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Daheim im Nirgendwo       Reihe: ZΩH / ZOE

 

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2011

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2011

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte Vorbehalten.

ISBN: 978-3-942223-05-8

eISBN: 978-3-942223-57-7

Katerina Metallinou-Kiess

Daheim

im Nirgendwo

Ein europäischer Lebensweg

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IMPRESSUM

Daheim im Nirgendwo

Reihe: ZΩH / ZOE

Autorin

Katerina Metallinou-Kiess

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

Peter Sarowy

Coverbilder

Katerina Metallinou-Kiess

Lektorat

August-Paul Sonnemann

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Oktober 2011

ISBN: 978-3-942223-05-8

eISBN: 978-3-942223-57-7

I N H A L T

VORWORT

ERINNERUNG

SEIN

KORAKIÁNA

SPIELEN

NATUR

ANDROMÁCHI

UMFELD

IN DER STADT

IM SCHULLANDHEIM

AM GYMNASIUM

OMA AGNÍS TOD

PUBERTÄT

EINE ENTSCHEIDUNG

LADY VIRGINIA

ATHEN

THESSALONIKI

WILLY

SCHWEIZ

BERLIN

BAD HOMBURG

TUNESIEN

FRANKFURT AM MAIN

MUTTER WERDEN

BRAUNSCHWEIG

POLÝDOROS TOD

UNSICHERHEIT

EIN KIND, ZWEI KULTUREN

INTEGRATION

BESUCH

IN WEISS

DANIEL

IM BERUF

ANDROMÁCHIS TOD

ALICE

LICHT

RUHESTAND

NEUE ALTE HEIMAT

KORFU

BAD WÖRISHOFEN

GENIESSEN

SCHLUSSWORTE

BIOGRAPHISCHES

Für

Roxáni und Aléxandros,

Christopher und Eléni

Alle Namen in dieser Erzählung sind von der Autorin frei erfunden.

Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

VORWORT

Wenn ein Grieche seine Heimat mit ihrem strahlenden Licht, dem nach Thymian duftenden Wind und den wilden Bergen, umgeben von tiefblauem Meer verlässt, muss er einen triftigen Grund dafür haben.

So kamen in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Tausende von Griechen nach West- und Mitteleuropa, um ihr Glück zu suchen und ihre Lebensumstände zu verbessern. Denn der erste Weltkrieg, die ›Katastrophe von Kleinasien‹ mit der Umsiedlung der kleinasiatischen Griechen auf die Inseln und das Festland, der Zweite Weltkrieg mit seinen Zerstörungen und Massakern und der brudermordende Bürgerkrieg, der ihm folgte, hatten das Land und seine Menschen schier ausbluten lassen.

Viele Griechen sind dem Ruf Europas nach Arbeitskräften gefolgt und haben versucht, sich in Deutschland eine sichere Existenz aufzubauen. Viele haben Familien gegründet und sind mit ihnen hiergeblieben. Die meisten sind, nach Jahren harter Arbeit für den deutschen Staat, als alte Menschen wieder zurückgekehrt. Manche auch ohne ihre Kinder und Enkel. Nicht wenige pendeln zwischen Deutschland und Griechenland hin und her.

Ihnen allen gemeinsam ist ein Gefühl der Entwurzelung, eine Schwermut, eine Sehnsucht nach der Heimat, die sie vielleicht gar nicht kannten. Einer Heimat, die sich vielleicht so verändert hat, dass sie kaum wieder zu erkennen ist. Auf Griechisch nennt man diesen Schmerz Nostalgía. Ein schwer zu beschreibendes Leiden, ein Wunsch nach Heimkehr, auch ohne konkreten Ort.

Vom Leben einer Heimkehrerin erzählt die Geschichte der Griechin Katrina, die sich wirklich so ereignet hat. Sie hat nie ihr Ziel aus den Augen verloren und hat nach vielen Prüfungen erkannt, dass ihre wahren Ressourcen Bildung und Persönlichkeit sind. So hat sie, allen Umständen zum Trotz, das Beste aus ihrem Schicksal gemacht. Doch obwohl sie die Leiter des Erfolgs empor geklettert und als Künstlerin und pensionierte Staatsbedienstete wieder zurück gekehrt ist nach Griechenland, bleibt ihr diese Sehnsucht: Nach der Heimat - wo immer sie sein mag - und nach den Jahren, die vergangen sind.

Elena Cacavas (M.A.), Frankfurt am Main, Juli 2011

ERINNERUNG

Im Garten von Katrinas Schwester Philoména blühte gerade die Magnolie. Eine große Magnolienblüte schmückte den Esstisch, sie erfüllte den Raum mit ihrem unvergleichlichen Aroma. Katrina kommentierte den paradiesischen Wohlgeruch, der die Erinnerung an vergangene Ferienzeiten auf der Insel wachrief. Wenn sie diese Blüte roch, übermannte sie das Bedürfnis, alles frisch zu machen, damit die ganze Wohnung nur ihren Duft atmete. »Mich bringt dieser Blütenduft genau zu meinem 17. Lebensjahr zurück. Dorthin, wo im Garten der Villa von Lady Virginia ein prachtvoller Magnolienbaum stand. Was war das für eine schöne, fürstliche Umgebung! Was für eine Atmosphäre!« sagte Philoména.

Die Vergangenheit wurde lebendig …

SEIN

Am Samstag, dem 16. März 1940 um 23 Uhr, noch bevor die Geburtshilfe das Haus der Andromáchi und des Polýdoros erreicht hatte, kam in dem kleinen Ort Gouviá auf der Insel Korfu Katrina auf die Welt. Kurz darauf lag sie in den Armen von Vérgo, der Besitzerin des am Meer gelegenen Hauses, das Polýdoros Familie zur Miete bewohnte. Vérgo war gleich zur Stelle als bei Andromáchi die Wehen einsetzten, da sie mit ihren sechs Kindern die andere Hälfte des Hauses bewohnte. Die Geburt von Katrina war die sechste für ihre Mutter, nach denen von Spýros, Adriána, María, Agní und Philoména. Als Ausdruck der Ehrerbietung trugen alle Kinder die Namen der Großeltern und nächsten Verwandten, ganz nach griechischer Tradition.

»Ein Mädchen!« wurde Polýdoros mitgeteilt.

»Πάλε θηλυκό; Μπa, που να το κόψει ο Θεός! - Oh! Weh! Schon wieder ein Mädchen! Möge Gott es bald zu sich nehmen!« Nicht selten war solch ein Satz bei der Geburt eines Mädchens zu hören. Der Wunsch eines jeden Vaters nach einem Jungen war übermächtig. Das erste Kind – Spýros - starb mit acht Jahren. Die Trauer um den geliebten Sohn ließ Polýdoros, der ein gefühlsvoller und introvertierter Mensch war, magenkrank werden. Vérgo, die den Wunsch von Polýdoros kannte, bekam Schüttelfrost, denn als ein Jahr zuvor Philoména zu Welt kam, war Polýdoros so gekränkt und enttäuscht gewesen, dass er für drei Tage nicht nach Hause kam. Und obwohl er die zu dieser Zeit übliche Einstellung zur Geburt eines Mädchens nicht teilte, zeigte er auch jetzt keine besondere Freude. Andromáchi, die sehr gläubig war, hob Katrina hoch und sagte: »Herr, in Deine Hände lege ich dieses Kind.«

Dem Schicksal zum Trotz wollten die Eltern es noch mal versuchen. Zwei Jahre später starteten die Beiden aufs Neue den Versuch einen Jungen zu zeugen, doch Andromáchi schenkte abermals einem Mädchen das Leben. Mit der Geburt Chloës gab sie es dann auf, den Wunsch ihres Mannes nach dem Stammhalter zu erfüllen.

Das Bild, das die Welt in dieser Zeit bot, war alles andere als erfreulich. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen und erfasste bald Südeuropa. Im Oktober 1940 erklärte Italien Griechenland den Krieg und kurz darauf bombardierten die Italiener Korfu. Als die erste Bombe fiel, wechselte Polýdoros den Wohnort, da in Gouviá die Luftwaffe stationiert war. Die Flugzeuge landeten im Wasser, da die Insel keinen Flughafen hatte und entsprechend hoch war die Zahl der Bomben, die auf die Gegend fielen. Es folgten Jahre der Angst, des Hungers, der Armut und Entbehrung. Katrina lernte ihre ersten Worte: ›Krieg‹, ›Angst‹, ›Hunger‹, ›lauf‹, ›Bomben‹, ›Explosion‹, ›komm‹, ›Essen‹, ›Brot‹, ›Frieden‹, ›Licht‹, und dazu noch viele andere Wörter, deren Bedeutung sie nicht verstand.

Trotz des Bombardements musste die Familie ihr Leben weiter führen. Im Dorf hatte man die Möglichkeit, ein paar Hühner zu halten, so dass die Familie mit Fleisch und Eiern versorgt war und eine Ziege gab etwas Milch. Polýdoros war Lehrer, das hatte Vorteile, weil er an der Quelle saß, die von der entsprechenden Versorgungsstelle für die Schulkinder Nahrungsmittel zugeteilt bekam. Mit Einverständnis seines Vorgesetzten meldete er mehr Schüler an, so dass genug Nahrungsmittel für seine Familie und auch andere Menschen im Dorf übrig blieben. Rosinen als Kalorienspender wurden reichlich zur Verfügung gestellt. Ein ganzer Sack lag unter dem Bett! Auf allen Vieren krochen Katrina und ihre Geschwister, um von den süßen Rosinen zu naschen.

Es war damals unvorstellbar, dass die Familie an einem Tisch saß, um eine Mahlzeit gemeinsam einzunehmen. Im Gegenteil, das Essen wurde jedem Kind auf einem Blechteller in die Hand gedrückt und dann suchte jeder sich einen geeigneten Platz, um in Ruhe essen zu können. An so einem Tag nahm auch Katrina ihren Blechteller mit den Makkaroni und saß am Boden unter dem Fenster, neben ihr ihre Schwester Chloë, als in der Nähe des Hauses eine Bombe explodierte. Die Detonation war so stark, dass der Blumentopf, der auf dem Fensterbrett stand, nur wenige Zentimeter von Katrina entfernt herunterfiel.

Katrina erinnert sich an den gemieteten Teil des Hauses in Gouviá, in dem sie einige Jahre lebte, an einen großen Raum mit zwei Betten. Gegen Mittag legte ihre Mutter sie zum Schlafen hin. Im Bett ließ sie ihre Blicke zum Licht eines Sonnenstrahls schweifen, der es geschafft hatte, durch die geschlossenen Läden bis zu Katrina hinein zu dringen. Sie beobachtete den Tanz vieler kleiner Staubkörner, bis ihre Lider vor Müdigkeit zufielen.

Sie erinnert sich noch, dass es einen Keller gab und dass der Boden aus Erde bestand. Dort gab es Löcher, in welchen sich Kaninchen eingenistet hatten. Wenn nun Fleisch gegessen werden sollte, ging Adriana in den Keller, steckte ihren ganzen Arm in das Loch hinein und holte ein Kaninchen heraus, das im Kochtopf von Andromáchi landete.

Die Faschisten brauchten keinen besonderen Grund, um den Menschen zu zeigen, wer das Sagen hatte. Sie gingen mit den Korfioten nicht gerade zimperlich um. Ein besonders schmerzlicher Moment war für Katrina der Tag, an dem Polýdoros nach dem Unterricht blutverschmiert nach Hause kam. Tief in Gedanken versunken war er einem italienischen Offizier begegnet. Ohne Ankündigung verpasste dieser ihm eine ordentliche Ohrfeige mit den Worten: »Perqué no salutare? - Warum grüßt Du nicht?«

Polýdoros Magenprobleme verstärkten sich zunehmend, er bekam innere Blutungen, die intensive Aufmerksamkeit und Andromáchis Pflege erforderten. Dazu kam, dass María sehr dünn wurde und die Mutter versuchte, sie mit Essen zu stärken. Es war undenkbar, anders Aufmerksamkeit von den Eltern zu erwarten. Katrina erkannte, dass die Mutter hart zu kämpfen hatte und dass die Schwächeren immer den Vortritt haben würden.

Als Philoména einmal an einer Lungenentzündung erkrankte, so dass sie kaum atmen konnte, nahm Andromáchi sie auf den Arm und ging einige Kilometer weit zu Fuß mit ihr zum Arzt. Mit Augen voller Hoffnung, zeigte sie ihm das Kind. »Es wird sterben!« verkündete er ihr, »siehst du es nicht? Ich kann nichts machen …«. Andromáchi, der so leicht nichts etwas anhaben konnte, entgegnete: »Mein Kind wird nicht sterben, weil du es sagst. Es wird nur sterben, wenn ER es will!« und zeigte zum Himmel. Anschließend besuchte sie einen anderen Arzt. »Dein Kind ist wahrlich sehr krank. Ich kann nur ein neues Medikament ausprobieren, vielleicht haben wir Glück.« Und es geschah das Wunder. Philoména erholte sich nach und nach, sie hatte die Lungenentzündung überstanden. Das Medikament war Penicillin.

In den Kriegspausen spielte Katrina mit ihren Schwestern. Adriana, die zehn Jahre älter war, passte immer auf die Kleineren auf. Sie nahm Katrina in die Arme und erzählte ihr Geschichten. Eine davon handelte von einem kleinen Mädchen, das nichts zu essen und anzuziehen hatte, traurig war und weinte. Als Katrina aus Mitleid in Tränen ausbrach, sah sie ihre Schwestern lachen.

Doch es gab noch das legendäre Karagiosis-Theater. Karagiosis ist der Protagonist und gleichzeitig die Bezeichnung für das Schattentheater. Alle Darsteller waren aus Pappe geschnitten. Die fertigen Papierpuppen konnte man mit Hilfe eines Stockes - der auf ihrem Rücken für diesen Zweck befestigt und hin und her geschoben wurde - auf ein gespanntes Bettlaken drücken. Karagiosis und alle anderen Figuren waren grundsätzlich mit den Trachten aus den Jahren um 1800 bekleidet. Man stellte eine Puppengruppe zusammen, die einen Teil der damaligen Gesellschaft und deren Probleme repräsentierte. Eine Kerze hinter der Bühne sorgte für das Licht- und Schattenspiel. Als Amphitheater für das Publikum dienten die Trümmerbrocken. Die Themen waren aus dem Leben gegriffen, und meistens handelten die Stücke - wie könnte es auch anders sein - vom Schmerz und Leid der Menschen, die ins Lustige gezogen wurden. Das Schattentheater war in den Zeiten des Krieges immer präsent, lockerte so etwas die bedrückende Atmosphäre auf und sorgte für Gesprächsstoff unter den Leuten. Karagiosis - der Hauptdarsteller mit der großen, dicken, roten Nase, die auch auf seine Trinkgewohnheiten schließen ließ und aus dessen Mund Volksweisheiten kamen - ist dank dieser Kunst Legende geworden.

An Aufregung fehlte es nicht. Eines Tages bekam Andromáchi Besuch von Freundinnen - darunter die kurzsichtige Nicoletta aus der Nachbarschaft. Während alle friedlich ihren Kräutertee genossen, stand Nicoletta wie von der Tarantel gestochen auf, zeigte in eine Ecke und stammelte: »Da! Eine Schlange! Sie hat Muster! Sie ist eine Natter!« Welch eine Aufregung! Man hatte Angst um die Kinder, sie wurden schleunigst nach draußen gebracht. Die Erwachsenen bewaffneten sich mit Besenstielen, Stangen und allem, was lang und gut war, um den Kopf der Schlage zu treffen. Die Jagd ging los, langsam und mit Bedacht - Andromáchi in der ersten Reihe. Sie näherte sich der Schlange, streckte so gut sie konnte ihre Waffe aus und stach der Schlange mitten in den Kopf. »Halte sie fest! Halte sie!« riefen die anderen, kamen von der Seite und stachen auf sie ein. Als die Schlange endlich für tot erklärt wurde, hob eine der Anwesenden sie mit einem Bambusstab hoch. Alle schauten sich gegenseitig wie Witzfiguren an, als der Erste sagte: »Das ist die Krawatte des Lehrers«.

Andromáchi versuchte unterdessen die Familie mit Gemüse zu versorgen. Sie griff kurzerhand zu Hacke und Spaten und bestellte den Garten, der sich hinter dem Haus befand, um Tomaten, Gurken und anderes Gemüse zu pflanzen. Es war für die vielfache Mutter eine schwere Arbeit, in den Zeiten des Krieges das Überleben zu sichern. Katrina hatte eines Tages die Hacke genommen und versucht, ihrer Mutter nachzueifern, mit dem Ergebnis, dass ihr die Hacke auf den linken Fuß fiel und - weil sie immer barfuß lief - ein Stück Hautschicht ablöste. Die Narbe blieb das ganze Leben.

So unermüdlich wie Andromáchi für das Essen sorgte, bemühte sie sich auch um die Hygiene in der Familie. Denn Kriegszeit war auch Läuse- und andere Ungezieferzeit. Um Infektionen und dergleichen zu vermeiden, holte Andromáchi einen Mann mit einer Rasiermaschine und ließ ihre Kinder kahl scheren. Aber kahl geschoren wurden Knechte, Gefangene und Kranke, mit Glatze fühlte sich Katrina nackt und entwürdigt.

In der Nachbarschaft gab es einen Hund mit schwarzweißem Fell. Eines Tages kam der Vierbeiner mit roten Augen - ganz zahm - in die Nähe der Kinder. »Weg vom Hund, weg vom Hund!« ertönte die Stimme Andromáchis aufgeregt und laut. »Er hat die Tollwut!« rief eine Nachbarin. Schreie und Aufregung. Jemand holte Manólis mit seinem Karabiner aus der Nachbarschaft, und Katrina sah, wie der arme Hund nach dem Todesschuss leblos umfiel.

Spielzeug für Kinder gab es nicht. Die Kinder nutzten jeden Gegenstand, der ihnen in die Hände fiel - eines Tages waren es ein paar Erbsen - mit denen sie spielten. Eine davon steckte Agní in Katrinas Nase. Erst am nächsten Morgen, als sie mit einer geschwollenen Nase aufwachte, fiel es der Mutter auf. Ein Arzt holte die Erbse dann mit einem Metallgerät wieder heraus.

In der Natur entdeckte Katrina immer wieder etwas Neues. Einen kleinen Käfer, der auf ausgetrockneten Gräsern kroch, oder eine Spinne, die ihren Bau mit Spinngewebe ›tapezierte‹. Die Geschwister sammelten oft das abgelegte, zerbrechliche ›Kleid‹ der Zikaden und steckten es sich als Brosche an die Brust. Dann spielten sie Hinkelstein oder Seilspringen.

Genussmittel waren für die gesamte Zeit des Krieges und in den Jahren danach Mangelware. Polýdoros baute Tabak für den eigenen Bedarf an, und die paar Kaffeebohnen, die man bekommen konnte, teilten die Frauen unter sich auf und zerkauten sie einfach so. Katrina war wie verzaubert von den bunten Luftblasen, die sich im Mund beim Kauen der Bohnen mit der Spucke bildeten.

Das Wenige, was die Menschen damals hatten, versuchten sie vor den Besatzungsmächten zu verbergen, indem alles vergraben wurde. Polýdoros hatte zwischen den Steinen auch ein Tellerservice aus Porzellan versteckt und es dadurch gerettet. Andromáchi hatte einen Blechbehälter mit Öl in der Erde vergraben. Sie hatte ihn so gut versteckt, dass sie ihn vergessen hatte. Später, als der Behälter gefunden wurde, war das Öl weiß geworden, was bedeutete, dass es keinen Nährwert mehr hatte.

Katrina sah auch viele andere Dinge, die sie beeindruckten. Eines Morgens versammelten sich die Nachbarn in dem kleinen Zimmer, wo Manólis wohnte. »Er ist verstorben«, sagten sie und jemand drehte ihn auf die Seite. So sieht also der Tod aus - dachte Katrina. Ganz regungslos, steif und voller Stille. Es hatte nichts Bedrohliches.

KORAKIÁNA

Groß war die Freude, wenn Oma Agní die Familie besuchte. Sie nahm ihren Stock und kam zehn Kilometer zu Fuß bis nach Gouviá, denn sie wohnte in der Ortschaft Korakiána. Ihre Schlichtheit und Schönheit verlieh ihrem Antlitz fast etwas Heiliges. Sie trug ihr ganzes Leben Trachtenkleider, wie sie zu dieser Zeit üblich waren. Ihre bestand aus einem langen schwarzen Leinenrock, dem ›Weléssi‹, einer weit ausgeschnittenen Bluse mit Weste und auch einer wundervoll mit Ornamenten bestickten, schwarzen Samtjacke, ›Pesselí‹ genannt. Es fehlte natürlich auch nicht das weiße Kopftuch. Unterwäsche trugen die Frauen damals nicht, und der einzige Schmuck, den sie umhatte, war eine schwarze Kordel um den Hals. Oma Agní war dünn und abgemagert, wie ihr Sohn Polýdoros. Während des fünf Jahre andauernden Krieges und danach, pendelte die Familie zwischen den beiden Ortschaften hin und her. Die Kinder waren mal zusammen, mal einzeln bei der Großmutter, die im eigenen Haus wohnte, gebaut an einen Berghang, in einer lieblichen Ortschaft mit tausend Einwohnern. Das Elternhaus war gleichzeitig als Eigentum ihres einzigen Kindes, Polýdoros zu betrachten.

Das Anwesen entsprach den damaligen Bedürfnissen. Ein Pfad, der zu Fuß, mit dem Esel oder Pferd begehbar war, führte an die Haustür. Davor waren zwei Stufen aus Stein gehauen, die von der Abnutzung eine muldenartige Delle bekamen, was das Alter des Hauses noch mehr betonte. Gerade diese Mulde hatte es Katrina angetan. In den Mittagsstunden, wenn die Sonne hoch stand und die Luft warm war, legte sie sich dort hinein. Mit freiem Oberkörper und auf dem Rücken liegend bewunderte sie die Wolken und vor allem die Felsen, die mal mit reicher Vegetation versehen und mal kahl waren. Oft empfand sie Angst und fühlte sich bedroht bei dem Gedanken, es könnte sich ein Felsbrocken ablösen und auf das Haus fallen. So abwegig waren ihre Bedenken nicht, denn im Nachbarort wurden die Bewohner später aus genau diesem Grund evakuiert.

Durch die Haustür kam man in einen kleinen Flur und danach direkt in den großen Raum. Der Dielenfußboden war stark abgenutzt und seine Holzbretter wiesen große Risse auf. Oft machten sich die Kinder einen Spaß daraus, indem sie um die Wette durch die Risse pinkelten. Gewonnen hatte derjenige, der dabei die Bretter nicht traf. Die Spritzer landeten im darunter liegenden Weinkeller.

Im Raum befand sich die obligatorische Kochecke - ›Stiá‹ genannt - die wie eine typische Kaminstelle aussah. Um sie herum lagen Holzstämme, die als Sitzhocker benutzt wurden, und gegenüber stand ein Esstisch aus massivem Holz, dessen Oberfläche im Laufe der Jahre ungleichmäßig geworden war. Eine Truhe, in der die verschiedenen Gegenstände des Haushaltes untergebracht wurden, diente als Sitzbank, wenn Besuch kam. Im Wohnzimmerschrank - das sogenannte ›Büffet‹ - bewahrte Agní ihr Geschirr und Besteck auf, und vor allem ein paar Süßigkeiten für die Kinder.

Eine Tür führte zu Agnís Schlafzimmer. Dort befanden sich ein Bett, ein Tisch, ein Nachttisch und eine zweite Truhe. In diese legte sie all ihre Kleider, die sie von ihren Eltern als Mitgift bekommen hatte. Die Regeln und Gewohnheiten der Familien und besonders der Töchter im Dorf waren klar definiert. Dazu gehörte die Kleidung - natürlich die Trachten des Ortes - für den Alltag und einige für die Festtage, die besonders farbenfroh waren. Das ›Pesselí‹ war dann mit goldenen Ornamenten auf buntem Samt bestickt, die Röcke aus kostbarer Seide, und der Kopfschmuck wurde reichlich mit Blumen bestückt. Agní und die anderen Frauen mussten für den Rest ihres Lebens mit diesen Kleidern auskommen. Daher bekamen sie bei der Hochzeit auch immer die entsprechende Truhe geschenkt.

Auf dem Balkon - den man Terrasse nannte - wuchsen zwei stolze Reben empor und überdachten die Terrasse mit großen blauen Früchten - eine Traube allein konnte Katrinas Kinderhand füllen. An diese heranzukommen war schwierig und gefährlich, man musste auf das einen Meter hohe Podest des Balkons klettern, um sie zu erreichen, und die Erwachsenen hatten ständig ein Auge auf die Kinder, die es kaum abwarten konnten, die süßen Trauben zu pflücken.

Vier Stufen vom Balkon führten zum großen Zimmer der Eltern - dort wurde Philoména geboren - und eine kleine Treppe führte zum Ausgang in die Gasse. Die Steintreppe hatte links und rechts große Risse, eine Art Abflussgraben, so dass man diese Öffnungen mit unbekanntem Ausgang als Toilette benutzten konnte. Vor dem großen Zimmer führte eine weitere Treppe zum Keller und zu dem kleinen Innenhof des Hauses. Dort, hatte Katrina ihr erstes Puppenhaus - ohne je eine Puppe gehabt zu haben - gebaut und war sehr stolz darauf. Über ihr ragte ein hoher Apfelsinenbaum in den Himmel. Es war derselbe, auf den schon Polýdoros als Kind hochgeklettert war, um bei seiner Mutter Agní das, was er wollte, zu erpressen.

Im Keller kelterte Polýdoros auch seinen Wein, denn er hatte viele Felder für Rot- und Weißwein in seinem Besitz. Es kamen Arbeiter, die nach dem obligatorischen Füßewaschen in ein großes Gefäß stiegen und auf den Trauben herumtraten, um den Saft herauszupressen. Die Traubenerntezeit war für die Kinder immer ein Fest, besonders die kleine Chloë erfreute sich daran, den süßen Saft zu naschen. In den kommenden Nächten ›spukte‹ es dann im Haus. Die mit Traubensaft vollgefüllten Flaschen pressten durch die Gärung mit einem Knall die Korken hoch. Man ließ die ausgepressten Traubenreste in einem großen Gefäß für zwei bis drei Tage ruhen. Diese gaben hinterher immer noch etwas Saft, welcher allerdings sauer war. Gerade auf diesen hatte Polýdoros es abgesehen, denn er ergab Weinessig von hervorragender Qualität.

Das Wasser, das Agní für alle Bedürfnisse brauchte, zog sie einfach aus dem Brunnen, der sich vor der Haustür befand. Sowohl das Geschirr als auch die Wäsche wurden dort gewaschen und das Brauchwasser auf die Straße ausgekippt. Wäsche waschen, das war schon etwas Besonderes, große Vorbereitungen waren dafür erforderlich. Man sortierte die weiße Kochwäsche und legte sie mit allen vorhandenen Seifenresten zum Einweichen ein. Am nächsten Morgen legte man die Wäsche Stück für Stück ausgebreitet in einen aus Bambusstreifen geflochtenen Korb. Anschließend gab man Asche, die man aus dem Kamin entnommen hatte, in einen mit Wasser gefüllten großen Topf und brachte dieses zum Kochen. Der Sud mitsamt Asche - ›Alissíva‹ genannt - wurde über die Wäsche im Korb gegossen. Nachdem das Wasser durch die Wäsche durchgelaufen war und sich abgekühlt hatte, begann man mit dem Waschen auf dem Waschbrett. Jedes Stück musste einzeln geschrubbt und mit der einzigen Seifensorte, die es zu der Zeit gab, eingeseift werden. In die Wäsche legte man auch eine weiße Tablette - das ›Louláki‹ - um sie noch weißer zu bekommen. Hinterher wehte die Wäsche auf der Leine strahlend weiß unter der hellen Sonne und das ganze Haus duftete nach Sauberkeit.

Agnís Vater - Anastásios - war Pastor, Vorgesetzter aller Pastoren von Nordkorfu und hatte für das Dorf Korakiána und die Umgebung viel geleistet. Kraft seines Amtes stand ihm zu, auf dem Hof der Kirche begraben zu werden. Für Katrina war es etwas ganz Besonderes, dass sie haargenau 142 Jahre nach dem Tod ihres Urgroßvaters geboren wurde. Viele Jahre danach würde sie mit der Reife, die einen alternden Menschen kennzeichnet, an sein Grab zurückkehren und aus einer Ritze das winzige Lorbeerbäumchen, das daraus wuchs, herausholen, um es respektvoll in ihrem Garten einzupflanzen.

Katrina hat ihren Großvater - den Vater von Polýdoros - nicht kennen gelernt. Er starb, als Polýdoros drei Jahre alt war. Er stammte aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden Familie mit sehr vielen Ländereien im Ort und war sogar zum Bürgermeister gewählt worden. Er besaß so viel, dass seine Frau Agní nicht arbeiten musste.

Als Polýdoros 17 Jahre alt war, wurde er zum Militärdienst einberufen und kam somit gleich im ersten Weltkrieg an die Front. Eine plötzliche Lücke entstand für seine alleinstehende und somit alleinerziehende Mutter. Agní fragte jeden Soldaten, der vorbei ging, ob er ihren Sohn gesehen hätte. Das ständige