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Polychrom

Eine Familiensaga

Constanze Schütt

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

Titelbild: Constanze Schütt

ISBN: 978-3-99051-020-9 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-020-9 – E-Book

*

Inhalt

Prolog

Teil 1

PARIS, JANUAR 2016

INSEL ISLAY,

PARIS, JULI 2016

HEIDELBERG,

INSEL ISLAY, MAI 1955

EDINBURGH, JULI 2016

MÉRIDA, SPANIEN,

EDINBURGH, JULI 2016

EDINBURGH,

EDINBURGH,

EDINBURGH,

EDINBURGH,

EDINBURGH,

Teil 2

BERLIN, 15. OKTOBER 1992

BERLIN, 16. OKTOBER 1992

LONDON, 7. OKTOBER 1993

LONDON,

LONDON,

INSEL ISLAY, 15. APRIL 1994

EDINBURGH, 20. Mai 1994

INSEL ISLAY, 9. JUNI 1994

INSEL ISLAY, SOMMER 1955

INSEL ISLAY, 9. JUNI 1994

INSEL ISLAY, 28. AUGUST 1997

Teil 3

INSEL ISLAY, JULI 2016

INSEL ISLAY, 28. AUGUST 1997

INSEL ISLAY, JULI 2016

EIN ABSCHIED VON ISLAY

EDINBURGH,

EDINBURGH,

*

Für Tobias, der geblieben wäre.

*

Und die Jahre gingen wohl auf und ab,

Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,

Und in der goldenen Herbsteszeit

Leuchtet’s wieder weit und breit.

Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,

So flüstert’s im Baume: „Wiste ’ne Beer?“

Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: „Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick gew’ di ’ne Birn.

aus: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Theodor Fontane

*

Prolog

Nachts ist die Stille laut.

Nachts wirkt alles bedrohlicher, unwirklicher. Und doch geben wir uns nachts unserem Schlaf hin. Schalten alle unsere Schutzmechanismen und Reflexe aus, um in der Dunkelheit unsere tiefste Erholung zu finden.

Ist es nicht seltsam? Während Raubtiere diese Dunkelheit nutzen, um sich in ihr zu verstecken, sich auf ihren Angriff vorzubereiten – sich vor ihrer Beute unsichtbar zu machen –, sind wir ihnen schlafend vollkommen schutzlos ausgeliefert.

Und doch – auch sind bei uns Schlafenden die Instinkte geschärft.

Sie schlief. Bei geöffnetem Fenster. Draußen donnerten die Wellen des Meeres. Wie ein gigantischer Riese atmete es ein und aus, ein und aus. Die Vorhänge schienen sich im Takt seines Atems sanft zu heben und wieder zu senken. Der Vollmond leuchtete hell vom wolkenlosen Himmel und warf auf ihre glatte junge Haut einen silbrig glänzenden Schein. Ruhig hob sich ihr Bauch und senkte sich wieder. An ihrem schlanken Hals pulsierte zart und gleichmäßig eine Arterie, eifrig darauf bedacht, in jeden Bereich dieses jungen gesunden Körpers das Leben fließen zu lassen – ein Leben, das noch so lange hätte fortdauern sollen.

Schlagartig öffnete sie die Augen. Da war etwas! Sie hatte es gehört! Hastig schnellte sie hoch. War es das Baby? Angestrengt lauschte sie in die dunkle Stille.

„Oder irre ich mich?“

Die Instinkte einer Menschenmutter sind wie die einer Löwin. Bei dem kleinsten Wittern einer Gefahr ist jede Faser dazu bereit, das Kind zu verteidigen – mit dem eigenen Leben.

Sollte sie nachsehen? Noch einmal lauschte sie und wägte ab. Wenn sie jetzt aufstünde, Geräusche erzeugte und das Licht einschaltete, könnte sie das Baby tatsächlich wecken. Dies nicht zu tun, war nach den vergangenen schlaflosen Nächten auch in ihrem eigenen Interesse. Schließlich entschloss sie sich dazu, sich wieder in die weichen Kissen sinken zu lassen. Sie fühlte das kühle Laken auf ihrer Haut und fröstelte leicht, zog die Decke ein Stück höher und schloss die Augen.

Ein kalter Hauch berührte ihren Arm.

Sie fuhr hoch. Vernahm ein sich entfernendes Rumpeln. Ein gebeugter Schatten, der sich in der Dunkelheit des Flurs verkroch.

„Es ist etwas hier.“ Ohne jemanden gesehen, ohne ein fremdes Atmen vernommen zu haben, spürte sie die Anwesenheit einer weiteren Existenz.

Vor Angst traten ihr plötzlich Tränen in die Augen.

Still wünschte sie sich, dass er es wäre. Denn er würde in guter Absicht kommen. Doch sie fühlte das Unheil in der Luft, konnte das Unglück förmlich greifen. Ihre Haut schmerzte, als würde man sie in Eiswasser baden.

Angestrengt blickte sie in die Dunkelheit. Ein schwarzer kurzer Schatten, der über den Flur huschte und schließlich unerkannt mit der Dunkelheit verschmolz.

Schlagartig wurde ihre Kehle trocken.

„Wer ist dort?“ Ihre Stimme klang ungewöhnlich schrill und heiser zugleich. Hastig sah sie sich in dem dunklen Zimmer um. Durch das Mondlicht erkannte sie die Umrisse der Einrichtung. Ihre Atmung wurde flacher, ihr Puls raste. Die Wände, die sie stumm anstarrten, schienen zu ahnen, dass das Unglück kurz bevorstand. Das schwarze Klavier gegenüber ihrem Bett wirkte, als würde es langgesichtig und hohlwangig versuchen, sie zu warnen, und könnte doch vor Schreck keinen Laut mehr von sich geben.

„Ich muss zu meinem Kind. Wir müssen aus dem Haus!“

Sie schlug die Decke zur Seite und stieg mit einem Mal aus dem Bett. Als sie mit ihrem kaltschweißigen Körper im Luftzug stand, fror sie augenblicklich und zitterte. Der schwarze Flur lag abwartend vor ihr. Lockte er sie heimtückisch in das Unglück hinein?

„Beschütze dein Kind! Fliehe!“ Sie schärfte sich diesen Satz ein und lief auf den dunklen Flur zu – nur ein Zimmer trennte sie von ihrem schlafenden Säugling. Sie dachte an seine pfirsichfarbene Haut, die kleinen Fältchen an seinem Hals, an denen sie sich nicht satt riechen konnte, die kleinen Füße, die sie so gern küsste, die Stelle an seinem Nacken, die nach Paradies duftete. Entschlossen lief sie los, um zu ihrem wehrlosen Kind zu eilen.

Doch er kam. Ein großer schwarzer Schatten bewegte sich auf sie zu.

Trocken blieb ein Schrei in ihrer Kehle stecken, als das blanke Entsetzen von ihr Besitz ergriff. Der einzige Fluchtweg aus diesem Grauen war das Fenster hinter ihr, aber dann würde sie ihr Kind im Stich lassen! Sie stürzte sich auf die amorphe Gestalt, die sich vor ihr auftürmte. Stieß dieses Grauen zur Seite. Wie ein gehetztes Tier entschied sie sich zum Gegenangriff, um ihr Junges zu schützen. Für einen kurzen Moment dachte sie, sie könnte der undefinierbaren Gestalt entkommen, doch augenblicklich wurde sie voller Gewalt an den Haaren zurückgerissen. Mit so einer Wucht, dass sie dachte, es müsste ihr das Genick brechen.

Das Baby schrie.

„Beschütze dein Kind.“

Während sie verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff dieser dunklen Gestalt zu winden, sah sie etwas im Mondschein aufblitzen. Metallisch. Kurz darauf fühlte sie, wie etwas Kühles an ihren Hals gepresst wurde. Etwas Scharfes.

Ein kurzer, heftiger Schmerz.

Sie hörte ein gurgelndes, Furcht einflößendes Geräusch und stellte machtlos fest, dass es ihrer eigenen Kehle entsprang. Im nächsten Moment schmeckte sie den vertrauten metallischen, warmen Geschmack in ihrem Mund, der so viel Leben verheißen kann – und so viel Tod.

Das Meer atmete weiter – ein und aus, ein und aus.

Die Wellen fluteten an den Strand und strömten wieder zurück. In einem immer fortdauernden Rhythmus, als würden sie pflichtbewusst und eifrig einer Aufgabe folgen, von der nur sie selbst wussten.

Es war still.

Langsam versteckte sich der Mond hinter den Wolken, als würde er nach einer schaurigen Vorstellung die Vorhänge schließen und sich zurückziehen. Ein zynischer und stiller Zeuge, der beharrlich seinen beobachtenden Platz behielt und doch nie seine Geheimnisse preisgab.

*

Teil 1

*

PARIS, JANUAR 2016

Paris war nicht fair.

Es war dieser Stadt vollkommen gleichgültig, was hinter den Mauern ihrer hochgezogenen, eng aneinandergereihten, ornamentierten und streng blickenden Häuser geschah. Was den Menschen dort widerfuhr – ob sie trauerten, ob sie liebten.

Immerfort präsentierte die Metropole den einflutenden Touristenmassen dasselbe freundliche und als romantisch interpretierte Gesicht. Sie offenbarte nicht die Einzelschicksale, die sie augenblicklich zu einer ganz gewöhnlichen Stadt degradieren würden. Einer schmutzigen Stadt.

An diesem Tag hasste Claire Paris. Für sie war der Eiffelturm, auf dem zahlreiche kopflose Männer ihren verwöhnten Frauen Heiratsanträge machten, nicht mehr als ein garstiges graues Skelett, das mahnend wie ein erhobener Zeigefinger an den allgegenwärtigen Kummer erinnerte.

Als sie voll beladen mit Einkaufstüten aus dem Supermarkt trat, schlug Claire ein eisiger Wind entgegen, der kleine Eiskristalle vor sich her trieb. Sie peitschten der jungen Frau provozierend ins Gesicht. Augenblicklich schlang sie ihren mintgrünen Schal noch enger um ihren Hals. Wenn sie zu Hause ankam, würde sie Papa zuallererst eine heiße Tomatensuppe kochen, mit vielen Chiliflocken – das wärmte bei der Kälte.

Ob sie auch die innere Kälte vertrieb?

Seitdem Mama gestorben war, konnte ihr Vater praktisch nicht mehr für sich selbst sorgen. Den ganzen Tag saß er vollkommen lethargisch in seinem Sessel und sah sich im Wechsel Bilder von längst vergangenen Tagen an oder weinte. Er vermochte auch beides gleichzeitig zu tun.

Dieses Verhalten nervte Claire. Auch sie hatte getrauert, war verzweifelt, aber ihr Leben ging weiter. Mama hatte so lange an Krebs gelitten, es war am Ende kaum noch mit anzusehen gewesen. Wie ein Schatten der einst vor Energie sprühenden Frau lag sie in ihrem Bett. Zu schwach, um sich einen Löffel Suppe zum Mund zu führen.

Für Claire war dieser Anblick unerträglicher gewesen, als zu wissen, dass ihre Mutter Vivianne nun frei von Schmerzen war und irgendwo geduldig auf ihre Familie wartete, bis sich auch für diese der Vorhang schloss.

Feindselig betrachtete Claire ein ihr entgegenkommendes Pärchen, das verliebt turtelte und sich gegenseitig vermeintlich unanständige Dinge ins Ohr flüsterte. Kichernd schlangen sie eng die Arme umeinander und gingen, ohne Claire wahrzunehmen, an ihr vorbei. Mit ihren Gedanken waren sie vermutlich schon bei dem, was sie gleich in ihrer warmen Wohnung tun würden.

Claire schüttelte sich. Eine Stimme sagte ihr, dass sie dieses Verhalten nur deshalb als unangebracht empfand, weil sie selbst bis vor Kurzem ebenso auf andere gewirkt haben musste. Verliebt, unbeschwert, grenzenlos glücklich.

Doch sie selbst war schuld, dass sich die Situation verändert hatte. Vor circa drei Monaten hatte sie die Beziehung zu Cedric beendet.

Er studierte Pharmazie und arbeitete einige Ecken weiter in einer Apotheke. Claire sah auf die Uhr und stellte fest, dass er um diese Zeit meistens die Apotheke verließ und auf dem Nachhauseweg an ihrer Wohnung vorbeilief – wie jeden Tag.

Augenblicklich beschleunigte die junge Frau ihren Gang und kramte hastig in ihrer Handtasche nach den Hausschlüsseln. Auf keinem Fall wollte sie ihm begegnen! Neulich besaß er sogar die Frechheit, in dem Museum zu erscheinen, in dem sie als Studentin der Kunstgeschichte im Archiv arbeitete. Wieder und wieder bat er um Verzeihung und beteuerte Claire seine endlose Liebe.

Die Sache war für Claire abgeschlossen. Sie in der Zeit zu betrügen, als sie ihn am meisten gebraucht hätte, konnte sie Cedric nicht verzeihen.

In den endlos vielen Gesprächen, die darauf folgten, war er sogar so dreist gewesen, ihr vorzuwerfen, wie sehr er unter ihrer mangelnden Zuneigung im Endstadium der Krankheit ihrer Mutter litt!

Claire lachte laut und verbittert auf, als sie die große Holztür zu dem mehrstöckigen Altbau aufschloss, in dem sie mit ihren Eltern lebte. Doch gleichzeitig stiegen ihr heiße Tränen in die Augen.

„Warum? Warum ausgerechnet jetzt?“, sagte sie leise zu sich. Schon vor einigen Wochen waren Familie und Freunde besorgt wegen ihrer permanenten Ohnmachtsanfälle. Alle schoben es auf die Belastung ihrer Seele durch die Krankheit ihrer Mama. Genauso wie ihre ständige Appetitlosigkeit und Übelkeit. Als dann das zweite Mal ihre Regel ausblieb, war sie sich sicher, dass ein neues Leben in ihr heranwuchs.

Der Termin beim Arzt verlieh ihr schließlich Gewissheit.

Verzweifelt hatte sie sich an ihre sterbende Mutter gewandt, die überglücklich darauf reagierte. Ihre letzten Worte waren: „So gerne hätte ich mit dir zusammen und dem kleinen Zwerg alle Fragen aufgeklärt. Es gibt so viel zu entdecken.“

Claire beruhigte damals ihre Mutter und schenkte ihren Worten nicht allzu viel Bedeutung. Ihre Sinne mussten vom Morphium benebelt sein. Sanft streichelte sie ihr über die Haare, bis sie einschlief. Das Geheimnis, dass Claire schwanger war, blieb zunächst zwischen ihr und ihrer sterbenden Mutter, die diese Botschaft glücklich in eine andere Welt mitnahm.

Nachdem die junge Frau sechs Treppenabsätze zurückgelegt hatte, erreichte sie keuchend und nach Luft schnappend ihre Wohnungstür. Es widerstrebte Claire aufzuschließen, den Geruch schlecht gelüfteter und überheizter Zimmer wahrzunehmen und ihrem Vater alles hinterherzuräumen. Nach dem Tod seiner Frau schien er der Meinung zu sein, Essensreste am Boden würden sich irgendwann von selbst auflösen. Lange hielt Claire das nicht mehr aus. Zwar wohnte sie nicht mit ihrem Vater in ein und derselben Wohnung, aber genug Distanz konnte sie auch nie gewinnen, da sie mit Beginn ihres Studiums die Gaubenwohnung direkt über ihren Eltern bezogen hatte.

Vor gar nicht allzu langer Zeit schmiedeten Claire und Cedric Pläne, gemeinsam in ein schönes großes Zuhause zu ziehen. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, als sie in der schwierigsten Zeit ihres Lebens zu betrügen. Und ausgerechnet von diesem Mann trug sie nun ein Kind unter dem Herzen! Und er rief permanent an, verfolgte sie regelrecht, beteuerte immer wieder, wie leid es ihm tue, wie sehr er sie vermisse. Oft hatte sie darüber nachgedacht, ihm von der Schwangerschaft zu erzählen. Aber wie sähe das bloß aus? Eine betrogene Frau, die nur deshalb zu einem Mann zurückkehrte, weil sie ein Kind von ihm erwartete? Nein! Heutzutage musste man nicht mehr verheiratet sein, um ein Kind großzuziehen!

Bald wollte sie es Papa sagen. Auch er würde sich darüber freuen, würde neues Licht in sein Leben lassen. Und während sie in Ruhe zu Ende studierte und im Museum arbeitete, würde er auf ihr Kind achtgeben und hätte somit wieder eine sinnvolle Aufgabe.

Wie erwartet schlug Claire ein unangenehm muffiger Geruch entgegen, als sie die Wohnungstür aufschloss. Natürlich saß ihr Vater Desmond auch dieses Mal auf dem Sofa und hielt die Fotos in der Hand, die ihn und seine Frau zusammen zeigten. In glücklichen und gesunden Tagen.

„Papa, ich bin es!“ Keine Reaktion. Obwohl sie sich sicher war, dass ihr Vater sie praktisch gar nicht wahrnahm, redete sie einfach weiter und riss dabei die Fenster auf. „Ich habe eingekauft! Heute gibt es Tomatensuppe mit ein wenig Toast und Salat schneide ich uns auch dazu auf!“

Ein murrendes Seufzen ertönte aus dem Sessel, während durch die geöffneten Fenster die kühle und frische Januarluft in die Wohnung drang.

„Jetzt steh auf und hilf mir ein wenig, mach doch auch mal etwas Ordnung!“, schalt Claire ihren Vater.

„Cedric hat vorhin angerufen!“, erwiderte ihr Vater, ohne auf ihre Aufforderung einzugehen. Seiner Stimme entnahm Claire, dass er zuvor geweint hatte. Vor zwei Wochen hätte sie noch darauf reagiert, doch mittlerweile ignorierte sie seinen jammernden Tonfall. Sie konnte ihm dabei nicht helfen, das machte Mama auch nicht mehr lebendig.

„Was wollte Cedric?“, fragte Claire möglichst unbekümmert.

Ächzend erhob sich ihr Vater aus dem Sessel. „Mit dir reden. Du darfst nicht so hart zu ihm sein, Claire. Es ist passiert, ja, aber versuche ihn doch auch zu verstehen. Du hast ihn völlig verkümmern lassen. Es war ein Hilfeschrei.“

Wütend donnerte die junge Frau die Einkaufstüte auf die Arbeitsplatte der Küche. „Ein Hilfeschrei, ja? Bloß weil ich mir keine romantischen Kinofilme mit ihm ansehen wollte, während meine Mutter im Sterben lag?“

„Claire, immerhin hat er es dir gesagt, er hätte es dir auch verschweigen können. Doch als Zeichen seiner Ehrlichkeit beichtete er es dir, er konnte dich nicht anschwindeln. Ihr seid doch nicht mal verheiratet.“

„Ach, gegenseitige Treue ist erst wichtig, wenn man verheiratet ist? Das erklärt einiges“, funkelte sie ihren Vater wütend an.

„Claire, sei bitte nicht kindisch!“

„Schreib du mir nichts vor! Wir alle haben unsere eigene Art, mit unserer Trauer umzugehen. Und ich möchte momentan nicht über Cedric nachdenken. Es gibt ihn für mich nicht mehr!“ Ihr Vater schwieg und im selben Moment tat es Claire leid, dass sie ihn so angeherrscht hatte. „Papa, ich wüsste einfach nicht, wie ich ihm jemals wieder vertrauen könnte“, sagte sie nun sanfter.

„Er ist ein guter Junge, er könnte so gut für dich sorgen. Auch für ihn war es eine Extremsituation. Es wird dir nichts passieren, wenn du ihm noch eine Chance gibst!“

Claire lächelte und versuchte, das Thema höflich zu einem Ende zu bringen. Es war ihr einfach zuwider, sich darüber zu unterhalten. Niemand versuchte sie zu verstehen und von allen Seiten hörte sie nur wohlgemeinte Ratschläge.

„Schneidest du schon mal etwas Brot auf, Papa?“

Claire stellte ihrem Vater demonstrativ Brot, Messer und Schneidebrett hin und schickte sich an, die restlichen Einkäufe in den Schränken zu verstauen. Als sie die Badezimmerartikel in den Badschrank räumen wollte, warf sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewusst einen Blick auf ihr Spiegelbild. Regungslos verharrte sie davor. Was war denn bloß mit ihr geschehen? Ihre sonst so vollen dunklen und langen Locken hingen ihr in glatten, matten Strähnen über die Schultern. Ihre schön geschwungenen, vollen Lippen waren blass und spröde. Anscheinend nahmen sie die letzten Ereignisse seelisch doch mehr mit, als sie sich eingestehen wollte.

Wie immer vermied sie es, sich direkt in die Augen zu sehen. Cedric, dieser hoffnungslos übertriebene Romantiker, beteuerte immer wieder, wie außergewöhnlich schön ihre Augen seien.

Claire lachte spöttisch auf. „Wer weiß, was er jetzt einem anderen Mädchen für Märchen erzählt?“

Claire schüttelte sich. „Gruselig!“ Sie drehte sich vom Spiegel weg und ging zurück in die Küche, um ihrem Vater beim Zubereiten des Essens zu helfen.

Als sie schließlich beim Abendbrot saßen, herrschte unerträgliches Schweigen. Papa zog sich in seine Gedankenwelt zurück und Claire sich in ihre eigene.

„Ich mag Cedric sehr gerne“, bemerkte ihr Vater plötzlich, während er mit zittriger Hand den Löffel Suppe zum Mund führte und dabei das meiste der roten dampfenden Flüssigkeit wieder platschend zurück in den Teller tropfte.

Claire sah auf. Als sie ihren Vater betrachtete, wie er so zusammengesunken auf seinem Stuhl saß, sich mit zittrigen Händen die Suppe einverleibte und so eisern an die Freundlichkeit und Ehrlichkeit Cedrics glaubte, brach es ihr fast das Herz. Nichts war mehr von dem einst so schillernden Herzchirurgen übrig geblieben, der stets mit gestrafften Schultern das Haus verließ. Er war nur noch ein alternder und trauernder Mann ohne einen Funken Energie in seinem Körper.

Claire dachte an ihre Kindheit zurück. Wochenende für Wochenende verbrachten sie und ihr Vater die heißen Nachmittage in den Sommerferien auf alten Bahnhöfen und warteten mit dem Fahrplan in der Hand, wann der nächste Zug an ihnen vorbeikommen würde.

Sie hielt die Erinnerungen in ihrem Herzen gefangen wie einen kleinen seltenen Vogel in einem kostbaren Käfig.

Sie hörte die Grillen im Gras, das sanfte Rauschen des Schilfs, wenn ein heißer Luftzug die Spitzen der Blätter streifte. Eine Fliege, die wütend in der Ferne summte. Sie spürte die heiße Sonne ihren Nacken kitzeln, das kühle Eis in ihrer kleinen Kinderhand. Sie roch diesen vertrauten Geruch von Holz, Eisen und Pech. Und schließlich empfand sie dieses genüssliche Gefühl, wenn ihr Vater sagte: „Er kommt!“ Die Stille, die dann eintrat, als würde jeder Grashalm, jede Grille, jede kleine Fliege wissen, was jetzt passierte. Und endlich das leise verheißungsvolle Surren der Gleise. Der kühle Luftzug, der durch das Luftkissen entstand, das die Lok vor sich her schob, spielte neckisch um ihre nackten Kinderbeine.

Und dann war sie da! Die feuerrote Lok mit den weiß-rot gestreiften Waggons war innerhalb weniger Sekunden von dort hinten unmittelbar zu Claire gelangt.

„Wink, schnell, wink!“, ermutigte sie ihr Vater Desmond.

Schüchtern hob sie ihre kleine Hand und winkte, woraufhin die Lok mit ihren runden Augen zwinkerte und ein hohes Pfeifen von sich gab, was die kleine Claire in höchstes Entzücken versetzte.

Es donnerte und peitschte. Und dann war es genauso schnell vorbei, wie es angefangen hatte. Was blieb, war das leise und erleichterte Nachsurren der Gleise – dieses metallisch prickelnde Geräusch.

Claire riss sich aus ihren Erinnerungen. Sie glitten wie rinnender Sand durch eine ausgestreckte Hand. Zu fern waren diese Stunden und würden nie wieder zurückkommen.

Die Stille am Tisch drohte die junge Frau zu erdrücken. Sie hatte das Gefühl, ihr Vater nähme gar nicht mehr wahr, dass hier noch ein weiterer und vor allem lebendiger Mensch mit ihm am Tisch saß – der zufällig auch noch seine Tochter war.

Claire spürte den inneren Drang, irgendwohin ans Meer zu fahren, wo sie keiner kannte, wo sie sich völlig zurückziehen konnte. Um die Möglichkeit zu bekommen, nach allem, was gerade in ihrem Leben geschah und bald geschehen würde, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn man von einer Bühne weiter zurücktrat, konnte man das Gesamte besser erfassen und leichter den Blickwinkel ändern.

„Hat es dir geschmeckt, Papa?“

Ein Nicken. „Ich räume das weg, Claire, du hast heute schon genug für mich gemacht“, sagte ihr Vater und schob seinen Stuhl nach hinten.

Sie lächelte dankbar und ging ins Wohnzimmer, um noch einmal zu lüften und das verwahrloste Chaos, das ihr Vater durch stundenlanges Auf-dem-Sofa-Sitzen und Fotos-Anschauen verursacht hatte, etwas zu beheben.

Sorgfältig strich sie den Stoff des Sessels glatt, schüttelte die Wolldecke aus und faltete sie. Daraufhin beugte sie sich über die herumliegenden Bilder, legte sie zusammen, klopfte sie einmal am Tisch auf, um sie dann ordentlich in ihren Umschlag zurückzustecken.

Das Fenster fiel mit einem lauten Knall zu. Claire blieb vor Schreck beinah das Herz stehen und sie ließ unbedacht die schön geordneten Fotos fallen.

„Tut mir leid, Claire!“, ertönte es aus der Küche. „Ich habe hier das Fenster geöffnet und vergessen, es zu sagen! Es zieht doch immer so!“

Die junge Frau atmete mit einem angestrengten Seufzen aus und kniete sich auf den Boden, um die Fotos von Neuem zu sortieren. Doch sie hielt plötzlich inne. Schon so oft hatte sie mit ihren Eltern die alten Bilder angesehen. Sie meinte, alle auswendig zu kennen. Doch nicht dieses.

Ein Bild fesselte auf unerklärliche Weise ihre Aufmerksamkeit.

Vorsichtig nahm sie es in die Hand. Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie, an den Rändern schon leicht gelblich angelaufen und etwas eingerollt. Sie wusste nicht warum, doch das Motiv zog sie augenblicklich in seinen Bann, obwohl sie die Abgebildete nicht kannte. Es handelte sich um eine wunderschöne Frau, Anfang bis Mitte zwanzig, mit einem schmalen und ebenmäßigen Gesicht. Schwarze lange Haare waren zu einem notdürftigen und lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem sich widerspenstige Locken gelöst hatten und spielerisch ihr Gesicht rahmten. Ihre Augen blickten den Betrachter wachsam und doch auf eine unerklärliche Art liebevoll und warm an. Ihre vollen dunklen Lippen formten sich zu einem überraschten, schüchternen Lächeln. Sie trug ein helles kurzes Spitzenkleid. Die Hände hatte sie artig über ihrem Bauch gefaltet.

Sie schien in einem Garten zu sitzen, auf einer alten Bank mit schmiedeeisernen Beschlägen. Die Frau war umgeben von Bäumen und Ranken, Rosen und anderen herrlich angelegten Blumen. Claire meinte, durch das Pflanzendickicht hindurch einen Brunnen erkennen zu können.

Der Blick dieser jungen schönen Frau ließ Claire nicht los. Sie war eine Studentin der Kunstgeschichte und verstand sich darauf, jede Skulptur, jedes Gemälde und auch jedes Foto eingehend zu betrachten, den Blickwinkel zu verändern, Details der festgehaltenen Gestik und Mimik in sich aufzunehmen, die andere nur flüchtig wahrnahmen.

Das Lächeln der Frau war das eines Menschen, der vorsichtiger geworden war, der schon Dinge erlebt und gesehen hat, die ihm zugesetzt, ihn scheuer gemacht haben. Die Unbekannte auf dem Bild schien sich überraschenderweise für die damalige Zeit – gemessen am scheinbaren Alter des Bildes – nicht viel aus gesellschaftlichen Konventionen zu machen. Das verrieten Claire die unbekümmerte Hochsteckfrisur und die wilden Locken, die sich nicht einsperren ließen.

Eine Rebellin. Eine Individualistin.

Und doch vermochte etwas oder jemand, diese Frau zum Lächeln zu bringen. Es schien jemanden zu geben, dem sie vertraute und mit dem sie diesen einen stillen und intimen Moment teilte.

Wer war der Mensch hinter der Kamera? Wo wurde das Bild aufgenommen? Wer war sie? Und warum befand sich dieses Bild unter den Erinnerungen ihrer Eltern? Langsam drehte Claire das Foto um und las eine feine Handschrift.

Edinburgh, 14. August 1957

„Wer bist du?“, flüsterte Claire das Bild an und es schien ihr, als würde die Frau darauf ihren Gesichtsausdruck verändern. Als blicke sie provokanter zurück, als wolle sie ein gut gehütetes Geheimnis nicht so leicht preisgeben.

„Warum findest du es nicht selbst heraus?“

Es lief Claire kalt den Rücken hinunter und sie schüttelte sich. Unvermittelt wurde sie aus ihren Gedanken und ihrer Verwirrung gerissen, als sie merkte, dass jemand hinter ihr stand.

Sie drehte sich um und erkannte ihren Vater Desmond. In der einen Hand die Salatschüssel, in der anderen das Geschirrtuch. Er verharrte regungslos und starrte sie aus weit geöffneten Augen an.

„Du hast mich erschreckt“, lachte Claire nervös.

„Was hast du da?“, fragte er sie mit gereizter Stimme.

„Wer ist das, Papa?“, entgegnete sie, ohne auf die Frage ihres Vaters zu antworten.

Eilig ging er auf sie zu und wollte ihr das Bild aus der Hand reißen, doch sie wandte sich rechtzeitig ab. Seine Gereiztheit irritierte sie sehr.

„Warum willst du mir nicht einfach etwas über dieses Bild erzählen? Wer ist das denn?“, fragte Claire noch einmal.

Ihr Vater sah mit einem Mal unglaublich müde aus. Er stellte die Salatschüssel auf den Couchtisch und ließ sich auf das Sofa sinken, vergrub sein Gesicht in beiden Händen.

Claire konnte die Situation gar nicht mehr erfassen. „Papa, was ist denn los? Warum willst du es mir denn nicht erzählen?“

Ihr Vater weinte. „Es ist doch schon so viel kaputt.“

Ihr sträubten sich die Haare. Im Wechsel betrachtete sie das Foto und ihren Vater und ahnte, dass hinter all dem eine Wahrheit steckte, die das Potenzial hatte, ihr Leben völlig aus den Gleisen zu heben. Fest sah sie ihren Vater an. „Papa, was ist los? Wer ist diese Frau auf dem Bild?“

Desmond hob den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer, das loszuwerden, was ihm auf der Seele lag. „Ich wollte warten, Claire. Warten auf den richtigen Moment. Doch scheinbar gibt es nie den richtigen Moment.“ Er schlug sich erneut beide Hände vors Gesicht. „Wir haben so viel falsch gemacht! So viel ...“, wimmerte er.

Claire spürte, wie sich ein gigantischer Abgrund unter ihr auftat und ihre Seele zu verschlucken drohte. Eine düstere Vorahnung breitete sich in ihr aus. Sie wehrte sich gegen die folgenden Worte. Alle gemeinsamen Erinnerungen lösten sich in nichts auf. Claires ganzes bisheriges Leben ergab keinen Sinn mehr. Es war, als würde ein lang und mit Mühe gelegtes Puzzle plötzlich auseinanderfallen.

*

INSEL ISLAY,

SCHOTTLAND, JULI 1949