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Kurt H. Möller – Ein Engel im Pelzmantel – Heitere und weitere Weihnachtsgeschichten – SCM

ISBN 978-3-7893-2111-5 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Umschlaggestaltung: Ulrike Vohla, grafikdesign-storch, Rosenheim

posthum für meinen verehrten „literarischen Lehrmeister“, den Bremer und Worpsweder Schriftsteller Manfred Hausmann

Inhalt

– ungefähre Vorlesezeit in Klammern –

Christnacht-Hymnus

Vom Himmel hoch da komm ich her (12 min)

Advent heißt Ankunft (6 min)

Das verlorene Weihnachtsschaf (7 min)

Raachermannels großer Tag (14 min)

Trinchens himmlische Weihnachtsplätzchen (4 min)

Der Baptistenbischof (9 min)

Weihnachten im Stunden-Takt (6 min)

O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie pieken deine Blätter (9 min)

„Kerzenglanz, Kerzenglanz, welch helle Pracht“ (4 min)

Der Engel im Pelzmantel (12 min)

Julfest in Veddersö (6 min)

Krach im Treppenhaus (6 min)

Die Weisheit der Spinne (6 min)

Ahibs Traum (5 min)

Gülhans Weihnachtslicht (4 min)

Gülhans Licht

Der vergessene Engel und die Krähe (7 min)

Fröhliche Weihnachten, Frau Ossenkopp! (6 min)

E-Mail eines alt gewordenen Großvaters zur Weihnacht an sein kleines, nun größer gewordenes Enkelkind (3 min)

Der Weihnachtsmann hat Telefon (7 min)

Happy End zur Weihnacht (6 min)

„Hätte ich doch …“ – die Einsicht des Wirtes (6 min)

Hätte ich doch …

Ein Nachweihnachtsengel (5 min)

Noch immer …

Christnacht-Hymnus

Winterlicher Flockenfall

aus dem hohen Himmelszelt

mischt sich mit dem Glockenschall

in der Tiefe dieser Welt.

Wie ein zartes leises Beben

hebt ein Chor zu singen an,

will zum Himmel aufwärts schweben;

der Weihnachtsstern zieht seine Bahn,

schwingt sich auf in lichte Höh’n,

überstrahlt die Erde ganz:

Da bleibt die Welt ein Weilchen steh’n. –

Grenzenlose Ewigkeit

tritt in uns’re Endlichkeit.

Vom Himmel hoch da komm ich her

Heiligabend in der alten, ehrwürdigen evangelischen Kirche zu Bennighausen, die an der Südfront den Innenhof des im Viereck gebauten Stiftsgebäudes abschließt. Seit mehr als zweihundert Jahren wird das ehemals katholische Ordenshaus von alleinstehenden vornehmen Damen bewohnt und verwaltet und die Kirche von der Ortspfarrei genutzt. Das Gemäuer war zwar als Einheit gebaut worden, hat aber für Stift und Kirche eigene Zugänge, sodass Pfarramt und Stiftsdamen gut miteinander auskommen.

Frau Veronika von Dammlich-Wichtler, Freifrau und Vorsitzende des Presbyteriums, hatte die Kirchentür geschlossen und war dann, wie immer, mit würdigem Schritt, den Klingelbeutel unterm Arm, zum Altarraum vorgegangen und hatte auf dem ersten Stuhl auf der linken Seite Platz genommen. Das war das Zeichen für den Organisten, mit dem Präludium einzusetzen und für den Küster, sich in der letzten Reihe zum gemütlichen Kirchenschlaf zurechtzurücken. Heute allerdings saß dort nicht der Küster Alfons Traxl, sondern sein Schwager Heinrich Weber, der sich für diesen Vertretungsdienst angeboten hatte, damit Alfons einmal wieder Weihnachten in den Bergen erleben konnte. Seit er Gesine, seiner Urlaubsliebe, in die norddeutsche Tiefebene gefolgt war und nach ihrer Heirat die Küsterstelle von ihrem Vater, gewissermaßen in Erbfolge, angetreten hatte, war ihm Weihnachten in den Bergen versagt gewesen.

Die Sache hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler. Alfons hatte versäumt, den Tausch dem Superintendenten anzuzeigen. Es hätte trotzdem alles gut gehen können, wäre der Gemeindepastor nicht am Vormittag beim Schmücken seines häuslichen Weihnachtsbaumes von der Leiter gefallen. Mit gebrochenem Bein lag der nun im Krankenhaus. Er hatte gerade noch telefonisch einen Studienkollegen, der jetzt Oberkirchenrat im Landeskirchenamt war, zum Vertretungsdienst überreden können, ihm die Gottesdienstordnung mit den Besonderheiten für die Christvesper durchgegeben, und war dann mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht worden, wo er eingegipst einige Tage Bettruhe verordnet bekommen hatte.

So trat bei den letzten Tönen des Präludiums – heute eine festliche Weihnachtsmusik von Pachelbel – nicht der Ortspfarrer an den Altar, sondern Oberkirchenrat Donnergrund; ein großer stattlicher Mann mit kräftiger Stimme und wegen seiner kompromisslosen Entscheidungen von den Pastoren und Presbytern wenig geliebt, sondern eher gefürchtet.

Zunächst ging mit Lesungen und Liturgie alles ganz gut. Und auch der eigens für diesen Gottesdienst zusammengestellte Chor unter Leitung der Schulamtssekretärin, Frau Ursula Hinkevoß, gab sein Bestes. Sogar das von Jugenddiakon Wilfried einstudierte Anspiel klappte leidlich. Die Katastrophe begann, als nach dem zweiten Lied Oberkirchenrat Donnergrund die Kanzel zur Predigt besteigen wollte. Üblicherweise predigte der Ortspfarrer vom Lesepult aus dem Altarraum. Aber am Heiligen Abend, wenn die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war, einige Jugendliche und Kinder sogar auf den Altarstufen saßen, und überhaupt wegen des festlichen Charakters sollte die Predigt von der Predigtkanzel gehalten werden. Diese war über dem Altar wie ein Schwalbennest in etwa zwei Geschosshöhen mit barockähnlichen Verzierungen angebracht. Nach hinten war die Kanzel mit einer Tür abgeschlossen, die über eine Treppe hinter Altar und Sakristei zu erreichen war.

Frau Dammlich-Wichtler hatte dem Oberkirchenrat bei der vorletzten Strophe noch zugeflüstert, dass er durch die Seitentür über die Treppe die Kanzel erreichen würde und ihm geraten, sich wegen des langen Weges schon in Marsch zu setzen, damit er beim Schlusston auch oben sei. Zufrieden lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, um mit andächtiger Miene und gelegentlichem zustimmenden Nicken der Predigt zu lauschen, wie sie es stets tat. Nicht umsonst saß sie hier vorne im Blickfeld der Gemeinde. So unterstrich sie jeweils nonverbal, wie es neudeutsch heißt, die theologischen Ausführungen des Predigers. Von dem war aber noch nichts zu sehen. Der letzte Ton des Liedes war verhallt, auch das improvisierte Nachspiel war verklungen und die Kanzel immer noch leer, die Kanzeltür geschlossen. Frau von Dammlich-Wichtler rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her, schaute verzweifelt zur Kanzel, auf der der Oberkirchenrat erscheinen sollte, lenkte ihren Blick zur Orgelempore, ziemlich unsinnig, denn die Orgel befand sich genau gegenüber von Kanzel und Altar an der rückwärtigen Kirchenseite über dem Eingangsportal, und dorthin war der Gastprediger ja nicht enteilt.

Der Organist hatte die Orgelbank mit dem gepolsterten Stuhl daneben gewechselt. Erst nach der Predigt war er wieder dran mit „Vom Himmel hoch da komm ich her“, das der Mädchenkreis mit Engelsstimmen als Antwort auf die Predigt, begleitet von der Orgel, in die Kirche rufen sollte. Aber von Predigt war weder etwas zu hören, noch von ihrem Verkünder etwas zu sehen.

Schließlich erhob sich Freifrau Veronika von Dammlich-Wichtler, ging – nein, schritt, auch in dieser Situation waren Andacht und Würde gefragt – zur Seitentür, hinter der vor wenigen Minuten, die sich wie Stunden bleischwer auf die Gottesdienstbesucher legten, Oberkirchenrat Donnergrund verschwunden war. Es empfing sie die bekannte, etwas staubige Kühle, die kleine Lampe über der Treppe brannte, vom Prediger keine Spur. Hilflos und kopfschüttelnd (natürlich nur innerlich) nahm sie ihren Platz auf dem ersten Stuhl links wieder ein. Sie suchte den Blick des Küsters, als ob von dort Hilfe kommen könnte. Aber der Vertretungsküster Heinrich Weber befand sich noch in behaglicher Ruhestellung. Ihn ging das alles nichts an. Von verschwindenden Pastoren hatte ihm Schwager Alfons nichts erzählt. Er hatte Pause bis zum Schlusschoral „O du fröhliche“. Dann hatte er die Kirchentür weit aufzusperren und sich danebenzustellen, freundlich zu lächeln, hin und wieder auch zu grüßen und wenn der letzte Gast gegangen war, liegengebliebene Gesangbücher, eventuell auch Regenschirme, Hüte und Handtaschen einzusammeln, die Lichter zu löschen und die Kirche abzuschließen.

Wäre Alfons auf seinem Posten gewesen, hätte Schlimmeres verhütet werden können. Denn der hätte gewusst, dass oben rechts neben der Kanzeltür noch eine zweite Tür war, die zum Bodenraum des angrenzenden Klostergebäudes führte. Und genau durch diese Tür war Oberkirchenrat Donnergrund geschritten, geschmückt mit Talar und Beffchen, unterm Arm Bibel und Predigtmanuskript. Aber statt nun auf die aufmerksam lauschende Gemeinde huldvoll herabzublicken, stolperte er in einen dunklen, muffigen Dachboden, angefüllt mit altem Gestühl und was sich sonst im Laufe vieler Jahre in einer Kirche mit dazugehörigem Damenstift ansammelt. Erschreckt tat er einen Schritt ins Dunkel, suchte mit der freien Hand Halt und ließ dabei die Tür los, die mit einem leisen Quietschen ins Schloss fiel. Im Gegensatz zur Kanzeltür hatte diese auf der Innenseite keinen Griff, sondern wurde nur von einem Schnäpper mit Außendrücker gehalten. Nun stand er völlig im Dunkeln, ohne Chance hier wieder aus eigener Kraft herauszukommen. Und während sich sein Auge versuchte, an das Dunkel zu gewöhnen und nach irgendeiner Möglichkeit zur Beendigung der misslichen Lage zu suchen, hatte im Kirchenschiff Fräulein Schneidewind ihren Mädchenkreis zur Aufstellung gebracht, nach einer stillen Zustimmung durch Frau von Dammlich-Wichtler versteht sich. Denn irgendetwas musste ja nun geschehen; dann musste das Programm eben etwas umgestaltet werden. Nach mehrmaligem aufgeregten Zeigen und Kopfrecken, an dem sich auch ein Großteil der Gemeinde beteiligte, hatte auch Organist Klampfenschmidt begriffen, dass sein Orgeleinsatz zu „Vom Himmel hoch“ erforderlich war. Er griff besonders beherzt in die Tasten und schon strömte weihnachtlicher Ton durch die Kirche.

Oberkirchenrat Donnergrund hörte in seinem Gefängnis wohlbekannte Weihnachtsmusik von zarten Engelsstimmen gesungen. Es gelang ihm zunächst nicht auszumachen, ob sie aus der Tiefe der Kirche heraufdrangen, oder vom Himmel direkt herunterschwebten. Er lauschte eine Weile, bis ihm mit Entsetzen klar wurde, dass man sich in der Kirche entschlossen hatte, den Gottesdienst ohne ihn zu feiern.

„Wann würde jemals wieder einer den Dachboden betreten?“, durchfuhr es ihn. Er erinnerte sich an einen ähnlichen Raum im Landeskirchenamt und daran, wann dort das letzte Mal etwas gesucht worden war. Er musste handeln, solange noch die Gemeinde in der Kirche war, sonst würde Weihnachten, vielleicht auch Silvester und Neujahr der Dachboden sein Asyl bleiben. Mit Hilfe eines Streichholzes, wie gut, dass er Raucher war, er würde es sich nicht abgewöhnen, beschloss er in diesem Augenblick, fand er den Fuß eines alten Dirigentenpultes und schlug damit wie wild an die Wand, von der er vermutete, dass sie an das Kirchengewölbe grenzte, unbewusst im Takt des Engelsgesangs.

Die vor Aufregung geröteten Wangen des Mädchenkreises wurden schlagartig – im wahrsten Sinne des Wortes – leichenblass, als sie den himmlischen Takt aus der Höhe vernahmen und auch Organist Klampfenschmidt schaute erst verstört nach oben, zog dann das Bassregister und ordnete damit den Donnergrundtakt seinem Orgelspiel unter. Fräulein Schneidewinds energischem Dirigentenstab war es zu verdanken, dass der Engelsgesang nicht in sich zusammenfiel.

Nebenbei, über die Köpfe des Engelchores hinweg, hatte sie dem Jugenddiakon Wilfried, in den sie heimlich verliebt war, mit Augenaufschlag und mutigem Zunicken versucht deutlich zu machen, dass jetzt seine große Stunde gekommen sei und er beweisen könne, dass mehr in ihm steckte als Lagerkoch und Konfirmandenfreizeitleiter. Wilfried erkannte auch schnell seine Chance und trat nach dem „Vom Himmel hoch“ an das Lesepult im Altarraum und wiederholte seine Adventsansprache vom Seniorenkreis bei der Arbeiterwohlfahrt, so gut es ohne Manuskript gehen wollte. Kurz, der Heiligabend-Gottesdienst nahm einen, wenn auch improvisierten, so doch geordneten Fortgang.

Oberkirchenrat Donnergrund hatte sich, des Taktschlagens müde geworden, unter Verbrauch aller seiner Streichhölzer an der Wand entlanggetastet und nach einem Ausgang aus seiner weihnachtlichen Arrestanstalt gesucht. Kurz vor dem Schlussakkord, zu dem auch der Aushilfsküster sich vom Kirchenschlummer aufrichtete, um sich für seinen Türdienst in Positur zu bringen, war er fündig geworden. Am Ende der Bodenkammer befand sich eine Luke mit einem Fensterladen, der sich öffnen ließ. Von diesem gelangte er mit einem mutigen Sprung auf das angrenzende Dach der ehemaligen Wagenremise, die vor Jahren zu einem gemütlichen Plaudereckchen umgestaltet worden war. Dem Oberkirchenrat war allerdings nicht nach Sommerplaudern zumute und auch nicht mehr nach Weihnachtspredigt. So gut es sein etwas ungewöhnlicher Sportdress – Talar, Beffchen und Bibel unterm Arm – zuließ, hangelte er sich am Rosengitter hinunter, das seitlich den Sommersitz abgrenzte, und eilte über den Hof durch das Stiftstor.

Mit gerafftem Talar, schiefem Beffchen und dekoriert mit Spinnenweben, Staub und Kalkflecken, sowie einigen trockenen Rosenzweigen, traf er am Kirchenportal mit den Gemeindegliedern zusammen, die umrauscht vom Postludium aus der Kirche in den winterlichen Abend traten. Etwas erstaunt, aber ehrerbietig grüßten sie den Oberkirchenrat mit „Fröhliche Weihnachten“. Dem blieb nichts anderes übrig, als ebenso höflich zurückzugrüßen, wenn auch wortlos, nur mit dem Kopf nickend und mit versteinertem Gesichtsausdruck.

Erst als der letzte Gottesdienstbesucher an ihm vorüber gegangen war, schritt er zu seinem Wagen und fuhr heim, wo seine Frau den späten Heiligabend damit beschäftigt war, den Talar für den Festgottesdienst am ersten Feiertag in der Stadtkirche wieder in Ordnung zu bringen.

Es soll im Januar heftige Gespräche im Landeskirchenamt gegeben haben, zu denen sowohl der Ortspfarrer, als auch der Küster Alfons Traxl einbestellt worden waren. Frau Veronika von Dammlich-Wichtler hatte es strikt abgelehnt, daran teilzunehmen.

Advent heißt Ankunft

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