Oliver Musenberg und Judith Riegert (Hgg.)

Bildung und geistige Behinderung

Bildungstheoretische Reflexionen
und aktuelle Fragestellungen

ATHENA

Lehren und Lernen mit behinderten Menschen

Band 16

Dieses Buch entstand in Kooperation mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V., die die fachliche Beratung und das fachliche Lektorat übernahm.

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft

HUG-P-hoch-GRAU.eps

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2012

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Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de

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ISBN (Print) 978-3-89896-391-6
ISBN (ePUB) 978-3-89896-813-3

Für Karl-Ernst Ackermann zum 65. Geburtstag

Vorwort

Nachdem der Bildungsbegriff im Zuge der »realistischen Wende« der Erziehungswissenschaft aufgrund seiner empirischen Indifferenz und seines Ideologieverdachts zeitweilig fast aus der pädagogischen Diskussion verschwunden war und Begriffe wie Kommunikation, Sozialisation und – vor allem im sonderpädagogischen Kontext – Förderung an dessen Stelle getreten sind, erlebt die Bildung seit einigen Jahren eine Disziplin übergreifende Wiederbelebung.

Motiviert und flankiert wird diese Reanimation oder Wiederentdeckung des Begriffs aktuell durch den mittlerweile inflationären Gebrauch von »Bildung« in den Medien und in politischen Debatten: Soviel Bildung war nie! Insbesondere die nach PISA ausgerufene »Bildungskatastrophe« und die daraufhin installierten bildungspolitischen Maßnahmen (Steuerung; Standardisierung) haben jedoch u. a. dazu geführt, dass bildungstheoretische und originär didaktische Fragen in den Hintergrund treten und stattdessen primär empirische Bildungsforschung und »neue Steuerung« diskursfähig sind. Während die einen dieses nicht weiter beunruhigt und z. B. nüchtern die Orientierung an gesellschaftlichen Verwertungsinteressen und die Selektionsfunktion von Schule als gegeben akzeptiert werden, warnen die anderen z. B. mit Humboldt vor der Ökonomisierung von Bildung, und wiederum andere kritisieren die argumentative Frontstellung von Qualifikation vs. Bildung als hoffnungslos naiv.

In der Pädagogik für Menschen mit (geistiger) Behinderung hat der Bildungsbegriff eine ambivalente Tradition, da er bis in die jüngste Vergangenheit als Negation gebraucht wurde: Menschen mit geistiger Behinderung galten als bildungsunfähig, schulbildungsunfähig und schließlich in der Gründungsphase der »Geistigbehindertenpädagogik« als »praktisch bildbar« (ausgenommen blieben zunächst Menschen mit schweren Behinderungen). Während dieser Zuschnitt des Bildungsverständnisses auf das »Praktische« in den 1960er-Jahren seine »historische Berechtigung« gehabt haben mag, wird heute gerade die lebenspraktische Verengung von Bildung als problematische Verkürzung wahrgenommen.

Mittlerweile werden auch die Effekte einer neuen Steuerung im Bildungswesen kontrovers diskutiert und es wird danach gefragt, wie die aktuellen bildungspolitischen Reformen aus der Perspektive einer Pädagogik für Menschen mit (geistiger) Behinderung zu beurteilen sind. Eine grundlegendere Frage wird jedoch übersprungen:

Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Bildung sprechen, welche theoretischen Grundierungen führen zu welchen Verständnisweisen von Bildung und wie kann der theoretische Zuschnitt eines Bildungsbegriffes aussehen, der weder Menschen mit geistiger Behinderung ausschließt, noch ein gesondertes, personenkreisspezifisches Verständnis von Bildung etabliert? Oder benötigen wir vielleicht gar keinen neuen Bildungsbegriff, aber wie sieht dann überhaupt »der« alte aus?

Die aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklung bildet den Hintergrund und das Motiv für eine bildungstheoretische Grundlagenreflexion im vorliegenden Buch. Diese Grundlagendebatte hat innerhalb der Pädagogik für Menschen mit (geistiger) Behinderung bislang nur vereinzelt stattgefunden, so dass sich uns die Bündelung und Weiterführung als notwendig und überfällig darstellt.

Das Buch versammelt Beiträge, in denen der Bildungsbegriff durch unterschiedliche theoretische Brillen und aus der Perspektive einer Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in Augenschein genommen wird. Inwieweit verändern sich die Konturen des Gegenstands, wenn durch eine phänomenologische, konstruktivistische, systemtheoretische, kritische oder anerkennungstheoretische, psychoanalytische oder kulturhistorische Brille geblickt wird? Welche Rolle wird hier z. B. jeweils dem Subjekt im Bildungsprozess zugewiesen (zugrunde liegend, autonom, selbstbestimmt, empowered, überfordert, unterworfen, angewiesen, abhängig, abgeschafft, …)? Lassen sich vielleicht Konsequenzen hinsichtlich einer inklusiven Bildung und Didaktik ableiten? Durch die 2008 von Deutschland ratifizierte UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat die Debatte zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems neuen Schwung bekommen. Gerade im Rahmen dieser Debatte ist es notwendig, den Personenkreis der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung von Anfang an mitzudenken, wenn sich Inklusion tatsächlich von Integration (als Praxis) unterscheiden soll.

Der Anlass für die Herausgabe des vorliegenden Buches ist der 65. Geburtstag von Karl-Ernst Ackermann, dessen akademisches Wirken wir mit dieser Publikation würdigen möchten. Mit »Bildung« greifen wir ein Thema auf, das für Karl-Ernst Ackermann ein zentrales Thema war und ist – im schulischen Kontext wie in der Erwachsenenbildung. Sein im Jahre 1990 veröffentlichter Beitrag kann als Startschuss einer bildungstheoretischen Reflexion in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung betrachtet werden. Das Buch, in dem der Artikel erschien, ist seit langem vergriffen, weshalb wir den Beitrag hier erneut veröffentlichen.

Unser Dank gilt Karl-Ernst Ackermann und den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen dieses Buch gestaltet und ermöglicht haben.

Ebenso danken wir Svenja Grzymalla und Sarah Klug für die Durchsicht der Manuskripte sowie Christina Wittkop und Rolf Duscha vom ATHENA-Verlag für die unkomplizierte Zusammenarbeit.

Der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft danken wir für die freundliche Förderung des Buchprojekts und der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. gilt unser Dank für die Kooperation.

Die Herausgeber

Berlin, im Januar 2010

I. Einleitung

Andreas Fröhlich

Bildung – unsystematisch einführende Gedanken

»Ich unterfange mich, bunt durcheinander von allem zu sprechen, was mir just in den Sinn kommt, und dabei nur meine eigenen, naturgegebenen Kräfte auszuschöpfen. Nun geschieht es mir aber immer wieder, dass ich bei guten Schriftstellern zufällig auf Ausführungen über das selbe Thema stoße, das ich gerade behandle, und plötzlich erkennen muss, wie schwach und armselig, wie unbeholfen und verschlafen ich im Vergleich zu jenen Männern (und Frauen! A. F.) bin, so dass ich mich selber zu bemitleiden, ja zu verachten beginne« so Michel de Montaigne in seinem Essay über die Knabenerziehung.

Wenn schon der Begründer des Essays, der Reisende, der Philosoph, der Administrator Michel de Montaigne große Zweifel an seinen eigenen Gedanken und ihrer Darstellung bekam, wie soll es einem Heutigen gehen, der es wagt, zum Menschheitsthema »Bildung« einführende Gedanken zu formulieren. Gleich am Anfang sollte man sich wohl für all das entschuldigen, was man nicht bedacht, was man vergessen, außer Acht gelassen und allzu oberflächlich behandelt hat. Da nun aber Bildung, seit Menschen über sich nachdenken, ein zentrales Thema gewesen sein dürfte, ist die Fülle der Publikationen, der tradierten Gedanken und Überlegungen zu groß, als dass eine zeitgenössische Reflektion wirklich Neues bringen wird. Sie kann höchstens aktualisieren, sie kann pointieren, Einzelnes ein wenig hervorheben.

1 Bildung, sprachlich

Nicht alle Sprachen verfügen über ein so bedeutungsschweres Wort wie wir, über die Bildung. Unsere Nachbarn müssen sie oft mit Anderem zusammenfassen in éducation oder formation. Das deutsche Wort bezieht sich darauf, dass etwas Gestalt bekommt, Gestalt annimmt, Bildung als Prozess und Resultat einer Schöpfung. Erstmals im 18. Jahrhundert wurde das Wort in pädagogischen Zusammenhängen in Anspruch genommen. Heute, so können wir sagen, stellt es den eigentlich zentralen Begriff fast aller pädagogischen Überlegungen dar.

Bildungsbeflissen, wie wir sind, schauen wir uns um und stellen fest: Bildungsferne hat den Bildungshunger ersetzt. Von Halbbildung mag niemand mehr reden, Bildungsanstalten kommen einem bildungsbürgerlich altmodisch vor. In unserem Fach haben wir es oft mit der Frage der Bildungsfähigkeit zu tun; Bildungsplanung, Bildungsurlaub, Bildungslücken sind schon ein bisschen verstaubte Vokabeln, erinnern an Pichts Bildungsnotstand der 1960er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, an den sich die Älteren unter den Lesern vielleicht noch erinnern. Bildungsökonomie, Bildungsmanagement, Bildungskonsum, Bildungseffizienz sind die neueren Vokabeln – allerdings erstaunt, dass das Bildungsbürgertum tatsächlich wieder belebt wird, zumindest im parteipolitischen Diskurs. Wir sehen also, Bildung lässt sich vortrefflich mit allerhand anderen Wörtern in Verbindung bringen – ein Geschenk der deutschen Sprache – so dass fast alle nach ihren Interessen schwergewichtige Vokabeln zusammenstellen können, die manches erhellen und manches verschleiern. Was denn nun die Bildung sein könnte, wird daraus erst einmal nicht deutlich.

Zitat aus dem Rheinischen Konversationslexikon für gebildete Stände in zwölf Bänden:

Bildung. Über diesen reichhaltigen Gegenstand, mit welchem die Forscher aller Zeiten, und in unseren Tagen vorzüglich der unvergessliche Herder, sich beschäftigten, können wir natürlich an hiesiger Stelle nur flüchtige Bemerkungen geben. Der Bildung geht es fast wie dem Glücke. Jeder rennt nach ihr und möchte sie gern erhaschen; aber die wenigsten haben sich klar gemacht, was sie wollen und obgleich von nichts häufiger, als von Bildung, die Rede ist, so möchte dennoch vielleicht nichts schwerer zu bestimmen sein, als eben sie. Jeder misst und urteilt hier nämlich nach seiner Eigentümlichkeit, nach seiner größeren oder geringeren Fähigkeit, und verdammt alles, was seinem Maßstabe nicht anpasst. Der größte Teil der Gelehrten glaubt, die Bildung bestehe nur in der klassischen Gelehrsamkeit, und alles andere sei nicht der Rede wert. Wohin ihn Zufall oder Neigung trieb, das achtet er meist nur allein, und mit vornehmem Stolze sieht er auf alle Bestrebungen herab, die ihm fremd sind. Damen werden wegen ihrer Bildung bewundert, wenn sie französisch reden und Romane lesen. Junge Herrchen und alte Galans sprechen über das Theater, stocken nie in der Unterhaltung bei Damen, und tun sich auf ihre Bildung etwas zu Gute. Der schlichte Bürger glaubt genug zu sein, wenn er sein Fach oder Handwerk versteht. Der Eine setzt die Bildung nur in eitles Außenwerk, der Andere in unverdautes Wissen, kurz jeder spricht, wie er meint, und hält sich gewiss nicht für den Geringsten unter den Gebildeten …

2 Éducation – eine Menschheitsaufgabe

Wir können annehmen, dass »Erziehen« ein menschliches Grundphänomen ist wie Pflegen, Ernähren, Behausen. Unvorstellbar, dass nicht schon früheste Menschen ihre Kinder in irgendeiner Form angeleitet haben, Dinge zu tun und Dinge zu lassen, von denen sie glaubten, dass sie wichtig, unabdingbar, lebenssichernd seien. Die Vermittlung von Wissen, die Vermittlung von Fertigkeiten und die Vermittlung von Grundeinstellungen gehören ganz sicherlich zu den menschheitskonstituierenden Tätigkeiten von Anfang an. Wir können uns Menschen ohne Erziehungsprozesse nicht vorstellen.

Menschen versuchen, ihre Kinder, ihren Nachwuchs, auf die Aufgaben vorzubereiten, die diese als nächste Generation einmal werden zu bewältigen haben.

Der schon genannte Picht formulierte in etwa: »Der Horizont der zu bewältigenden Aufgaben bestimmt, was wir zu lernen haben«[1]. Dieser Horizont könnte das sein, was man mit Bildung im günstigsten Fall meinen könnte. Klassisch sollte er möglichst weit sein, 360 Grad umfassen, keine Einengung erfahren und schon gar nicht auf einen einzigen Aspekt reduziert werden.

Um noch einmal auf die Menschheitsgeschichte hinzuweisen, so sei daran erinnert, dass es in jeder der von uns als wichtig angesehenen Epochen grundlegende Auseinandersetzungen darüber gab, was die nächste Generation lernen sollte, wie sie es lernen sollte und wie daraus eine neue bessere Welt entstehen möge. Gleichzeitig sind die Klagen darüber, dass eben diese jüngere Generation keine ausreichende Bildungsbeflissenheit zeige, etwa genau so alt.

Dem antiken Griechenland rechnen wir die Idee von der Kalokagathia zu. Schön und gut sind die Vokabeln, die sich hier zu einem Substantiv vereinigen. Sie deuten an, worin Bildung bestehen könnte, in einer Form nämlich und einem Inhalt, wobei nicht unbedingt die Schönheit der Form und das Gutsein dem Inhalt entspricht, es könnte auch genau andersherum sein. Die Vorstellung, dass Gutes schön und Schönes gut ist, beginnt sich hier deutlich zu artikulieren, ein Anspruch auf eine erste Ganzheitlichkeit wird deutlich.

Der römische Cives lebte bereits in den transformierten Traditionen des antiken Griechenlands, konnte ganz sicherlich schon Einflüsse anderer Hochkulturen integriert erleben und übernehmen. Pragmatisch nennen wir die antiken Römer, logisch argumentierend, juristisch denkend und so waren die Bildungstechniken Lesen und Schreiben von größter Bedeutung, das Informations- und Kommunikationssystem des römischen Reiches sucht seinesgleichen.

3 Angewandte Bildung nach der Grundlagenforschung der Hellenen

Ungeahnter Quellenreichtum würde sich auftun, könnte man in allen großen und kleinen Kulturen nach dem suchen und fündig werden, was dort über die Heranbildung einer nächsten Generation gedacht wurde. Eine globale Geschichte der Bildung, insbesondere der Bildungsideen, würde uns sicherlich gut tun, aber bei weitem die Möglichkeiten des derzeitigen Forschungspersonals übersteigen.

An dieser Stelle wäre es nötig, über die freien Künste des Mittelalters, die frühen Universitätsgründungen nachzudenken, die Wiederentdeckung der griechischen Autoren auf dem Weg über jüdische und arabische Wissenschaftler des Mittelalters, die Renaissance als ein erster Schritt in eine säkularisierte Wissenschaft.

Die ›grand tour‹ des Adels, die Vorläufer bürgerlicher Bildungsreisen, lässt sich durchaus wieder auf Montaigne beziehen: »Daher ist der Umgang mit Menschen für die Bildung eines eigenen Urteils äußerst wichtig, ebenso der Besuch fremder Länder: nicht nur, damit man nach Art unseres französischen Adels hinterher erzählen kann, wie viel Schritte die Santa Rotonda misst oder welch prächtige Unterwäsche die Signora Livia vorzuweisen hat. […] Sondern hauptsächlich, damit wir die Wesens- und Lebensart dieser Völker kennen lernen und unser Gehirn an ihrem reiben und verfeinern. Ich möchte, dass man den Zögling von frühester Jugend an herumzuführen beginne – und zwar […] zuerst unter den Nachbarvölkern, deren Sprache am weitesten von der unsrigen abweicht, denn ihr kann sich die Zunge nur anpassen, wenn man sie rechtzeitig hierzu heranbildet«.

Bildung durch die Begegnung mit »dem Anderen« ist immer noch ein Thema, und ganz besonders unseres eigenen Faches.

Humboldts langer Schatten, oder auch sein strahlendes Licht, je nachdem, wie man es sehen mag, ruht immer noch auf uns. Seine preußische Universitätsgründung bestimmt nicht nur unser Bildungssystem, sondern auch unser Denken über Bildung überhaupt. Dass wir z. T. Gefangene dieses Denkens sind, möchte ich versuchen, an der einen oder anderen Stelle wenigstens anzudeuten.

Eine universelle, eine umfassende, eine ganzheitliche, eine menschliche Bildung wurde und wird allenthalben gefordert. Der Mensch schafft sich durch Bildung sein Bildungsideal, ein Ideal, das er weder als Menschheit noch als Individualmensch je zu erreichen vermag.

Das Ideal wiegt schwer, der daraus entstehende »Bildungsfrust« ist zwar neueren Datums, der Tatbestand dürfte auch schon sumerischen Tontafelschreibern bekannt gewesen sein.

4 Nur für den Kopf?

»Andreas[2] Bildung war also eine lebendige; sie kam weniger aus Büchern als vielmehr aus der Anschauung des wirklichen Lebens. Sein Geist war nicht nur von Kultur geprägt, sondern auch von Erfahrung; und die Neugier in ihm wurde immer größer, je mehr sich sein Wissen erweiterte. Von Anfang an hatte er sich verschwendet, denn die große sensitive Kraft, die ihm gegeben war, ermüdete nie, seiner Verschwendungssucht neue Schätze zuzuführen. Aber das Anwachsen dieser Kraft war gleichbedeutend mit der Zerstörung einer anderen in ihm, der sittlichen Kraft, die herabzusetzen schon der Vater sich nicht gescheut hatte. Und er bemerkte nicht, dass sein Leben in der fortschreitenden Abnahme seiner Fähigkeiten, seiner Hoffnungen, seines Vergnügens bestand, in einem gleichsam fortschreitenden Verzicht; und dass dieser Kreis ihn langsam, aber unerbittlich, immer enger umschloss« (D’Annunzio 1995, 41). Die sinnliche Bildung, die Geschmacksbildung, taucht in der heutigen Bildungsdiskussion eher seltener auf. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Bildung – quasi römisch-pragmatisch – eher als eine Ressource für wirtschaftliches Wachstum gesehen wird: »Deutschland hat keine Rohstoffe, es lebt seit langem vom Erfindungsgeist seiner Menschen […]«, so schreibt Stefan Braun in seinem Artikel »Anfang ohne Zauber« in der Süddeutschen Zeitung vom 5.10.09.

Von Geschmacksbildung, von Sinnesbildung, von Herzensbildung, von Körperbildung mag man da weniger reden.

Unsere neu diskutierten Eliten und ihre Bildung, die Exzellenz-Initiativen der Universitäten, der Wettbewerb um die »besten Köpfe« signalisiert nur allzu deutlich, welchen Bildungsvorstellungen sich Politik, Wirtschaft und ein großer Teil der Gesellschaft hingeben.

Inselbegabungen, Einzelbegabungen, partielle Hochbegabung sind die Stichworte, unter die sich die nichtkognitiven Bildungsanteile derzeit subsumieren lassen müssen.

5 Pädagogik und Bildung

Wie nah beieinander und doch wie so fern …

Pädagogik ist zweifellos Bildungswissenschaft, aber Pädagogik ist nicht Bildung. Pädagogik kann ein Teil von Bildung sein und Bildung entsteht nicht ohne pädagogisches Tun – siehe Montaigne.

Die »Rohstoff-Diskussion« ist derzeit ein starkes Argument für Pädagogik, für pädagogische Wissenschaften, für Vermittlungswissenschaften, Didaktik, ja angeblich auch für Schule.

Über Schule und Bildung wage ich kaum einen Satz zu formulieren. Das System Schule, soweit wird Übereinstimmung herzustellen sein, schafft für einige Kinder und Jugendliche die Voraussetzung, sich zu bilden. Für viele tut sie es nicht und die Gesellschaft bietet keine Alternativen. Die Schule ist ein Monopol, die Schule ist letztlich ein Zwangsinstrument, das wir auf alle unsere Kinder anzuwenden bereit sind. Mit Bildung hat sie manchmal zu tun, oft auch nicht.

6 Erzählungen von der Bildung

Bildungsromane spielen in der Literatur eine große Rolle. Die Erzählungen handeln von kleinen oder jungen Menschen, die sich über Jahre hin entwickeln, unter unterschiedlichen Einflüssen, in der Begegnung mit unterschiedlichen Menschen und Ideen, junge Menschen, die geistigen Reichtum oder geistige Armut erleben, deren Lebensumstände schwierig oder leicht sind, die Beglückendes oder Bedrückendes erfahren. Erzählungen, die oft genug autobiografisch geprägt sind, die zeigen, welch unterschiedliche Einflüsse letztlich zu so etwas führen, was wir Bildung nennen.

Ein zeitgenössischer, für mich außerordentlich beeindruckender Bildungsroman stammt von Umberto Eco, 2004, »Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana«: Da erwacht ein erwachsener Mann aus einem Koma und hat, wie oft bei dieser literarischen Figur, all seine Erinnerungen verloren. Tabula rasa. Er beginnt sein Leben neu, orientiert sich mit seinen Fähigkeiten in einer ihm nahezu unbekannten, nicht erinnerten Welt. Er begegnet fremden Menschen, die ihn kennen, die er aber nicht einzuordnen weiß. Eine Frau, es könnte seine Geliebte sein, ein Mann, vielleicht ein langjähriger Freund?

Umberto Eco wählt die Begegnung mit Büchern, mit Zeitschriften als einen Weg der Rekonstruktion einer Persönlichkeit, er beschreibt den Bildungsweg über die Begegnung mit Literatur und den Gestalten, die aus ihr hervortreten. Der Erinnerungslose entdeckt seine eigene Kindheit auf einem Speicher voller Comic-Hefte, Illustrierten, Kinderbücher, Romane usw. Er erinnert sich zunehmend seiner eigenen Geschichte, die er in all diesen Heften und Büchern wiederfindet. Er tritt ein in ein kulturelles Erbe, das er sich selbst schon einmal erschlossen hatte, das ihn geformt, gebildet hatte, entdeckt es wieder neu und entdeckt dabei sich selbst und auch die Menschen, die ihm Tag für Tag begegnen. (Um dieses Buch genießen zu können, muss man vielleicht schon ein bisschen älter sein, damit man vieles von diesen Heften und ihren Zeitströmungen wenigstens erahnen kann. Manches bleibt dem deutschen Leser fremd, da er spezielle italienische Publikationen einfach kaum kennen kann.)

7 Die Bildung der »Anderen«

Barbaren nannten die antiken Griechen diejenigen, die sie für ungebildet, unwissend, eben barbarisch hielten. »Barbarbarbar« – so klang ihnen wohl die fremde Sprache, die sie nicht verstanden.

Nicht verstehen, nicht kennen führt in bewährter Menschheitsmanier zum Etikett »die Anderen«. Die Anderen, das sind die, von denen man sich abgrenzt, mit denen man nichts zu tun haben möchte, auf die man herab sehen kann, die, die keine Ahnung haben. Gleichzeitig sind sie bedrohlich, befremdlich, an ihnen werden die diffusen Ängste festgemacht – bis in unsere Zeit.

In der individuellen Geschichte des einzelnen Menschen akzeptieren wir die frühkindliche Periode, in der ein Kind erkennt, dass die Mutter eine andere Person als sie selbst ist, dass Andere, Fremde, etwas anderes sind als die Nahen und Vertrauten. Wir sprechen von Identitätsentwicklung und der notwendigen Abgrenzung des Ich. Inwieweit Gruppen, ja ganze Kulturen, sich selbst nur über die Abgrenzung zu Anderen konstituieren, dies müsste immer wieder neu kritisch beleuchtet werden.

Der Gedanke der »Bildungsunfähigkeit«, der die Geschichte der Geistigbehindertenpädagogik mitbestimmt, könnte so gedeutet werden, dass diejenigen, die sich für wissend und gebildet halten, auch solche brauchen, die sie als unwissend und ungebildet, ja sogar als bildungsunfähig bezeichnen können. Erst im Erleben des Kontrastes wird man sich seiner eigenen, selbst zugeschriebenen »Wertigkeit« bewusst.

Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung haben zweifellos auf intellektuell-kognitivem Gebiet schwerwiegende Einschränkungen, die ihnen manches in Bildungszusammenhängen schwer machen. Die angeführte Bildungsunfähigkeit könnte jedoch auch anders verstanden werden: Hier ist ein System unfähig, jemandem die ihm angemessene Bildung zu ermöglichen. Ebenso ist Schulbildungsunfähigkeit die Unfähigkeit des Schulsystems, Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden kognitiven Einschränkungen angemessen zu fördern, ihnen passende Lernangebote zu machen und Bildung ganzheitlich zu denken.

Die Reduktion auf intellektuelle Bildung, auf Bildung in Teilbereichen, schafft einen ganz spezifischen Ausschluss der Menschen, die gerade in diesem Bereich Schwächen zeigen bzw. ganz erheblichen Einschränkungen unterworfen sind. Der Ausschluss dieser Menschen aus den vorhandenen Bildungssystemen ist weltweit zu beobachten. Die intellektualistische Bildung definiert sich selbst durch Ab- und Ausgrenzung.

Gleichzeitig bietet sich diese intellektualistische Bildung und ihre Systeme der Gesellschaft mit dem Heilsversprechen an, dass hier der eigentliche »Rohstoff der Zukunft« bereitgestellt würde. Exzellenzinitiativen, Elitebildung einerseits, aber auch die Privatisierung des Bildungsmarktes andererseits, die Schaffung eines Parallelsystems Nachhilfe – all dies zeigt, wie die professionellen Anbieter von intellektualistischer Bildung sich ihre Märkte sichern.

Wann immer in der Geschichte über Bildung nachgedacht wurde, tauchten kritische Gedanken auf: Die Gebildeten verstehen sich im Wesentlichen als intellektuell Gebildete, dennoch wird eine ganzheitliche, den ganzen Menschen umfassende Bildung eingefordert. Offensichtlich also eine dem System immanente Tendenz, Bildung als intellektuelle Bildung zu begreifen und auch zu wollen, gleichzeitig aber ein deutliches Unbehagen dabei zu verspüren.

Da nur in einer eher kleinen Gruppe Konsens darüber besteht, dass alle Menschen Bildungsmöglichkeiten und Entfaltung durch Bildung erfahren sollen, so müssen die Argumente immer wieder neu aufgestellt werden.

Ein Bild vom Menschen muss gezeichnet werden, das ihn als Individuum ganzheitlich darstellt mit intellektuellen, emotionalen, ästhetischen, körperlichen, funktionellen, sozialen, künstlerischen und vielen anderen Persönlichkeitsbereichen. Es muss ein Bild vom Menschen als Menschheit gezeichnet werden, das ebenfalls ganzheitlich ist und dies bedeutet, dass jeder Mensch zur Menschheit gehört und durch seine Existenz zum Bild der Menschheit, zur Gesamt-Menschheit beiträgt. Menschen mit schwerster mehrfacher Behinderung sind Menschen und damit sind sie eben keine Besonderheit, keine Abartigkeit, kein »Fehlschlag der Natur«, sondern Bestandteil dieser Menschheit. Sie bestimmen mit, was Menschheit ist, allein schon durch ihre Existenz.

Damit verbunden muss sein, dass wir Abschied nehmen vom Durchschnittsdenken – den durchschnittlichen Menschen gibt es nicht –, und damit auch von allen »mainstreaming«-Gedanken. Das ständige Wechselspiel von individueller Bildung und Menschheitsbildung kann durch solche Verallgemeinerungen nur Schaden nehmen.

Die aktuelle UN-Konvention »Rechte behinderter Menschen« deutet bei wohlwollender Interpretation mit ihrem Inklusiongedanken so etwas an.

Wie kann dann Bildung für Bildungswissenschaftler, für Pädagogen beschrieben werden? Ein erneuter, knapper Versuch, der sicherlich vielfältiger Kritik zu unterziehen ist: Unter Bildung möchte ich die Partizipation am kulturellen Erbe der Menschheit verstehen. Partizipation ist sowohl ein aktiv gestaltender wie ein rezipierender Prozess. Man darf sich hier durchaus an den Gedanken der Akkommodation und Assimilation von Jean Piaget, dem Biologen, erinnert fühlen.

Menschen mit einer ausgeprägten kognitiven Einschränkung sind auf vielfältigste Weise in diesen Partizipationsprozess einzubeziehen, eben nicht nur auf kognitiv-intellektuelle. Die Traditionen des Lächelns und Lachens, die Gestaltungsmöglichkeiten von Kommunikation, die Geschichte der Bewegung des menschlichen Körpers und seiner kulturellen Varianten, die Grundlagen der Kommunikation und ihre immer wieder kreativen Verwandlungen sind für Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht nur wahrnehmbar, sondern auch gestaltbar.

Würden wir ein Lächeln zwischen Menschen tatsächlich ernst nehmen und ihm den Wert beimessen, den es hat, so ließe sich schnell erahnen, welche kulturelle Kraft Menschen haben, die wir bislang nicht zu den Kulturträgern zählen. Wenn Kultur das Insgesamt dessen ist, was Menschen im Laufe ihrer Entwicklung auf dieser Erde hervorgebracht haben, so kann nur eine willkürliche Beschränkung auf Teilaspekte dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen von der Partizipation ausgeschlossen werden.

Gänzlich ausgeschlossen, so muss man der Redlichkeit halber hinzufügen, werden sie natürlich nicht. Sie sind Bestandteile unseres kulturellen Handelns, allerdings nicht als aktive Rezipienten, oder aktive Gestalter, sondern als eher passive, erduldende Objekte unseres sozialen Bildungshandelns. Und hiermit beginnt die Kritik an der eigenen Disziplin, der Sonderpädagogik, die ich aber anderen überlassen möchte.

Was nun? Gemessen an der Gesamtbevölkerung alleine unseres Landes sind wir sehr wenige, die sich Gedanken um Menschen mit geistiger Behinderung machen, wir sind noch weniger, die sich diese Gedanken in Bezug auf Bildung unter wissenschaftlichem Aspekt machen. Daher wird zu überlegen sein, wie sich unsere Wünsche und Argumentationen wenigstens einer etwas breiteren pädagogischen Öffentlichkeit vermitteln lassen? Es scheint, als sei »man« an unseren Ideen, Vorstellungen und Lösungsvorschlägen nicht interessiert, ja, als würde man von ihrer Existenz auch gar keine Kenntnis nehmen wollen.

Was wir schon wissenschaftlich erarbeitet haben ist doch eigentlich Grundlagenforschung im Bereich Pädagogik, Bildungswissenschaft und Lernpsychologie. Aber, so scheint mir, niemand unserer »anderen« Kollegen greift wirklich darauf zurück.

Die Nicht-Inklusion umfasst auch die Wissenschaft, die sich mit eingeschränkt kognitiv aktiven Menschen befasst. Hier sehe ich die wichtigsten Aufgaben für die nächste Generation von Wissenschaftlern und Lobbyisten.

8 Wir hatten einen Traum

Von Schule war in diesem Artikel wenig die Rede. Dies liegt an der tief verwurzelten Skepsis des Autors gegenüber dem System Schule, so wie es sich seit Tausenden von Jahren in Variationen darstellt. Aber dennoch, wir hatten einen Traum von einer Schule ohne Zeugnisnoten. Wir hatten einen Traum von einer Schule ohne Versetzungszwänge, wir hatten einen Traum von einer Schule ohne 45 Minuten-Takt, ohne die Aussage »Klassenziel nicht erreicht«.

Wir träumten von einer Schule, in der mehrere Erwachsene mit wenigen Kindern zusammen arbeiten konnten. Wir hatten die Vorstellung, dies müsse eine Ganztagsschule sein, in der zusammen gegessen, geschlafen, gespielt, getobt und gelernt wird. Wir träumten davon, dass dies auch ohne rigide Lehrpläne, Stoffverteilungspläne und entsprechende administrative Kontrollen gehen könnte. Wir wollten das Gefühl, wir wollten die Sinne, wir wollten den Verstand, wir wollten den Körper, wir wollten den ganzen Menschen daran beteiligen, egal, welche Stärken oder Schwächen er im Einzelnen mit bekommen hatte.

Ausgeträumt?

Dieser Traum war Wirklichkeit, wir haben ihn für uns behalten, wir haben ihn nicht voller Begeisterung an andere weitergegeben. Wir haben uns gegenüber den Anderen definiert, abgegrenzt und wundern uns jetzt, dass die Anderen uns nicht wollen …

Ganz sicher, liebe Leserinnen und lieber Leser, vor allem lieber Herr Ackermann, kann man dies auch anders sehen. Ich sehe es heute jedenfalls so und erhoffe mir dadurch, etwas in kreative Bewegung zu bringen.

Anmerkung nach Schluss des Artikels: Wer sich mit Bildung, besonders mit Schulbildung befasst, kommt an Wolfgang Klafki nicht vorbei. Seine Didaktik hat Generationen begleitet, ja geprägt. Auch in der sogenannten Geistigbehindertenpädagogik spielen in der letzten Zeit die Aspekte der materialen und formalen Bildung eine Rolle. Leider wurde ich schon als Student damit aufs Unangenehmste »geplagt«, so dass ich auch in diesem vorliegenden Artikel sträflicherweise keinen Bezug darauf genommen habe. Mit Vergnügen konnte ich nun feststellen, dass Friedrich Creuzer in seinem Buch »Das akademische Studium des Altertums, nebst einem Plane der humanistischen Vorlesungen und des philologischen Seminarium auf der Universität zu Heidelberg« bereits 1807 in seiner Einleitung materiale und formale Bildung benennt und das Exemplarische gleich dazu einführt.

Dies als Bonbon für Besserwisser, für die Bildungsbeflissenen.

Literatur

Creuzer, Friedrich (1807): Das akademische Studium des Alterthums. Heidelberg. Neu herausgegeben 2007.

D’Annunzio, Gabriele (1995): Lust. Stuttgart.

Eco, Umberto (2004): Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. München.

Montaigne, Michel de (1998): Über die Knabenerziehung. Buch 1, 26. In: Montaigne, Michel de: Essais. Paris 1588. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M.

Gesellschaft rheinländischer Gelehrten (1839): Rheinisches Conversationslexikon oder encyclopädisches Handbuch für gebildete Stände. Köln.

[1] Das genauere Zitat ist mir nicht mehr erinnerlich, es handelt sich um das Thema meines Abituraufsatzes, ich bitte um freundlich pädagogisches Verständnis.

[2] Gabriele D’Annunzios erster Roman erschien 1889 und beschreibt überschwänglich eindrucksvoll das, was man gewohnt ist, die Dekadenz des »fin de siécle« zu nennen. Dass der Hauptteil des Romans Andrea heißt, macht vielleicht gewisse Sympathien nachvollziehbar …

Judith Riegert und Oliver Musenberg

Bildung und geistige Behinderung – zentrale Spannungsfelder und offene Fragen

Über das Verhältnis von Bildung und geistige Behinderung zu reflektieren ist nicht nur deshalb schwierig, weil »der« Bildungsbegriff für Menschen mit geistiger Behinderung bis in die jüngste Vergangenheit als »Bildungsunfähigkeit« oder »Schulbildungsunfähigkeit« lediglich die Exklusion von Bildung markierte, sondern vor allem aufgrund der generellen Unsicherheit, was heute überhaupt unter Bildung verstanden werden kann.

Bildung ist ein semantisches Schwergewicht, ein Begriff, der – trotz seines mittlerweile breiten Gebrauchs über die gesamte Lebensspanne von der frühkindlichen bis zur Altenbildung – im Alltagsverständnis vielleicht nach wie vor eher mit altsprachlichem Gymnasium, denn mit Kindergarten assoziiert wird. Bildung ist mit einem ähnlichen Konnotationshof ausgestattet wie der Begriff Kultur: »Während in ›Zivilisation‹ etwas Geselliges mitschwingt, liebenswürdiger Esprit und angenehme Manieren, ist ›Kultur‹ eine viel schwerblütigere Sache – nicht auf fröhlichem Du und Du mit der Welt, sondern kritisch und geistig hochfliegend. Entspricht ›Zivilisation‹ der Schablone vom Franzosen, so ›Kultur‹ dem Stereotyp vom Deutschen« (Eagleton 2001, 19). Ähnlich Bildung: ein als Selbstbildung der Subjekte bei Humboldt (1767–1835) mitunter recht einsam gedachtes Geschäft, das von jeglicher Kontamination durch gesellschaftliche Verwertungsinteressen fernzuhalten ist, um nicht auf das Niveau von Ausbildung oder Qualifikation zu sinken. Und tatsächlich wird stets darauf verwiesen, dass es sich bei Bildung um einen sehr deutschen Begriff handele, dem ein ebenbürtiges Äquivalent lediglich im russischen »Obrasovanie« begegne[1].

Der gerade beschriebene, zuweilen als elitär und historisch aufgeladen kritisierte Gebrauch des Bildungsbegriffs (so z. B. schon bei Theodor Litt 1959) bekommt seit einigen Jahren – insbesondere im Gefolge des kollektiven PISA-Schocks – eine vergleichsweise pragmatisch ausgerichtete Konkurrenz: Bildungspolitik und empirische Bildungsforschung: Erstere forciert seit PISA ein neues Steuerungsmodell, das sich an konkreten Kompetenzbeschreibungen und Bildungsstandards orientiert und diese in möglichst operationalisierter Form als Bildungsoutput messen will, um auf diese Weise Qualität zu entwickeln und zu sichern. Letztere liefert für dieses Vorhaben nicht nur das methodische Instrumentarium, sondern definiert zugleich – zumindest im Auge der Kritiker empirischer Bildungsforschung – die Spielregeln des Diskurses: »Empirische Forschungen definieren heutzutage des Gebiet des Sagbaren auf dem Feld des Pädagogischen. Was ihren regulativen Prozeduren nicht entspricht, wird als unwissenschaftlich ausgeschieden« (Meyer-Drawe 2008, 34). Diese Frontstellung von Bildungsphilosophie auf der einen und empirischer Bildungsforschung auf der anderen Seite wird wiederum, z. B. von Ricken (2006) als naiv beschrieben, »so dass eine entweder bloß empirisch oder philosophisch justierte Perspektivierung von ›Bildung‹ sich (über sich selbst) täuschen muss, wenn sie glaubt, sich entweder bloß auf Qualifikations- und Kompetenzprobleme begrenzen oder ein ›eigentlich Humanes‹ gegen vermeintlich ökonomisch-politisch bedingte Funktionalisierung zur Geltung bringen zu können« (2006, 18).

Die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung zeigt sich bislang recht unbeeindruckt von beiden Richtungen, der bildungstheoretischen, wie der empirischen.

Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Sonderpädagogik ab den 1970er-Jahren – parallel zur »realistischen Wende« in der Erziehungswissenschaft – primär mit dem Begriff der Förderung operierte, der sich insbesondere im Anschluss an die 1973 verabschiedeten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats »Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher« etablierte und seitdem die Begriffe Bildung und Erziehung hinter sich gelassen hat und zum – nicht nur administrativen – Mega-Begriff der Sonderpädagogik aufgestiegen ist (Förderschwerpunkt, Förderbedarf, Förderplan, Förderschule, Förderpädagogik, individuelle Förderung usw.). Auch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz verwenden in erster Linie den Begriff der Förderung. Dreher u. a. (2000) haben in ihrem Kommentar zu den Empfehlungen für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung auf die Problematik des Begriffs aufmerksam gemacht und Biewer kommt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff zu dem Ergebnis, dass Förderung als Zentralbegriff der Heilpädagogik fehl am Platz sei (2006, 154). Mittlerweile wird in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr nur Förderung kritisiert, sondern verstärkt Bildung thematisiert und somit wiederum an den erziehungswissenschaftlichen und bildungstheoretischen Diskurs angeknüpft (vgl. Ackermann 1990; Stinkes 1999 u. 2008b; Klauß/Lamers 2003). Im Folgenden möchten wir auf ausgewählte theoretische, empirische, didaktische und politische Problemstellungen im Verhältnis von Bildung und geistiger Behinderung aufmerksam machen.

1 Zwischen allseitiger Bildung und Bildungsattrappe

Gegen die vermeintliche Bildungsunfähigkeit von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung wurde in der Gründungsphase der Geistigbehindertenpädagogik in den 1960er-Jahren die »praktische Bildbarkeit« (Bach 1995, 69) sowohl als Begriff, wie auch als Praxis etabliert: »Angesichts der Möglichkeiten der geistig behinderten Kinder ist die anzustrebende seelisch-geistig-praktische Erzogenheit und Bildung gekennzeichnet durch ihre Gebundenheit an die konkrete Lebenswelt und die einfachen, praktischen Aufgaben, die sie stellt« (ebd., 68). Mit Bach liegt hierin die Eigenart des Bildungsziels der »Schule für Geistigbehinderte«, so dass sich entsprechende Bildungsprozesse von denen der »Schule für Lernbehinderte« nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheiden (vgl. ebd.). Explizit warnte Bach vor einem Bildungsabglanz (ebd., 24), der durch überhöhte Ziele und eine zu enge Orientierung »am Unterricht traditioneller Art« (ebd., 69) hervorgebracht würde. Diese Betonung des Eigencharakters der »Schule für Geistigbehinderte« und der Zuschnitt des Bildungsbegriffs auf praktische Bildung stehen bereits seit längerem zu Recht in der Kritik (vgl. Feuser/Bohl 1984, 256).

Der didaktischen Reduktion auf das Lebenspraktische und die »aktive Lebensbewältigung« (KMK 2000, 266) wird z. B. mit Jan Amos Komenský (1592–1670) (lat. Comenius) der Anspruch entgegengestellt, dass »alle in allem allseitig (omnes, omnia, omnino) unterrichtet werden« (zit. n. Schaller 2004, 53) sollen. Das Postulat des »allen alles« aus der »Didactica Magna« wird in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung als (a-)historisches Exempel aufgegriffen, um auf die Notwendigkeit einer allseitigen Bildung für alle Kinder und Jugendliche, mit und ohne Behinderungen aufmerksam zu machen (vgl. Klauß/Lamers 2003):

»Der Bildung bedürfen in gleichem Maße 1. Die Schwachbegabten wie die Talentvollen. Es ist im allgemeinen zu zeigen, daß die Bildung für jeden nöthig ist. Schon wenn wir die verschiedene Beschaffenheit der Menschen betrachten, werden wir dieses finden. Denn wer möchte bezweifeln, dass die geistig Beschränkten zur Entfernung des natürlichen Stumpfsinnes der Unterweisung bedürfen?« (Comenius o. J., 47). An anderer Stelle heißt es, dass Schulen nicht nur eine Institution für die Kinder einiger Privilegierter, sondern allgemeine Sammelorte der Jugend sein sollen, und zwar ausnahmslos für alle, ob arm oder reich, Knabe oder Mädchen, ob auf dem Land oder in der Stadt. Auch »insbesondere, weil gewissen Menschen [den von Natur Schwachbegabten und Bösartigen] ganz besonders Beistand zu leisten ist. Dem steht nicht im Wege, daß einige von Natur schwach und stumpfsinnig sind; denn dies spricht vielmehr für die allgemeine Bildung der Geister und treibt dazu« (ebd. 56). Und weiter heißt es: »Ja, wie ein löchriges Gefäß, das, oft ausgespült, zwar kein Wasser hält, doch gesäubert und reiner wird: so werden auch die Stumpfsinnigen und Beschränkten, wenn sie auch in Kenntnissen keine Fortschritte machen, doch in ihren Sitten veredelt, dass sie der Staatsbehörde und den Dienern der Kirche zu gehorchen verstehen« (ebd., 56). Und Comenius beschließt den Absatz: »Niemand werde also ausgeschlossen, wenn ihm nicht Gott Sinn und Verstand versagt hat« (ebd.).

Liest man also nach den oft zitierten Passagen noch ein wenig weiter, so drängt sich der Verdacht auf, dass die sonderpädagogische Rezeption von Comenius vielleicht verkürzt sein könnte und mit der Didactica Magna weder die Ausnahmslosigkeit (omnes), noch die allseitige Bildung (omnia), um derentwillen Comenius von der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in den Zeugenstand gerufen wird, historisch fundiert werden kann.

Diese Einschränkung wird jedoch durchaus wahrgenommen (vgl. Klauß 2006) und es ist wohl legitim, das »Alle Alles« als Metapher einer allseitigen Bildung zu verwenden.

Dass sich das Verständnis lebenspraktischer Bildung nicht in der Zubereitung von Obstsalat und der Orientierung im öffentlichen Personennahverkehr erschöpfen muss, zeigt z. B. ein Blick in die Fachdidaktiken. So leitet z. B. die Geschichtsdidaktik den Ausgangspunkt historischen Denkens aus einem lebenspraktischen Orientierungsbedürfnis ab, das einerseits durch die Erfahrung individueller oder kollektiver Kontinuitätseinbrüche (z. B. durch Umzug bedingter Schulwechsel oder Fall der Berliner Mauer) oder durch die konkrete Präsenz von Vergangenheit in der Gegenwart (bauliche Überreste, Formen des Brauchtums) motiviert werden kann (vgl. Rüsen 1996). Wenn Lebenspraxis auch als Kulturpraxis verstanden wird, kann die bisherige Verengung von Lebenspraxis im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gelöst werden.

Aus der Kritik an der lebenspraktischen Reduktion von Bildung, der einseitigen Betonung des formalen Bildungsaspekts und der Vernachlässigung der inhaltlichen, materialen Seite der Bildung als kulturelle Teilhabe haben Lamers und Heinen (2006) den Ansatz »Bildung mit ForMat« entwickelt, der sich – wie Georg Feusers entwicklungslogische Didaktik – eng an der bildungstheoretischen Didaktik Wolfgang Klafkis orientiert und die Elementarisierung von Bildungsinhalten – nicht zuletzt auch im Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit Komplexer Behinderung – in den Mittelpunkt rückt. Gerade hinsichtlich dieses Personenkreises kommt es oft zu einer Gleichsetzung von Inhalt und Methode, wenn z. B. Basale Stimulation oder Snoezelen ohne inhaltliche Kontextualisierung angeboten werden.

Anderseits können aber auch elementarisierte Bildungsangebote Gefahr laufen, letzten Endes wieder an dem Punkt zu landen, von dem sie sich eigentlich entfernen wollten: Die Überführung von z. B. Literatur in Farben, Formen, Klänge und Gefühle lässt den Ausgangspunkt weit hinter sich und es führt auch nicht unbedingt ein direkter Weg zurück zur Quelle. Bildung kann dann zum Geheimwissen des Lehrers werden, dessen Schüler sich relativ ahnungslos in Lernlandschaften bewegen, deren inhaltlicher Überbau ihnen verborgen bleibt und sie somit in einer zwar publikumswirksamen Inszenierung agieren, jedoch ohne das »Stück« zu kennen. Wo verläuft die Grenze zwischen Bildung und Bildungsattrappe?

2 Zwischen »Ignoranz gegenüber dem Selbstverständlichen«[2] und Ökonomisierung der Bildung

PISA und Bologna sind inzwischen zu prominenten Schlagwörtern avanciert, die weit über den bildungspolitischen Rahmen hinaus Verwendung und Beachtung finden. Sie stehen für einen grundlegenden Wandlungsprozess, in dem sich das deutsche Bildungssystem gegenwärtig befindet. Nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei internationalen Vergleichsstudien und einem medial angeheizten öffentlichen Entsetzen sind politisch Verantwortliche wie Vertreter des Bildungssystems gleichermaßen unter Zugzwang geraten. Mit neuen, outputorientierten Steuerungsinstrumenten und einer Ausrichtung an anwendungsorientierten Basiskompetenzen wollen sie Schule und Hochschule nun zukunftsfest machen und verhindern, dass Deutschland auf dem globalen Wissens- und Wirtschaftsmarkt den Anschluss verliert.

Das aus dem angloamerikanischen Bildungsraum stammende Literacy-Konzept, hierzulande meist mit Grundbildung übersetzt, ist ein Element dieser grundlegenden Kehrtwende. In argumentativer Distanzierung zu ›trägem Wissen‹ sollen zukünftig – gemäß der Überschrift des OECD-Reports zur PISA-Studie 2000 »Lernen für das Leben« – stärker funktionale und fachübergreifende Basiskompetenzen in den schulischen Blick genommen werden, die für gesellschaftliche wie berufliche Teilhabe als wesentlich erachtet werden und ein Fundament für lebenslanges Weiterlernen schaffen. Bildungsprozesse werden nicht nur konsequent vom Ergebnis her gedacht, sondern sollen anhand outputorientierter Leistungsstandards, die durch Kompetenzstufenmodelle untersetzt werden, auch konsequent vom Ende her überprüft und gesteuert werden. Nachdem inputbezogene Vorgaben, z. B. in Form von Lehrplänen, gemessen an den Resultaten von PISA und Co. eher zu enttäuschenden Erträgen geführt haben, erhofft man sich von einer Orientierung am sogenannten Neuen Steuerungsmodell eine erfolgreichere Sicherung und Weiterentwicklung schulischer Qualität (vgl. Klieme 2004; Klieme u. a. 2007; Köller 2008).

Konzepte wie Literacy, Bildungsstandards und Kompetenzstufenmodelle sind nicht nur zu bildungspolitischen Hoffnungsträgern, sondern auch zu Kristallisationspunkten eines kontrovers geführten bildungstheoretischen Diskurses geworden.

Insbesondere die neoliberale Philosophie dieser Bildungsreformen und deren Ausrichtung am »Ideal totaler Brauchbarkeit« (Feltes 2006, 450) werden deutlicher Kritik unterzogen. Das Konzept wende sich ab vom Ideal des mündigen Bürgers, an dessen Stelle das Ideal des bloß funktionsfähigen Bürgers, der gut integrierten Persönlichkeit gesetzt werde (vgl. ebd., 449). Gerade am Beispiel von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung drängt sich die Frage auf, was im Rahmen eines Steuerungsmodells, das einseitig operationalisierbare, kognitiv ausgerichtete und wirtschaftlich verwertbare Kompetenzen fokussiert, mit solchen Kindern und Jugendlichen geschieht, die die definierten Mindeststandards nicht erfüllen (vgl. Musenberg u. a. 2008). »Wenn Bildung vorab als Leistung unter dem Blickwinkel ihrer ›gesellschaftlich-ökonomischen Verwertbarkeit‹ (Fuchs 2003, 176) betrachtet wird, impliziert dies eine Benachteiligung von (behinderten) Menschen, welche die geforderten literacy-Kompetenzen nicht erbringen können« (Moser Opitz 2006, 112), verbunden mit der Gefahr einer Neuauflage des Konstrukts des ›bildungsunfähigen Kindes‹ und einer Infragestellung des Bildungsrechts (vgl. Haeberlin 2006, 10). Exklusionstendenzen bei Einführung outputorientierter Steuerungsmechanismen zeigen auch Erfahrungen aus den USA. So tendieren Schulen dazu, leistungsschwache Schülerinnen und Schüler in deutlich verstärktem Maße in den Sonderunterricht zu überweisen, sofern diese dann nicht an den Leistungstests teilnehmen müssen, die für die Schule verbindliche Konsequenzen haben (Köstermenke 2008, 266; Brügelmann 2004, 427 f.).