn her­ge­reist.«

»Wo ge­den­ken Sie denn zu blei­ben?«

»Sie mei­nen, wo ich Woh­nung neh­men wer­de?… Das weiß ich noch nicht, wirk­lich nicht… es ist noch un­ge­wiss…«

»Dar­über ha­ben Sie noch kei­nen Ent­schluss ge­fasst?«

Bei­de Zu­hö­rer bra­chen von neu­em in ein Ge­läch­ter aus.

»Und die­ses Bün­del­chen ent­hält wohl Ihre gan­ze Habe?« frag­te der Schwarz­haa­ri­ge.

»Ich möch­te wet­ten, dass es so ist«, fiel mit sehr zu­frie­de­ner Mie­ne der rot­na­si­ge Be­am­te ein, »und dass Sie kein wei­te­res Ge­päck im Ge­päck­wa­gen ha­ben. Ob­wohl Ar­mut kei­ne Schan­de ist, wie man im­mer wie­der be­mer­ken muss.«

Es stell­te sich her­aus, dass es sich wirk­lich so ver­hielt: der blon­de jun­ge Mann ge­stand dies so­fort mit großer Be­reit­wil­lig­keit ein.

»Ihr Bün­del­chen hat trotz­dem einen ge­wis­sen Wert«, fuhr der Be­am­te, nach­dem er sich satt ge­lacht hat­te, fort (be­mer­kens­wert war, dass auch der Ei­gen­tü­mer des Bün­del­chens selbst schließ­lich beim An­blick der bei­den mit­zu­la­chen an­fing, was de­ren Hei­ter­keit noch ver­grö­ßer­te). »Man möch­te zwar wet­ten, dass kei­ne Rol­len mit aus­län­di­schen Gold­stücken, wie Na­po­leon­dors, Fried­richs­dors oder hol­län­di­schen Du­ka­ten, dar­in sind; das kann man zum Bei­spiel schon aus Ihren aus­län­di­schen Ga­ma­schen schlie­ßen, aber wenn man zu Ihrem Bün­del­chen noch eine sol­che Ver­wand­te hin­zu­nimmt wie die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na, dann ge­winnt auch das Bün­del­chen ge­wis­ser­ma­ßen einen hö­he­ren Wert, selbst­ver­ständ­lich nur in dem Fall, wenn die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na wirk­lich Ihre Ver­wand­te ist und Sie sich nicht aus Zer­streut­heit ir­ren… was ei­nem au­ßer­or­dent­lich leicht pas­sie­ren kann… sa­gen wir: in­fol­ge ei­nes Über­ma­ßes von Fan­ta­sie.«

»Oh, Sie ha­ben wie­der das Rich­ti­ge ge­trof­fen«, er­wi­der­te der blon­de jun­ge Mensch, »denn ich be­fin­de mich wirk­lich bei­nah in ei­nem Irr­tum, das heißt sie ist kaum mei­ne Ver­wand­te; ja ich habe mich tat­säch­lich da­mals gar nicht dar­über ge­wun­dert, dass ich kei­ne Ant­wort nach der Schweiz be­kam. Ich hat­te das ei­gent­lich auch so er­war­tet.«

»Da ha­ben Sie das Geld für die Fran­kie­rung des Brie­fes un­nütz aus­ge­ge­ben. Hm!… Nun, we­nigs­tens sind Sie of­fen­her­zig und auf­rich­tig, und das ist löb­lich! Hm!… Den Ge­ne­ral Je­pant­schin ken­ne ich, im Grun­de weil er eine all­ge­mein be­kann­te Per­sön­lich­keit ist, und den ver­stor­be­nen Herrn Paw­lischt­schew, der Sie in der Schweiz un­ter­hal­ten hat, habe ich eben­falls ge­kannt, vor­aus­ge­setzt, dass es sich um Ni­ko­lai An­dre­je­witsch Paw­lischt­schew han­delt, denn es wa­ren zwei Vet­tern. Der an­de­re be­fin­det sich noch auf der Krim. Ni­ko­lai An­dre­je­witsch aber, der Ver­stor­be­ne, war ein sehr acht­ba­rer Mann, hat­te gute Ver­bin­dun­gen und be­saß sei­ner­zeit vier­tau­send See­len…«

»Ganz rich­tig, er hieß Ni­ko­lai An­dre­je­witsch Paw­lischt­schew.« Nach­dem der jun­ge Mensch die­se Ant­wort ge­ge­ben hat­te, be­trach­te­te er un­ver­wandt und mit leb­haf­tem In­ter­es­se den Herrn, der sich über al­les so gut ori­en­tiert zeig­te.

Die­se Her­ren Al­les­wis­ser be­geg­nen ei­nem manch­mal, und in ei­ner be­stimm­ten ge­sell­schaft­li­chen Schicht so­gar ziem­lich häu­fig. Sie wis­sen al­les; der gan­ze un­ru­hi­ge For­schungs­trieb ih­res Ver­stan­des und ihre ge­sam­ten Fä­hig­kei­ten stre­ben un­auf­halt­sam nach ei­ner Sei­te hin, na­tür­lich in­fol­ge des Man­gels an wich­ti­ge­ren Le­bens­in­ter­es­sen und An­schau­un­gen, wie ein mo­der­ner Den­ker sich aus­drücken wür­de. Bei dem Aus­druck »sie wis­sen al­les« muss man üb­ri­gens an ein ziem­lich be­schränk­tes Ge­biet den­ken: wo der und der an­ge­stellt ist, mit wem er be­kannt ist, wie viel Ver­mö­gen er be­sitzt, wo er Gou­ver­neur ge­we­sen ist, was für eine Frau er ge­nom­men hat, wie viel Mit­gift er da­bei er­hal­ten hat, wer sein Vet­ter und sein ent­fern­te­rer Vet­ter ist und so wei­ter und so wei­ter, und sonst noch al­ler­lei von die­ser Art. Gro­ßen­teils ge­hen die­se Al­les­wis­ser mit durch­ge­sto­ße­nen Ell­bo­gen um­her und be­kom­men sieb­zehn Ru­bel Ge­halt mo­nat­lich. Die Leu­te, über die sie alle mög­li­chen Ein­zel­hei­ten wis­sen, wür­den na­tür­lich nicht sa­gen kön­nen, warum jene an ih­nen ein der­ar­ti­ges In­ter­es­se ha­ben, und da­bei fin­den vie­le die­ser Al­les­wis­ser an die­sem Wis­sen, das ei­ner gan­zen Wis­sen­schaft gleich­kommt, ein aus­ge­spro­che­nes Ver­gnü­gen und ge­lan­gen da­durch zu Selb­st­ach­tung und so­gar zu ei­nem sehr ho­hen Grad see­li­scher Zufrie­den­heit. Und es ist auch eine ver­füh­re­ri­sche Wis­sen­schaft. Ich habe Ge­lehr­te, Li­te­ra­ten, Dich­ter und Staats­män­ner ge­kannt, die in die­ser Wis­sen­schaft ihre größ­te Be­frie­di­gung, ihr höchs­tes Ziel fan­den und so­gar aus­ge­spro­chen nur hier­durch Kar­rie­re mach­ten.

Im wei­te­ren Ver­lauf die­ses Ge­sprächs gähn­te der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mensch, blick­te ziel­los durchs Fens­ter und war­te­te mit Un­ge­duld auf das Ende der Rei­se. Er war et­was zer­streut, so­gar sehr zer­streut, bei­nah auf­ge­regt; ja er be­nahm sich ei­ni­ger­ma­ßen son­der­bar: manch­mal hör­te er zu, ohne recht zu­zu­hö­ren, sah, ohne recht zu se­hen, und lach­te, ohne im nächs­ten Au­gen­blick zu wis­sen und sich zu er­in­nern, wor­über er ei­gent­lich ge­lacht hat­te.

»Aber ge­stat­ten Sie die Fra­ge: mit wem habe ich die Ehre?« wand­te sich auf ein­mal der Herr mit dem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel an den blon­den jun­gen Mann mit dem Bün­del­chen.

»Fürst Lew Ni­ko­la­je­witsch Mysch­kin«, ant­wor­te­te die­ser, ohne zu zö­gern, mit größ­ter Be­reit­wil­lig­keit.

»Fürst Mysch­kin? Lew Ni­ko­la­je­witsch? Ken­ne ich nicht. Nicht ein­mal vom Hö­ren­sa­gen«, ant­wor­te­te der Be­am­te nach­den­kend. »Das heißt, ich mei­ne nicht den Na­men; der Name ist ja his­to­risch und in Ka­rams­ins Ge­schich­te Russ­lands zu fin­den; ich mei­ne Ihre Per­son, und über­haupt be­geg­nen Fürs­ten Mysch­kin ei­nem nir­gends mehr; man hört von ih­nen nicht ein­mal re­den.«

»Wie könn­te es auch an­ders sein!« ver­setz­te der Fürst so­gleich. »Fürs­ten Mysch­kin gibt es jetzt au­ßer mir gar kei­ne mehr; ich glau­be, ich bin der letz­te. Und was mei­nen Va­ter und mei­nen Groß­va­ter an­langt, so be­sa­ßen die nur ein ein­zi­ges Gut, auf dem sie zu­rück­ge­zo­gen leb­ten. Mein Va­ter war üb­ri­gens Leut­nant bei der Li­nie, vor­her Fähn­rich. Und nun weiß ich nicht, in wel­cher Wei­se die Ge­ne­ra­lin Je­pant­schi­na zu den Mysch­kin­schen Fürs­ten­töch­tern ge­hört; sie ist eben­falls die Letz­te in ih­rer Art…«2

»Ha­ha­ha! Die Letz­te in ih­rer Art! Haha! Wie Sie das ge­dreht ha­ben!« ki­cher­te der Be­am­te.

Auch der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mann lä­chel­te. Der Blon­de war et­was ver­le­gen, dass es ihm ge­lun­gen war, ein al­ler­dings ziem­lich ein­fa­ches Wort­spiel zu ma­chen.

»Sei­en Sie über­zeugt, ich habe es ganz ohne Ab­sicht ge­sagt«, er­klär­te er schließ­lich ei­ni­ger­ma­ßen be­fan­gen.

»Sehr be­greif­lich, sehr be­greif­lich!« stimm­te ihm der Be­am­te hei­ter bei.

»Ha­ben Sie denn dort auch Wis­sen­schaf­ten be­trie­ben, Fürst, bei Ihrem Pro­fes­sor?« frag­te un­ver­mit­telt der Schwarz­haa­ri­ge.

»Ja… al­ler­dings…«

»Ich für mei­ne Per­son habe nie et­was stu­diert.«

»Auch ich nur ein klein we­nig«, füg­te der Fürst in ei­nem Tone hin­zu, der bei­nah wie eine Bit­te um Ent­schul­di­gung klang. »Mir einen re­gu­lä­ren Un­ter­richt zu er­tei­len, hielt man in An­be­tracht mei­ner Krank­heit nicht für mög­lich.«

»Ken­nen Sie die Fa­mi­lie Ro­gos­hin?« frag­te der schwarz­haa­ri­ge jun­ge Mensch schnell.

»Nein, ich ken­ne sie nicht, gar nicht. Ich ken­ne in Russ­land über­haupt nur we­ni­ge Men­schen. Ist Ihr Name Ro­gos­hin?«

»Ja, ich hei­ße Ro­gos­hin, Par­fen Ro­gos­hin.«

»Par­fen? Sind Sie da nicht viel­leicht ein Mit­glied eben je­ner Fa­mi­lie Ro­gos­hin…«, be­gann der Be­am­te mit noch ge­stei­ger­ter Wich­tig­tue­rei.

»Ja­wohl, eben je­ner, eben je­ner«, un­ter­brach ihn schnell und mit un­höf­li­cher Un­ge­duld der Schwarz­haa­ri­ge, der über­haupt dem Be­am­ten mit dem Ge­sicht vol­ler Pi­ckel nie Be­ach­tung ge­schenkt, son­dern gleich von An­fang an im­mer nur zu dem Fürs­ten ge­spro­chen hat­te.

»Ja… ist es mög­lich?« rief der Be­am­te starr vor Stau­nen, die Au­gen tra­ten ihm bei­nah aus den Höh­len, und sein gan­zes Ge­sicht nahm so­gleich einen ehr­er­bie­ti­gen, knech­ti­schen, ja er­schro­cke­nen Aus­druck an. »Sind Sie ein Sohn eben je­nes erb­li­chen Ehren­bür­gers Sem­jon Par­fe­no­witsch Ro­gos­hin, der vor ei­nem Mo­nat starb und ein ba­res Ka­pi­tal von zwei und ei­ner hal­b­en Mil­li­on hin­ter­ließ?«

»Wo­her ha­ben Sie denn er­fah­ren, dass er ein ba­res Ka­pi­tal von zwei und ei­ner hal­b­en Mil­li­on hin­ter­las­sen hat?« un­ter­brach ihn der Schwarz­haa­ri­ge, der sich auch dies­mal nicht dazu her­a­bließ, den Be­am­ten an­zu­se­hen. »Nun sehe mal ei­ner den Kerl an!« (Er zwin­ker­te dem Fürs­ten zu.) »Und was ha­ben die Leu­te nur da­von, dass sie sich so­fort mit Schmei­che­lei­en an einen her­an­ma­chen? Aber wahr ist, dass mein Va­ter ge­stor­ben ist und ich jetzt einen Mo­nat nach­her bei­nah ohne Stie­fel von Ps­kow nach Hau­se fah­re. We­der mein nie­der­träch­ti­ger Bru­der noch mei­ne Mut­ter ha­ben mir Geld oder eine Benach­rich­ti­gung ge­schickt nichts ha­ben sie mir ge­schickt! Als ob ich ein Hund wäre! Ei­nen gan­zen Mo­nat lang habe ich in Ps­kow im Fie­ber ge­le­gen!«

»Aber jetzt wer­den Sie mehr als ein Mil­li­ön­chen mit ei­nem­mal be­kom­men, min­des­tens so­viel, o mein Herr­gott!« rief der Be­am­te und schlug die Hän­de zu­sam­men.

»Na, was geht ihn das an? Sa­gen Sie bit­te selbst!« sag­te Ro­gos­hin, wie­der mit dem Kop­fe auf ihn hin­deu­tend, in ge­reiz­tem und är­ger­li­chem Ton. »Ich wer­de Ih­nen ja doch nicht eine ein­zi­ge Kope­ke ge­ben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stel­len und auf den Hän­den ge­hen.«

»Das wer­de ich tun, das wer­de ich tun!«

»Da ha­ben wir’s! Aber ich wer­de Ih­nen nichts ge­ben, gar nichts, und wenn Sie eine gan­ze Wo­che lang tan­zen!«

»Sie brau­chen mir nichts zu ge­ben! Das ver­lan­ge ich auch gar nicht! Sie brau­chen mir nichts zu ge­ben! Aber ich wer­de doch tan­zen. Mei­ne Frau und mei­ne klei­nen Kin­der wer­de ich im Stich las­sen und vor Ih­nen tan­zen. Aus rei­ner Lie­bens­wür­dig­keit!«

»Pfui über Sie!« sag­te der Schwarz­haa­ri­ge und spuck­te aus. »Vor fünf Wo­chen be­fand ich mich in dem­sel­ben Zu­stand wie Sie jetzt«, wand­te er sich an den Fürs­ten. »Mit ei­nem ein­zi­gen Bün­del­chen ent­floh ich vor mei­nem Va­ter nach Ps­kow zu ei­ner Tan­te, und dort habe ich am Fie­ber krank ge­le­gen, und er ist in mei­ner Ab­we­sen­heit ge­stor­ben. Ein Schlag­fluss hat ihm den Garaus ge­macht. Ich wün­sche dem Ver­stor­be­nen die ewi­ge Ruhe; aber er hat mich da­mals fast zu Tode ge­prü­gelt. Sie kön­nen es mir glau­ben, Fürst, bei Gott! Wäre ich da­mals nicht da­von­ge­lau­fen, so hät­te er mich auf dem Fleck tot­ge­schla­gen.«

»Hat­ten Sie ihn durch ir­gend et­was ge­reizt?« frag­te der Fürst und be­trach­te­te mit ei­nem ge­wis­sen be­son­de­ren In­ter­es­se den Mil­lio­när im Schaf­pelz.

Aber ob­gleich schon in dem Be­griff ei­ner zu er­ben­den Mil­li­on mög­li­cher­wei­se et­was Merk­wür­di­ges lag, so war da doch noch et­was an­de­res, was den Fürs­ten in Ver­wun­de­rung ver­setz­te und sein In­ter­es­se weck­te; und auch Ro­gos­hin selbst un­ter­hielt sich aus ir­gend­ei­nem Grund gern mit dem Fürs­ten, wie­wohl er an­schei­nend mehr ein me­cha­ni­sches als see­li­sches Be­dürf­nis nach Un­ter­hal­tung hat­te, so­zu­sa­gen mehr aus Zer­streut­heit als aus Gut­her­zig­keit, aus Un­ru­he und Auf­re­gung, um nur je­man­den an­zu­se­hen und über ir­gend­ei­nen Ge­gen­stand die Zun­ge in Be­we­gung zu set­zen. Es schi­en, dass er auch jetzt noch Fie­ber hat­te, we­nigs­tens in ei­nem ge­wis­sen Gra­de. Was den Be­am­ten an­langt, so hing die­ser or­dent­lich an Ro­gos­hins Mund, wag­te kaum zu at­men und fing je­des Wort auf und leg­te es gleich­sam auf die Waa­ge, als hiel­te er es für einen Bril­lan­ten.

»Er war zor­nig, ge­wiss, ja, und viel­leicht nicht ohne Grund«, ant­wor­te­te Ro­gos­hin, »aber wer sich am schlimms­ten ge­gen mich be­nahm, das war mein Bru­der. Von mei­ner Mut­ter will ich nichts sa­gen; sie ist eine alte Frau, liest die Le­bens­be­schrei­bun­gen der Hei­li­gen, sitzt mit al­ten Wei­bern zu­sam­men, und was Bru­der Sen­ka3 an­ord­net, das muss ge­sche­hen. Aber er, warum hat er mich sei­ner­zeit nicht be­nach­rich­tigt? Na, be­grei­fen lässt es sich schon! Es ist wahr, ich lag da­mals ohne Be­sin­nung. Und es war auch ein Te­le­gramm ab­ge­schickt, sa­gen sie. Und es ist auch ein Te­le­gramm bei der Tan­te an­ge­kom­men. Aber sie ist seit drei­ßig Jah­ren Wit­we und sitzt im­mer vom Mor­gen bis zum Abend mit Got­tes­nar­ren zu­sam­men. Sie ist bei­nah eine Non­ne, oder ei­gent­lich noch schlim­mer als eine Non­ne. Vor Te­le­gram­men hat sie von je­her Angst ge­habt, und so hat sie auch die­ses un­er­öff­net auf der Po­li­zei ab­ge­lie­fert, und da wird es wohl noch lie­gen. Erst Ko­new, Was­si­lij Was­sil­je­witsch Ko­new, hat sich mei­ner an­ge­nom­men und mir al­les ge­schrie­ben. Von der Bro­kat­de­cke auf dem Sar­ge des Va­ters hat der Bru­der bei Nacht die mas­siv gol­de­nen Quas­ten ab­ge­schnit­ten und ge­sagt: ›Die sind einen tüch­ti­gen Bat­zen Geld wert.‹ Schon al­lein da­für kann er nach Si­bi­ri­en kom­men, wenn ich will, denn das ist Hei­lig­tums­schän­dung. He, Sie Vo­gel­scheu­che!« wand­te er sich an den Be­am­ten. »Wie steht es im Ge­setz: ist das Hei­lig­tums­schän­dung?«

»Ja­wohl, Hei­lig­tums­schän­dung, Hei­lig­tums­schän­dung!« stimm­te ihm der Be­am­te so­gleich bei.

»Und kommt ei­ner da­für nach Si­bi­ri­en?«

»Ge­wiss, nach Si­bi­ri­en, nach Si­bi­ri­en! Ohne wei­te­res nach Si­bi­ri­en!«

»Bei mir zu Hau­se den­ken sie be­stimmt, dass ich noch krank sei«, fuhr Ro­gos­hin, zu dem Fürs­ten ge­wen­det, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sa­gen, ob­wohl ich noch nicht her­ge­stellt bin, still auf die Bahn ge­setzt und fah­re jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bru­der Sem­jon Sem­jo­no­witsch! Er hat mich bei mei­nem ver­stor­be­nen Va­ter ver­petzt, das weiß ich. Aber dass ich wirk­lich durch die Ge­schich­te mit Na­stas­ja Fil­ip­pow­na da­mals den Va­ter auf­ge­bracht habe, das ist wahr. Da habe ich al­lein schuld. Das habe ich in ei­nem Au­gen­blick der Un­be­dacht­sam­keit ge­tan.«

»Durch die Ge­schich­te mit Na­stas­ja Fil­ip­pow­na?« sag­te dir Be­am­te in krie­che­ri­schem Tone, wie wenn er et­was über­leg­te.

»Die Dame ken­nen Sie nicht!« schrie ihn Ro­gos­hin un­ge­dul­dig an.

»Und ich ken­ne sie doch!« er­wi­der­te der Be­am­te tri­um­phie­rend.

»Ach was! Es gibt vie­le Da­men, die Na­stas­ja Fil­ip­pow­na hei­ßen! Und ich muss sa­gen: was sind Sie für ein un­ver­schäm­tes Sub­jekt! Na, das habe ich doch gleich ge­wusst, dass sich ir­gend so ein Sub­jekt an mich hän­gen wird!« fuhr er, zum Fürs­ten ge­wen­det, fort.

»Aber viel­leicht ken­ne ich sie doch!« ver­setz­te der Be­am­te be­harr­lich. »Da müss­te ich nicht Le­be­dew sein, wenn ich sie nicht ken­nen soll­te! Euer Durch­laucht be­lie­ben mir einen Vor­wurf zu ma­chen; aber wie, wenn ich Ih­nen den Be­weis lie­fe­re? Also es ist die­sel­be Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, um de­rent­wil­len Ihr Va­ter Sie mit ei­nem Ha­sel­stock er­mah­nen woll­te; es ist Na­stas­ja Fil­ip­pow­na Ba­rasch­ko­wa, so­zu­sa­gen so­gar eine vor­neh­me Dame und in ih­rer Art eine Fürs­tin, und sie hat ein Ver­hält­nis mit ei­nem ge­wis­sen Toz­kij, mit Afa­nas­sij Iwa­no­witsch Toz­kij, aus­schließ­lich mit die­sem einen, ei­nem Guts­be­sit­zer und Groß­ka­pi­ta­lis­ten, Mit­glied ver­schie­de­ner Han­dels­ge­sell­schaf­ten, der in­fol­ge die­ser sei­ner kom­mer­zi­el­len Tä­tig­keit mit dem Ge­ne­ral Je­pant­schin in sehr freund­schaft­li­cher Be­zie­hung steht…«

»Na, nun sieh mal an!« rief Ro­gos­hin, wirk­lich er­staunt, aus. »Pfui Teu­fel, er weiß wahr­haf­tig ge­nau Be­scheid.«

»Er weiß al­les! Le­be­dew weiß al­les! Auch Alexasch­ka Li­di­at­schows Beglei­ter bin ich zwei Mo­na­te lang ge­we­sen, Euer Durch­laucht, und zwar eben­falls nach dem Tode sei­nes Va­ters, und ich ken­ne alle, ge­ra­de­zu alle sei­ne Heim­lich­kei­ten, und es kam so weit, dass er ohne mich kei­nen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuld­ge­fäng­nis; aber da­mals hat­te ich Ge­le­gen­heit, auch Fräu­lein Ar­man­ce und Fräu­lein Cora­lie und die Fürs­tin Paz­ka­ja und Na­stas­ja Fil­ip­pow­na ken­nen­zu­ler­nen, und auch vie­les, vie­les zu er­fah­ren, hat­te ich Ge­le­gen­heit.«

»Na­stas­ja Fil­ip­pow­na? Hat sie etwa mit Lichat­schow…«, rief Ro­gos­hin und blick­te den Re­den­den böse an; so­gar sei­ne Lip­pen wa­ren blass ge­wor­den und zit­ter­ten.

»N-ein! N-ein! Ent­schie­den nein!« be­eil­te sich der Be­am­te, schnell ge­fasst, zu er­wi­dern. »Bei der konn­te Lichat­schow durch kein Geld zum Zie­le ge­lan­gen! Nein, die ist von an­de­rer Art als Fräu­lein Ar­man­ce. Da ist Toz­kij der ein­zi­ge. Abends sitzt sie im Gro­ßen Thea­ter oder im Fran­zö­si­schen Thea­ter in ih­rer ei­ge­nen Loge. Die Of­fi­zie­re re­den ja da un­ter sich al­ler­lei; aber auch die kön­nen nichts be­wei­sen. ›Da ist die be­rühm­te Na­stas­ja Fil­ip­pow­na‹, sa­gen sie, aber das ist auch al­les; sonst ist da nichts zu sa­gen! Weil eben nichts vor­liegt.«

»Ja, so ver­hält sich das al­les«, be­stä­tig­te Ro­gos­hin mit trüber, fins­te­rer Mie­ne. »Auch Sal­joshew hat es mir da­mals ge­sagt. Ich ging da­mals, Fürst, in ei­nem Schnur­rock, den mein Va­ter schon vor zwei Jah­ren ab­ge­legt hat­te, über den New­skij Pro­spekt, und sie kam aus ei­nem La­den her­aus und stieg in ih­ren Wa­gen. Da stand ich auf der Stel­le in Flam­men. Ich be­geg­ne­te mei­nem Freun­de Sal­joshew; der sah an­ders aus als ich; er geht wie ein Fri­seur­ge­hil­fe, im­mer die Lor­gnet­te im Auge; wir aber muss­ten bei un­serm Va­ter in Schmiers­tie­feln ge­hen und uns mit fas­ten­mä­ßi­ger Kohl­sup­pe amü­sie­ren. ›Die ist nichts für dich‹, sag­te er; ›das ist‹, sag­te er, ›ei­ne Fürs­tin, sie heißt Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, mit dem Fa­mi­li­enna­men Ba­rasch­ko­wa, und lebt mit Toz­kij; Toz­kij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr los­kom­men soll, weil er näm­lich schon ganz in die so­li­den Jah­re hin­ein­ge­kom­men ist (er ist fünf­und­fünf­zig alt) und eine der ers­ten Schön­hei­ten von Pe­ters­burg hei­ra­ten will.‹ Dann teil­te er mir noch mit, dass ich Na­stas­ja Fil­ip­pow­na an dem­sel­ben Tage im Gro­ßen Thea­ter wie­der­se­hen kön­ne, im Bal­lett; sie wer­de in ih­rer Par­ter­re­lo­ge sit­zen. Bei uns zu Hau­se, bei un­serm Va­ter, da hät­te es mal ei­ner pro­bie­ren sol­len und sa­gen, er wol­le ins Bal­lett ge­hen; der Va­ter hät­te kur­z­en Pro­zess ge­macht und ihn halb­tot ge­prü­gelt! Ich schlich mich in­des­sen still für ein Stünd­chen weg und sah Na­stas­ja Fil­ip­pow­na wie­der. Die gan­ze fol­gen­de Nacht konn­te ich nicht schla­fen. Am an­de­ren Mor­gen gab mir der Va­ter zwei fünf­pro­zen­ti­ge Staats­schuld­schei­ne, je­den zu fünf­tau­send Ru­bel, und sag­te: ›Geh hin und ver­kau­fe sie; dann tra­ge sie­ben­tau­send­fünf­hun­dert Ru­bel zu An­dre­jew aufs Kon­tor und be­zah­le sie dort; und was du von den zehn­tau­send noch üb­rig hast, das bring ge­ra­des­wegs hier­her und lie­fe­re es mir ab; ich wer­de auf dich war­ten.‹ Die Staats­schuld­schei­ne ver­kauf­te ich und emp­fing das Geld da­für; aber zu An­dre­jew aufs Kon­tor be­gab ich mich nicht, son­dern ich ging, ohne mich um­zu­se­hen, nach dem Eng­li­schen Ma­ga­zin und such­te dort für das gan­ze Geld ein Paar Ohr­ge­hän­ge aus, je­des mit ei­nem Bril­lan­ten fast von Nuss­grö­ße; vier­hun­dert Ru­bel blieb ich noch schul­dig; ich nann­te mei­nen Na­men, und man gab mir Kre­dit. Mit den Ohr­ge­hän­gen ging ich gleich zu Sal­joshew: ›So und so, Bru­der‹, sag­te ich, ›wir wol­len zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na ge­hen.‹ Wir gin­gen hin. Was ich da­mals un­ter den Fü­ßen und vor mir und rechts und links hat­te, weiß ich nicht; dar­an habe ich kei­ne Erin­ne­rung. Wir tra­ten bei ihr gleich in den Sa­lon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ üb­ri­gens da­mals nicht be­kannt wer­den, dass ich selbst der Ge­ber sei, son­dern Sal­joshew sag­te: ›Von Par­fen Ro­gos­hin, der Sie ges­tern ge­se­hen hat, ein klei­nes An­den­ken; ha­ben Sie die Ge­wo­gen­heit, es an­zu­neh­men!‹ Sie öff­ne­te das Etui, be­trach­te­te den Schmuck und lä­chel­te. ›Sa­gen Sie Ihrem Freund Herrn Ro­gos­hin mei­nen Dank‹, sag­te sie, ›für sei­ne lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit!‹ Dann ver­neig­te sie sich und ging hin­aus. Na, warum bin ich da­mals nicht dort auf dem Fleck ge­stor­ben! Aber wenn ich fort­ging, so tat ich es mit dem Ge­dan­ken: ›Le­ben­dig kom­me ich doch nie wie­der her!‹ Was ich aber am schwers­ten als Krän­kung emp­fand, das war, dass die­se Ka­nail­le, der Sal­joshew, sich an­ge­maßt hat­te, al­les al­lein zu re­den und zu tun. Ich bin von klei­ner Sta­tur und war wie ein Ple­be­jer ge­klei­det und hat­te da­ge­stan­den, sie an­ge­st­arrt und ge­schwie­gen, weil ich mich schäm­te; er aber in mo­di­schem An­zug, mit po­ma­di­sier­tem und ge­kräu­sel­tem Haar, mit sei­nem fri­schen Teint und sei­ner ka­rier­ten Kra­wat­te hat­te den Lie­bens­wür­di­gen ge­spielt und ein Mal über das an­de­re ge­die­nert, und al­ler Wahr­schein­lich­keit nach hat­te sie ihn für mich ge­nom­men! ›Na‹ sag­te ich, als wir hin­aus­ge­gan­gen wa­ren, ›du wage nicht, dich wie­der bei mir bli­cken zu las­sen, ver­stehst du?‹ Er lach­te: ›A­ber wie wirst du jetzt vor dei­nem Va­ter Sem­jon Par­fe­nytsch Re­chen­schaft ab­le­gen?‹ Die Wahr­heit zu sa­gen, ich hat­te da­mals schon vor, ohne erst nach Hau­se zu ge­hen, mich ins Was­ser zu stür­zen; aber ich dach­te: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehr­te wie ein ar­mer Sün­der nach Hau­se zu­rück.«

»O weh, o weh!« sag­te der Be­am­te und schnitt da­bei eine Gri­mas­se; ja er schüt­tel­te sich so­gar mit dem gan­zen Lei­be. »Und der Se­li­ge war im­stan­de, nicht nur we­gen zehn­tau­send, son­dern schon we­gen zehn Ru­bel einen ins Jen­seits zu spe­die­ren.« Er nick­te dem Fürs­ten zu. Der Fürst sah Ro­gos­hin mit leb­haf­tem In­ter­es­se an; es schi­en, als sei der in die­sem Au­gen­blick noch blas­ser.

»Dazu war er im­stan­de!« wie­der­hol­te Ro­gos­hin. »Aber was wis­sen Sie da­von?« Dann er­zähl­te er dem Fürs­ten wei­ter: »Er er­fuhr so­gleich al­les; Sal­joshew hat­te es je­dem, der ihm be­geg­ne­te, aus­ge­schwatzt. Der Va­ter nahm mich, schloss mich im obe­ren Stock­werk ein und prü­gel­te mich eine gan­ze Stun­de lang. ›Und das ist nur eine Vor­be­rei­tung für dich‹, sag­te er. ›Heu­te Abend kom­me ich, um dir gute Nacht zu sa­gen.‹ Soll­te man’s glau­ben? Der alte Mann fuhr zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na, ver­beug­te sich tief vor ihr und fleh­te sie un­ter Trä­nen an; end­lich hol­te sie ihm das Etui her­bei, warf es ihm hin und sag­te: ›Da hast du dei­ne Ohr­rin­ge, al­ter Grau­bart; sie sind für mich jetzt um das Zehn­fa­che im Wert ge­stie­gen, nun ich weiß, dass Par­fen sie ei­nem so stren­gen Va­ter zum Trotz be­schafft hat. Grü­ße Par­fen Sem­jonytsch von mir und be­stel­le ihm mei­nen Dank!‹ Na, ich hat­te un­ter­des­sen mich von mei­ner Mut­ter seg­nen las­sen und mir von Ser­gej Pro­tu­schin zwan­zig Ru­bel ge­borgt; da­mit setz­te ich mich auf die Bahn und fuhr nach Ps­kow, wo ich fie­bernd an­kam. Dort lang­weil­ten mich die al­ten Frau­en durch das Vor­le­sen von Ge­be­ten aus dem Kir­chen­ka­len­der rein zu Tode, und ich saß be­trun­ken da­bei; als ich mein letz­tes Geld in den Knei­pen ver­trun­ken hat­te, lag ich die gan­ze Nacht be­wusst­los auf der Stra­ße, und am Mor­gen hat­te ich dann das Fie­ber; und au­ßer­dem hat­ten mich in der Nacht auch noch die Hun­de an­ge­fres­sen. Nur mit Mühe habe ich mich er­holt.«

»Nun, nun, jetzt wird aber Na­stas­ja Fil­ip­pow­na in ei­ner an­de­ren Ton­art zu uns re­den!« ki­cher­te der Be­am­te und rieb sich da­bei die Hän­de. »Was ist jetzt an je­nem Ohr­ge­hän­ge ge­le­gen, mein Herr! Jetzt wer­den wir ihr sol­che Ohr­ge­hän­ge zum Er­satz schen­ken, dass…«

»Hö­ren Sie mal, wenn Sie nur noch ein ein­zi­ges Mal ein Wort über Na­stas­ja Fil­ip­pow­na sa­gen, dann gna­de Ih­nen Gott! Ich wer­de Sie durch­prü­geln, wenn Sie auch mit Lichat­schow ver­kehrt ha­ben!« schrie Ro­gos­hin und pack­te ihn kräf­tig am Kra­gen.

»Aber wenn Sie mich durch­prü­geln, so be­deu­tet das, dass Sie mich nicht von sich sto­ßen! Prü­geln Sie mich! Gera­de da­durch ge­win­nen Sie mich zum Freun­de! Wenn Sie mich durch­ge­hau­en ha­ben, so ha­ben Sie ge­ra­de da­durch un­se­re Freund­schaft be­sie­gel­t… Aber da sind wir an­ge­langt!«

Sie fuh­ren tat­säch­lich in den Bahn­hof ein. Ob­gleich Ro­gos­hin ge­sagt hat­te, dass er ganz in der Stil­le ab­ge­reist sei, er­war­te­ten ihn doch schon meh­re­re Men­schen. Sie rie­fen und wink­ten ihm mit den Müt­zen.

»Nun sieh mal, Sal­joshew ist auch da!« mur­mel­te Ro­gos­hin, in­dem er mit ei­nem tri­um­phie­ren­den, so­gar et­was bos­haf­ten Lä­cheln nach ih­nen hin­blick­te; dann wand­te er sich auf ein­mal zum Fürs­ten. »Fürst, ich weiß nicht, wes­we­gen ich dich lieb­ge­won­nen habe. Vi­el­leicht, weil ich dich in ei­nem sol­chen Au­gen­blick ge­trof­fen habe; aber den hier habe ich doch auch ge­trof­fen« (er wies auf Le­be­dew), »und den habe ich nicht lieb­ge­won­nen. Komm zu mir, Fürst! Wir wer­den dir die­se Ga­ma­schen aus­zie­hen; ich wer­de dir den bes­ten Mar­der­pelz kau­fen, dir den schöns­ten Frack ma­chen las­sen, eine wei­ße Wes­te oder was für eine du sonst wünschst; ich wer­de dir die Ta­schen voll Geld stop­fen, und… dann wol­len wir zu Na­stas­ja Fil­ip­pow­na fah­ren! Wirst du kom­men oder nicht?«

»Ge­hen Sie dar­auf ein, Fürst Lew Ni­ko­la­je­witsch!« füg­te Le­be­dew in ein­dring­li­chem, fei­er­li­chem Tone hin­zu. »Las­sen Sie sich das ja nicht ent­ge­hen! Las­sen Sie sich das ja nicht ent­ge­hen!«

Fürst Mysch­kin stand auf, streck­te Ro­gos­hin höf­lich die Hand hin und sag­te freund­lich zu ihm:

»Ich wer­de mit dem größ­ten Ver­gnü­gen kom­men und dan­ke Ih­nen herz­lich da­für, dass Sie mich lieb­ge­won­nen ha­ben. Ich wer­de so­gar viel­leicht heu­te schon kom­men, wenn ich Zeit fin­de. Denn ich sage Ih­nen auf­rich­tig: auch Sie ha­ben mir sehr ge­fal­len, und be­son­ders als Sie von den Bril­lan­tohr­ge­hän­gen er­zähl­ten. Aber auch schon vor den Ohr­ge­hän­gen ha­ben Sie mir ge­fal­len, ob­wohl Sie eine so düs­te­re Mie­ne ha­ben. Ich dan­ke Ih­nen auch für die ver­spro­che­nen Klei­der und den Pelz; denn ich wer­de wirk­lich Klei­der und einen Pelz bald nö­tig ha­ben. An Geld be­sit­ze ich in die­sem Au­gen­blick kaum eine Kope­ke.«

»Geld wird da­sein, zum Abend wird Geld da­sein; komm nur!«

»Es wird da­sein, wird da­sein«, echo­te der Be­am­te. »Zum Abend, noch vor Son­nen­un­ter­gang, wird wel­ches da­sein!«

»Sind Sie ein großer Freund des weib­li­chen Ge­schlechts, Fürst? Sa­gen Sie es mir schon vor­her!«

»Ich? N-n-nein! Ich bin ja… Sie wis­sen viel­leicht nicht, ich ken­ne ja in­fol­ge mei­ner an­ge­bo­re­nen Krank­heit die Frau­en über­haupt nicht.«

»Nun, wenn’s so ist«, rief Ro­gos­hin, »so bist du ja ein rich­ti­ger Got­tes­narr, Fürst, und sol­che Men­schen wie dich liebt Gott.«

»Und sol­che Men­schen liebt Gott der Herr«, wie­der­hol­te der Be­am­te.

»Und Sie kön­nen mir fol­gen, Sie Schmeiß­flie­ge!« sag­te Ro­gos­hin zu Le­be­dew, und alle ver­lie­ßen den Bahn­wa­gen.

Le­be­dew hat­te also schließ­lich doch sein Ziel er­reicht. Bald ent­fern­te sich der lär­men­de Hau­fe in Rich­tung des Wos­nes­sens­kij Pro­spekts. Der Fürst muss­te sich nach der Li­te­jna­ja wen­den. Es war feucht und nass; der Fürst er­kun­dig­te sich bei Vor­über­ge­hen­den: er hör­te, dass es bis zum Ende sei­nes We­ges etwa drei Werst4 sei­en, und ent­schied sich da­für, eine Drosch­ke zu neh­men.


  1. Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

  2. Kann hei­ßen: »die Letz­te ih­res Ge­schlech­tes« oder »die Ge­rings­te von ih­rer Sor­te«. (A.d.Ü.)  <<<

  3. Ver­klei­ne­rungs­form von Sem­jon. (A.d.Ü.)  <<<

  4. Russ. Weg­maß, 1 Werst en­spricht etwa 1 km  <<<

II

Der Ge­ne­ral Je­pant­schin wohn­te in sei­nem ei­ge­nen Hau­se, et­was seit­wärts von der Li­te­jna­ja, nach der Preo­bras­hens­kij-Ka­the­dra­le zu. Au­ßer die­sem statt­li­chen Hau­se, von dem fünf Sechs­tel ver­mie­tet wa­ren, be­saß Ge­ne­ral Je­pant­schin noch ein ge­wal­ti­ges Haus in der Sa­do­wa­ja, das gleich­falls einen sehr ho­hen Er­trag brach­te. Au­ßer die­sen bei­den Häu­sern hat­te er dicht bei Pe­ters­burg ein sehr be­deu­ten­des, ein­träg­li­ches Gut und fer­ner im Pe­ters­bur­ger Krei­se eine Fa­brik. In frü­he­ren Zei­ten hat­te Ge­ne­ral Je­pant­schin, wie all­ge­mein be­kannt war, sich auch an Brannt­wein­pach­tun­gen be­tei­ligt. Jetzt war er Mit­glied meh­re­rer so­li­der Ak­ti­en­ge­sell­schaf­ten und hat­te dort eine sehr ge­wich­ti­ge Stim­me. Er galt als ein Mann mit großem Ver­mö­gen, aus­ge­dehn­ter Tä­tig­keit und ein­fluss­rei­chen Ver­bin­dun­gen. An man­chen Stel­len hat­te er es ver­stan­den, sich völ­lig un­ent­behr­lich zu ma­chen, un­ter an­derm auch in sei­nem Dienst. Aber da­ne­ben war auch be­kannt, dass Iwan Fjo­do­ro­witsch Je­pant­schin ein Mann ohne Bil­dung war, der Sohn ei­nes ge­mei­nen Sol­da­ten; dies konn­te ihm ohne Zwei­fel nur zur Ehre ge­rei­chen, aber ob­gleich der Ge­ne­ral ein ver­stän­di­ger Mensch war, so war er doch nicht frei von klei­nen, sehr ver­zeih­li­chen Schwä­chen und lieb­te es nicht, dass je­mand auf ge­wis­se Din­ge an­spiel­te. Aber ein ver­stän­di­ger, ge­wand­ter Mensch war er un­strei­tig. So zum Bei­spiel be­folg­te er den Grund­satz, sich nicht vor­zu­drän­gen, wo es zweck­mä­ßig war, in den Hin­ter­grund zu tre­ten, und vie­le schätz­ten ihn ge­ra­de we­gen sei­ner Sch­licht­heit, ge­ra­de des­we­gen, weil er im­mer sei­nen Platz kann­te. Wenn in­des­sen die­se Be­ur­tei­ler nur ge­se­hen hät­ten, was manch­mal in Iwan Fjo­do­ro­witschs See­le vor­ging, der sei­nen Platz so gut kann­te! Ob­wohl er wirk­lich große Ge­schick­lich­keit und Er­fah­rung in ir­di­schen Din­gen und man­che be­ach­tens­wer­te Fä­hig­kei­ten be­saß, so ver­mied er es doch, als der geis­ti­ge Ur­he­ber ei­nes Pla­nes zu er­schei­nen, und tat lie­ber so, als füh­re er nur eine frem­de Idee aus; er gab sich als ein Mann, der »ohne Krie­che­rei treu er­ge­ben« ist, und (wozu lässt man sich nicht durch die Zeit­ver­hält­nis­se brin­gen?) so­gar als ech­ter Rus­se. In letz­te­rer Hin­sicht ge­sch­a­hen mit ihm so­gar ei­ni­ge amüsan­te Ge­schich­ten; aber der Ge­ne­ral ließ nie den Kopf hän­gen, auch bei den ko­mischs­ten Vor­fäl­len nicht; au­ßer­dem hat­te er Glück, so­gar im Kar­ten­spiel, und er spiel­te au­ßer­or­dent­lich hoch und ver­barg ab­sicht­lich nicht die­se klei­ne (wenn man will) Schwä­che, die ihm in vie­len Fäl­len so we­sent­li­chen Nut­zen brach­te, son­dern kehr­te sie viel­mehr her­aus. Die ge­sell­schaft­li­chen Krei­se, in de­nen er ver­kehr­te, wa­ren von sehr ver­schie­de­ner Art, selbst­ver­ständ­lich je­doch sämt­lich »durch­aus an­stän­dig«. Aber es lag noch eine große Zu­kunft vor ihm; er konn­te ab­war­ten, konn­te noch sehr ab­war­ten, und al­les muss­te zur rech­ten Zeit und in der rich­ti­gen Ord­nung kom­men. Auch was sein Le­bensal­ter an­lang­te, be­fand sich Ge­ne­ral Je­pant­schin noch, wie man so zu sa­gen pflegt, in den bes­ten Jah­ren, das heißt er war sechs­und­fünf­zig Jah­re alt, nicht äl­ter, was je­den­falls ein blü­hen­des Le­bensal­ter dar­stellt, ein Le­bensal­ter, von dem ei­gent­lich erst das rich­ti­ge Le­ben be­ginnt. Sei­ne Ge­sund­heit, sei­ne fri­sche Ge­sichts­far­be, die kräf­ti­gen, wenn auch schwar­zen Zäh­ne, der stäm­mi­ge, un­ter­setz­te Kör­per­bau, der erns­te Aus­druck mor­gens im Diens­te und die hei­te­re Mie­ne abends beim Kar­ten­spiel oder bei sei­ner Er­laucht: all dies trug zu sei­nen ge­gen­wär­ti­gen und künf­ti­gen Er­fol­gen bei und be­streu­te den Le­bens­weg Sei­ner Ex­zel­lenz mit Ro­sen.

Der Ge­ne­ral er­freu­te sich ei­ner blü­hen­den Fa­mi­lie. Al­ler­dings gab es hier für ihn nicht lau­ter Ro­sen; aber da­für war so man­ches da, wor­auf schon seit län­ge­rer Zeit die wich­tigs­ten Hoff­nun­gen und Be­stre­bun­gen Sei­ner Ex­zel­lenz in erns­ter, herz­li­cher Emp­fin­dung ge­rich­tet wa­ren. Und wel­che Be­stre­bun­gen im Le­ben könn­ten auch wich­ti­ger und hei­li­ger sein als die el­ter­li­chen? Woran soll je­mand sein Herz hän­gen, wenn nicht an die Fa­mi­lie? Die Fa­mi­lie des Ge­ne­rals be­stand aus sei­ner Gat­tin und drei er­wach­se­nen Töch­tern. Der Ge­ne­ral hat­te in sehr ju­gend­li­chem Al­ter ge­hei­ra­tet, als er noch im Ran­ge ei­nes Leut­nants stand, und zwar ein mit ihm fast gleich­alt­ri­ges Mäd­chen, das we­der Schön­heit noch Bil­dung be­saß und ihm nur fünf­zig See­len mit­brach­te, die al­ler­dings als Grund­la­ge für die wei­te­re güns­ti­ge Ent­wick­lung sei­ner Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se dienten. Aber der Ge­ne­ral murr­te in der Fol­ge­zeit nie über sei­ne frü­he Hei­rat, be­trach­te­te sie nie als einen un­glück­li­chen Ju­gend­streich, und sei­ne Gat­tin schätz­te er so hoch und fürch­te­te sich vor ihr manch­mal so sehr, dass er sie so­gar lieb­te. Die Ge­ne­ra­lin stamm­te aus der fürst­li­chen Fa­mi­lie Mysch­kin, ei­ner zwar nicht glän­zen­den, aber sehr al­ten Fa­mi­lie, und war auf ihre Her­kunft sehr stolz. Eine da­mals ein­fluss­rei­che Per­sön­lich­keit, ei­ner je­ner Gön­ner, wel­che die Gön­ner­schaft nichts kos­tet, hat­te die Freund­lich­keit, sich für die Ehe der jun­gen Prin­zes­sin zu in­ter­es­sie­ren. Er öff­ne­te dem jun­gen Of­fi­zier ein Tür­chen zur Kar­rie­re und gab ihm einen Stoß nach vor­wärts; der aber hät­te gar nicht ein­mal ei­nes Sto­ßes, son­dern nur ei­nes ein­zi­gen Gna­den­blickes be­durft – er wäre nicht zu­grun­de ge­gan­gen. Von we­ni­gen Aus­nah­men ab­ge­se­hen, ver­leb­ten die Gat­ten die gan­ze Zeit ih­rer lan­gen Ehe in vol­ler Ein­mü­tig­keit. Schon in sehr jun­gen Jah­ren hat­te es die Ge­ne­ra­lin ver­stan­den, als eine ge­bo­re­ne Prin­zes­sin und als die Letz­te ih­res Ge­schlechts, viel­leicht auch durch ihre per­sön­li­chen Ei­gen­schaf­ten, ei­ni­ge sehr hoch­ge­stell­te Gön­ne­rin­nen zu fin­den. In der Fol­ge­zeit be­gann sie bei dem Reich­tum und dem be­deu­ten­den Dien­strang ih­res Gat­ten sich in die­sem ho­hen Kreis so­gar ei­ni­ger­ma­ßen ein­zu­le­ben.

In die­sen letz­ten Jah­ren wa­ren die Ge­ne­ral­stöch­ter alle drei her­an­ge­wach­sen und her­an­ge­reift: Alex­an­dra, Ade­lai­da und Agla­ja. Al­ler­dings tru­gen sie alle drei nur den Na­men Je­pant­schin; aber müt­ter­li­cher­seits wa­ren sie doch von fürst­li­cher Ab­kunft; sie hat­ten eine be­deu­ten­de Mit­gift und einen Va­ter, der viel­leicht Aus­sicht hat­te, spä­ter noch eine sehr hohe Stel­le zu er­hal­ten, und, was eben­falls sehr wich­tig war, sie wa­ren alle drei recht hübsch, auch die äl­tes­te, Alex­an­dra, nicht aus­ge­nom­men, die be­reits fünf­und­zwan­zig Jah­re alt war. Die mitt­le­re war drei­und­zwan­zig, und die jüngs­te, Agla­ja, eben erst zwan­zig ge­wor­den. Die­se jüngs­te war so­gar eine wirk­li­che Schön­heit und be­gann schon in der Ge­sell­schaft großes Auf­se­hen zu er­re­gen. Aber auch das war noch nicht al­les: alle drei zeich­ne­ten sich durch Bil­dung, Ver­stand und Ta­len­te aus. Es war be­kannt, dass sie ein­an­der in­nig lieb­ten und sich ge­gen­sei­tig in je­der Hin­sicht be­hilf­lich wa­ren. Man sprach so­gar von ge­wis­sen Op­fern, die die bei­den äl­te­ren zu­guns­ten der jüngs­ten, die der Ab­gott des gan­zen Hau­ses war, ge­bracht ha­ben soll­ten. In Ge­sell­schaft neig­ten sie nicht dazu, sich vor­zu­drän­gen, son­dern wa­ren so­gar all­zu be­schei­den. Nie­mand konn­te ih­nen den Vor­wurf der Hoff­art oder des Dün­kels ma­chen; aber doch wuss­te man, dass sie ih­ren Stolz hat­ten und ih­ren ei­ge­nen Wert kann­ten. Die äl­tes­te war mu­si­ka­lisch, die mitt­le­re eine be­gab­te Ma­le­rin; aber da­von wuss­te vie­le Jah­re lang fast nie­mand, und es war erst in der letz­ten Zeit und nur zu­fäl­lig an die Öf­fent­lich­keit ge­kom­men. Kurz, es wur­de über sie au­ßer­or­dent­lich viel Lo­ben­des ge­spro­chen. In­des­sen fehl­te es auch nicht an Übel­wol­len­den. Mit Schre­cken re­de­ten die­se da­von, wie vie­le Bü­cher die jun­gen Da­men ge­le­sen hät­ten. Mit dem Hei­ra­ten hat­ten sie es nicht ei­lig; sie leg­ten zwar Wert auf den Ver­kehr in ei­nem ge­wis­sen Ge­sell­schafts­krei­se, aber al­les nur mit Ma­ßen. Das war umso be­mer­kens­wer­ter, als je­der­mann die Rich­tung, den Cha­rak­ter, die Zie­le und die Wün­sche ih­res Va­ters kann­te.

Es war schon ge­gen elf Uhr, als der Fürst an der Woh­nung des Ge­ne­rals klin­gel­te. Der Ge­ne­ral wohn­te im zwei­ten Stock­werk und hat­te eine ziem­lich be­schei­de­ne, wie­wohl sei­nem Ran­ge ent­spre­chen­de Woh­nung. Dem Fürs­ten wur­de von ei­nem Die­ner in Li­vree ge­öff­net, und es be­durf­te lan­ger Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit die­sem Men­schen, der ihn und sein Bün­del­chen gleich von An­fang an miss­trau­isch be­trach­te­te. End­lich, nach­dem er ihm wie­der­holt auf das be­stimm­tes­te er­klärt hat­te, dass er wirk­lich Fürst Mysch­kin sei und un­be­dingt den Ge­ne­ral in ei­ner not­wen­di­gen An­ge­le­gen­heit spre­chen müs­se, führ­te ihn der er­staun­te Die­ner in ein klei­nes Vor­zim­mer vor dem ei­gent­li­chen, beim Ar­beits­zim­mer ge­le­ge­nen Empfangs­zim­mer und übergab ihn dort ei­nem an­de­ren Die­ner, der vor­mit­tags in die­sem Vor­zim­mer den Dienst ver­sah und dem Ge­ne­ral die Be­su­cher an­zu­mel­den hat­te. Die­ser zwei­te Die­ner trug einen Frack, war über vier­zig Jah­re alt und hat­te eine erns­te, wich­ti­ge Mie­ne; er stand Sei­ner Ex­zel­lenz zur spe­zi­el­len Ver­fü­gung, wenn der­sel­be sich im Ar­beits­zim­mer be­fand, und war sich in­fol­ge­des­sen sei­nes Wer­tes be­wusst.

»War­ten Sie im Empfangs­zim­mer, und las­sen Sie Ihr Bün­del­chen hier!« sag­te er, in­dem er sich lang­sam und wür­de­voll in sei­nen Lehn­stuhl setz­te und mit ei­nem stren­gen, er­staun­ten Blick den Fürs­ten an­sah, der sich ebendort mit sei­nem Bün­del­chen in der Hand ne­ben ihm auf einen Stuhl nie­der­ließ.

»Wenn Sie er­lau­ben«, sag­te der Fürst, »möch­te ich lie­ber hier bei Ih­nen war­ten; was soll ich dort so ganz al­lein?«

»Im Vor­zim­mer kön­nen Sie nicht blei­ben, da Sie ein Be­su­cher, das heißt ein Gast, sind. Wol­len Sie zum Ge­ne­ral selbst?«

Der Die­ner konn­te sich of­fen­bar nicht mit dem Ge­dan­ken be­freun­den, dass er einen sol­chen Be­su­cher vor­las­sen sol­le, und hielt es da­her für gut, ihn noch ein­mal zu fra­gen.

»Ja, ich habe ein An­lie­gen…«, be­gann der Fürst.

»Ich fra­ge Sie nicht, von wel­cher Art Ihr An­lie­gen ist; mei­ne Sa­che ist nur, Sie zu mel­den. Aber ohne den Se­kre­tär kann ich nicht hin­ge­hen und Sie mel­den.«

Das Miss­trau­en die­ses Man­nes schi­en im­mer mehr zu wach­sen: der Fürst war doch auch dem Typ der täg­li­chen Be­su­cher gar zu un­ähn­lich. Zwar kam es ziem­lich oft, fast täg­lich, zu be­stimm­ter Stun­de vor, dass der Ge­ne­ral, na­ment­lich in Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten, Gäs­te emp­fing, die manch­mal sehr ver­schie­den­ar­tig aus­sa­hen; aber trotz die­ser Ge­wohn­heit und der recht weit­her­zi­gen In­struk­ti­on war der Kam­mer­die­ner in großem Zwei­fel; die Ver­mitt­lung des Se­kre­tärs schi­en ihm für die An­mel­dung doch un­um­gäng­lich not­wen­dig.

»Sind Sie wirk­lich… aus dem Aus­land ge­kom­men?« frag­te er schließ­lich fast un­will­kür­lich und wur­de da­bei ver­le­gen. Er woll­te viel­leicht fra­gen: ›Sind Sie wirk­lich Fürst Mysch­kin?‹

»Ja, ich kom­me di­­­­­­­­