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Joachim Bohnert

Koks

Ein Rezensionsroman


Zum Gedenken an

Oswald Treffeysen

* 5. April 1982 (Albbruck-Dogern)

† 22. Juli 2005 (Insel Reichenau)

Koks

Das alles ist brillant erzählt. Liest man Koks, tun sich viele Kammern auf. Man dringt in Ecken und Winkel. Seelische Leiden, körperliche Freuden drängen empor, längst vergess’ne Ideale werden neu belebt, die Schuldfrage nötigt sich auf, rückhaltlose Offenbarung legt Tatsachen bloß. Stolz, so etwas wie Koks zu besitzen, hingerissen vom umfassend Gelung’nen, verlegen, ob man dessen Ansprüchen genüge, lastet, über allem, schwer der frühe Tod seines Autors. Frühvollendet ging er in einem Alter von uns, in dem andere so genannte erste Schreiberfahrungen sammeln und deren innere Verdichtungen als Ausdruck subtil hinter sich bringen, Annäherungen, wie dann gehaucht wird, überall Absichten, in Kauf genommenes Misslingen, Allfanzereien, gepflegte Bohème, davon bei Treffeysen keine Spur. Dem Vernehmen nach – denn außer Andeutungen gab sein Testamentsvollstrecker nichts – muss Treffeysen Koks schon als Kind begonnen haben. Erste Werkskizzen beweisen’s. Wir kennen eine Photographie des Frühen: pausbackig, auf einer Veranda; vor dem Gesicht, verschwommen abgebildet, ein Rosenbusch, Zahnlücken, Frühlingssonne. Damals fing er an. Seine Handschrift rund und kindlich, linksschräg, lange Oberschleifen, die Seitenränder des Aufschriebs mit Kinderzeichnungen geschmückt. Das war ja noch nichts, aber Anfang war’s doch, und gescheitert wäre unser bescheid’ner Versuch, dem ganzen Treffeysen näher zu rücken, würde die Genese verfehlt. Nach uns’rer Kenntnis reifte Koks lang, über neun Jahre, aber jung war Treffeysen auch nach diesen neun Jahren noch, ein Knabe fast, Hauptschulabschluss, doch im Leben schon alt. Alt genug jedenfalls! Früh blühend und früh verdorrt, Koks blieb sein Einziges. Alles hat er in diese kunstvolle Prosa eingewirkt, Komik und Ernst, Reflexion und Tollpatschigkeit, Beobachtungen und Angeles’nes, Erfahrung und Traum, unauflösbar alles mit allem vermischt, durcheinandergewirbelt, wahllos gehäuft, so scheint’s. Zuerst deutete ihm die Lunge sein Ende an, dann das Blut. Die letzten Seiten schrieb Treffeysen unter scheußlichen Qualen, die Finger von Arthrose eingekrümmt, fertig wurde er nicht. Nach dem Plan fehlen zweihundert Seiten, was vorliegt, sind dreihundertfünfzig, dann war alles schon aus, Torso beides: Leben und einziges Werk. Unvollendet und vollendet beide trotz allem. Die meisten leben zu lang, die Jungautoren insbesond’re, sie geben sich Blößen. Was oft genug am Ende zählt: ein Jugendwerk, frühe Blüten, dann die Produktionen für den Markt, eingestanzt die Markenzeichen: Seht her! Ich bin’s schon wieder! Nichts als Repetition. Das hat Treffeysen uns erspart und wir wollen’s ihm danken.

Kritisch wird unsere Deutung trotz allem sein. Vieles ist unfertig, geistarm, Schrott eben, bloß Mist, Schwachsinn pur. Davon muss gesprochen werden. Zu rühmen ist genug, das Vorwort zum Lob Kemal Atatürks birgt Perlen, das Widmungsgedicht an Marie- Claire nähert sich der Gefeierten in fahler Nacktheit. Niemand hat eine Person dieses Namens zu identifizieren vermocht, nur im Roman fasst sie geheimnisvoll Leben, taumelt und fällt. Dann beginnt’s mit einer schwungvollen Diatribe. Man erinnere sich: Der Panamese Estilo Culto verzehrt sein Stipendium auf Burg Trudt. Sein monatlicher Wechsel, Treffeysen ist da genau, beläuft sich auf 1.034,80 Euro netto, gezahlt von der Stiftung junges literaturforum duisburg. Culto arbeitet, wie sein Erfinder, am Erstling, übrigens einem Schelmenroman. Auch das Stipendium ist dasselbe wie Treffeysens. Culto leidet an den entwürdigenden Bedingungen seiner Produktion, seiner Lebenslage, seiner Umwelt, am politischen System. Er sieht keine Perspektive. Treffeysens Spiegel? Kaum.

Abgeschnitten von den gesellschaftlichen Verhältnissen, anämisch, zum Leiden disponiert von Anbeginn, führt Culto, Sohn oder Enkel eines SS-Offiziers, untergetaucht, Spätherbst ’45, in Panama-Stadt, führt Culto lächerliche Diskurse über Produktivitätshemmungen, über Neurosen, Fehlhaltungen der Wirbelsäule, die geläufigen Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls eines Schreibenden, die Sprache versagt sich, naturgemäß Beziehungskrisen. Man sitzt nach dem Mittagessen auf der Terrasse zum Schlosspark, Culto erörtert detailliert seine Techniken kunstlosen Abriebs, die ihn im Innersten unbefriedigt lassen wie je. Ihm gegenüber kauert schmal im Strohstuhl Marah, Tochter oder Enkelin eines Emigranten aus Lemberg, die ebenfalls Stipendien genießt, für gestische Malerei, sie kann durch Zuhören kaum helfen, hört trotzdem selbstvergessen zu, fühlt mit Culto mit, kennt das alles schon, das schreibende Ich zum Beispiel, wie das Ich schreibt und durch das Schreiben erst zum Ich wird und wie das schreibende Ich nicht aus noch ein weiß, sie kennt die sogenannten Abgründe, das künstlerische Verzagen, da spüren wir Treffeysens ironischen Einspruch gegen die traditionellen Verteilungen: klagender Mann, verständnisvolle Frau, Marah hört’s sich immer noch an, Marahs Kleid ist blumenübersät und schön, sie raucht, mit dem Daumennagel streift sie hörend und nachdenklich über die Unterlippe, ihr Gesicht, in den Wangenknochen etwas zu breit, wendet sich auf Culto, ihre Konzentration auf die Bedeutungen des Subtextes. Marahs schmale Lippen über und unter der Zigarette, ihre gekniffenen Augen im Rauch, ihre Beinverschränkung lassen Culto die Welt vergessen, sie reden über die Jahreszeit, genauer: Culto redet, Marah hört zu, sie versteht ihn. Endlich kann er alles, was sich im Inneren angestaut, ausdrücken, sein schreibendes Ich zur Sprache bringen. Wie sie das hasst.

Im Leid des Schreibvorganges − auch: Schreibprozess − fängt alles an. Gemurkste Sprechakte, Hemmungen, Krise der Literatur: Marah versteht’s und hasst’s symbiotisch. Sein schlimmes, niederschmetterndes Nichtfunktionieren: Marah versteht’s ebenso und hasst’s doppelt. Sein Eifer, ihr Hass. Sie kratzt nachdenklich die Lippe. Später findet Culto am Pult den Fortgang seines Schreibens, Marah wirkte als Katalysator, im Schreibprozess findet Culto, wie erwartet: sich.

Derweil malt Marah mit breitem Pinsel ihre wahnsinnigen Obsessionen. Sie bevorzugt extreme Großformate. Aus der Interaktion mit Culto schöpfte sie Inspiration, jetzt malt sie sich, allzu gern benutzt Treffeysen das Fremdwort, neurosenfrei. Kühne Zeichen. Im Rückblick, während eines Malvorgangs berichtet, schildert Treffeysen Marahs Beziehungen, ihr soziales Beziehungsgeflecht, ihren Charakter, alles gestört und schwierig, verständnislos und schmerzhaft. Das rührt an. Oh, wie sie Culto verabscheut, seine geschmeidigen Handbewegungen, seine Gehemmtheit, stockendes Gestammel von Liebe, dass sie, Marah, das Zeug hätte, einzig sie, ihn zum Kick zu treiben, dass sie ihn, Culto, unbedingt heute noch, in Lederkleidung, die er vom Stipendium zusammengespart, harsch züchtigen müsse, er brauche das für’s nächste Kapitel. Er zittert schon angelegentlich, Marah verschiebt’s lieber auf Sonntagnachmittag.

Einzig Marahs Paar-Beziehung zur Geschäftsführerin eines Reisebüros, spezialisiert auf Interkontinentalreisen von Führungskräften, erscheint intakt. In späteren Kapiteln wird Treffeysen berichten, wie Marah, auf der Suche nach Nähe, mit Sabine ein eigenes Reisebüro, bei gleicher Spezialisierung, eröffnet, als GmbH, Sabine als Prokuristin. Marah bleibt geschäftlich außerhalb, bleibt im Speicher unbeirrt vor der Leinwand, sie schleudert ihr Unterbewusstes unkontrolliert aus sich heraus. Ihre Männerbeziehungen scheitern sämtlich. Ludger, er hatte auf Sabine Hoffnungen, bleibt außen vor. Culto sowieso.

Mit solch bravourösem Einstieg öffnet sich Treffeysens Werk. Inhaltlich naturgemäß ein Schmarren, fast bedenkenlos. Mit wenigen Strichen skizziert Treffeysen dennoch eine ganze Welt scheuer Berührungen. Absolut divergente Charaktere prallen aufeinander in größerem Zusammenhang. Scheitern aller Diskurse. Hier verändert Sprache tatsächlich etwas. Literatur erst recht oder sowieso. Leider verliert die Konstruktion von Koks sowohl Culto als auch Marah späterhin aus dem Auge, nur Sabine bleibt, die Prokuristin, sie wird eine entscheidende Rolle spielen.

Denkbar, dass Treffeysen im geplanten Schlussteil die Stipendiaten brauchte, um diskursiv das theoretische Fundament seines eig’nen Werks zu legen, denkbar, dass die erstaunliche Simplizität einer solchen Exposition bloß Verlegenheit war. Oder Ironie? Oder Verzweiflung des Schreibenden? Oder subversive Sensibilität. Zu vermuten ist Letzteres.

Jede Andeutung darüber fehlt. Treffeysen, verschlossen bis zum Autismus, nahm alles Wissen in den Tod, eine Rohfassung von Koks hinterlassend. Vieles nährt den Verdacht, sein Ableben, nämlich am 27. Alleebaum rechts des Dammes, welcher die Insel Reichenau an’s Festland bindet, sei nicht Zufall gewesen, Koks selber habe Gelegenheiten solcher Art reflektiert, Unaufmerksame könnten’s überblättern. Dergleichen Beobachtungen führen tief in’s Unbewusste, tiefer noch in’s Werk. Treffeysen wählte für seine finsteren Andeutungen die Szene im zentralen Diskurs zwischen Kohlmorgen und Koks, ungefähr zu Beginn des letzten Drittels. Erinnern wir uns! Man sitzt auf einem dieser beschämend engen Balkone im Märkischen Viertel, gerade genug Platz für zwei Stühle, eine Bierkiste und den runden Betonfuß des Sonnenschirms. Die Nacht zuvor ist Kohlmorgens Frau Gisela, die Koks, mehr als ihm lieb war, angemacht hatte, an Diphtherie gestorben. Kohlmorgen weiß das aber noch nicht, der Leser weiß es, und Kohlmorgen eröffnet das Gespräch mit ausholenden, den Leser tief bestürzenden Erwägungen über die Enge. Koks hört sich’s an, er lungert, raucht Pfeife oder Zigaretten und hat die Fäuste in den Hosentaschen vergraben, drückt das Kinn in’s Hemd, schweigend, fast unbeirrt. Seine Augen stehen aufgerissen mit leerem Blick: Koks döst. Erst als Kohlmorgen, den der Autor als Dämlack, ja als ausgemachten Blödmann eingeführt hatte, zum zweiten, zum dritten Mal damit ansetzte, dass er mit seinen kritischen Ansichten − Kohlmorgen ist Redakteur beim Tagesspiegel − eigentlich immer auf große Zustimmung stoße, vor allem im Anbetracht ihrer subversiven Tendenz, nimmt Koks bedächtig die Pfeife aus dem Mund und deutet mit dem zerkauten Mundstück gegen Kohlmorgens Gesicht, beugt sich mit dem Rumpf vorwärts, und Treffeysen versäumt nicht hinzuzufügen, Koks habe mit zusammengekniff’nen Augen und unheimlich wichtigtuerisch angemerkt, jaja, tatsächlich gebe es im Leben eines schreibenden Menschen Momente überwältigender Klarheit, in denen man nichts Gescheiteres tun könne, als sich vom Balkon zu stürzen, den Gashahn aufzudrehen, Schlaftabletten in Unmenge einzulöffeln, sich in der Fußgängerzone mit Benzin zu übergießen plus Feuerzeug, einen Strick zu nehmen, mit dem Auto gegen einen Alleebaum (sic!) zu rauschen, sich zu Tode zu saufen, Letzteres allerdings sei schwer kontrollierbar und gehe wegen der Rettungseingriffe Dritter oft daneben. Regelmäßig werde ausgepumpt und durchgenüchtert. Und das alles trägt Koks mit einer wahnsinnigen Überzeugungskraft vor und stochert so nachdrücklich vor Kohlmorgen mit der Pfeife, dass dieser, übrigens ein Enkel des SA-Funktionärs Schmitt-Köhren, zurückweicht, den Kopf in den Nacken schiebt und beide Hände an die Stuhllehne krampft, als gehe es ihm ans Leder.

Das steht so da. Bemerkenswert gut erzählt, wirklich bemerkenswert gut erzählt, ein Kabinettstück rupturaler Darstellungsweise. Treffeysen überlässt’s dem Leser oder sonst wem, die Verbindung zwischen dem Sprechakt Kohlmorgens und Koks’ Sprechakten zu interpolieren. So mutiert der Leser zum Ko-Autor, der Leser wird Interpret, aus Bequemem herausgerissen, er kann sich nicht mehr lässig berieseln lassen, muss Stellung beziehen, sich was einfallen lassen, denken, autochthon deuten und wird unversehens in den weiteren Strudel dieses hemmungslosen Berichts förmlich hineingerissen; denn das ist Sinn rupturalen Erzählens, das förmliche Hineinreißen und, dementsprechend, das förmliche Hineingerissenwerden, so dass einem Hören und Sehen vergeht und dieser ganze Quatsch; ’s ist symbiotisch. Die Szene, psychologisch dicht wie keine zweite – man beachte den Pfeifenstiel –, weitet sich aus qualvoller Enge in einem der bevölkertsten, also engsten Berliner Quartiere zum Welttheater, zur meditativen Kosmologie, davon später. Treffeysen steigert gewaltsam. Zu den Zweien, Koks und Kohlmorgen, Gisela ist passé, tritt ein Dritter in den Sprachraum, ein Kabinettstückchen privater Leseerfahrung, fast schon Frankfurter Schule, da geht nichts drüber. Der Dritte kommt von oben, noch so ein Kabinettstückchen, wie gesagt: von oben! Niemand hätt’s gedacht, später werden wir darauf zurückkommen.

Hier nur so viel:

Wie man jetzt erst, klug eingefädelt, erfährt, spielt das Ganze im West-Berlin vor der Mauer-Öffnung, von manchen als Wieder-Vereinigung denunziert. Noch ist die Mauer dicht, die Hoffnung im Osten unbeschädigt, der Grenzstreifen belebt, die Zukunft offen, und wer beschreibt das Erstaunen, als Kohlmorgen und Koks – sie erörtern wortkarg Misshelligkeiten beim Erstickungstod wegen Diphtherie, Koks evoziert schon wieder den Aufprall auf Mauern, Alleebäume usf. als vorzugswürdig, die Nachmittagssonne schickt ihren Strahl – von Osten her einen Drachensegler über das Sicherungsgelände, Mauer inklusive, herübergleiten sahen, und: „wenn das mal gut geht“, dachte Koks in seiner trock’nen Art, im Grenzstreifen der Friedenskräfte der DDR schlugen die Schäferhunde an, Scheinwerfer suchten den Himmel ab, Gewehre wurden in Anschlag gebracht, Schreie erschollen, „verdammt“, raunte Kohlmorgen, der ein Sohn des berüchtigten Gauleiters Woehren war, und „Döskopf“ bei sich über Koks dachte, Koks ließ sich, seine Pfeife schmauchend, nicht aus der Ruhe bringen, ihm war’s das wert, er wiegte den Kopf, dann stieß der Segler gegen den Balkon über den beiden, genutzt von der Über-Mieter-Familie Roessl, der Anschwebende, durchlöchert wie zersiebt von Maschinengewehrsalven, schwenkte, im Gestänge baumelnd, als Leichnam auf Kohlmorgens Balkon, löste sich unterhalb des mit lustigen weißen Punkten auf roter Fläche verzierten Sonnenschirms aus den Halterungen, plumpste auf Kohlmorgen und Koks zugleich, darüber sackte der Drachen ab und hüllte alles ein.

Wie gesagt: Wiederholt hat Treffeysen in dieser eher beiläufig und lustlos erzählten Szene – sie wird sich als narrative Schlüsselszene herausstellen – auf eine Todesart angespielt, die er womöglich schon plante oder prophetisch antizipierend vor sich herschob. Das drückt auf das Manuskript den Stempel des Dokuments bundesdeutscher Wirklichkeitserfahrung.

Anfangs sagt’ ich, Treffeysens Werk öffne viele Kammern. Die Kammer einer fast mörderischen Gegenwartssatire ist nur eine von solchen – Kammern. Horten Kammern Geheimnisse? Können Kammern Verbindungsstränge des Erzählvorgangs kappen? Und sogar risikolos? Schlüssige Resultate erzielen? Auch Marah wusst’s nicht, von Estilo Culto ausgehorcht auf der Subventionsterrasse. Sie passte, wiegte herrisch den Kopf, rauchte, hatte Sabine im Sinn, das Reisebüro, ihr Pelzchen, Sabines Überwindungen moderner Sprachlosigkeit, im Sinn außerdem: ihre Verweigerung gegenüber dem Publikum, die Theorie der Intersubjektivität, das Zwei-Kammern-System, das Drei-Kammern-System, nichts davon half Cultos Marah-Liebe vorwärts. Culto redete nur von sich, dudelte, krakeelte, schmachtete schief, erläuterte aufdringlich seine Zustände, Marah betreffend. Die saß abgelenkt und sensibel. Sie vermisste.

Und so wird Marah zum eigentlichen Sprachrohr Treffeysens. In ihr vollzieht sich die rückhaltlose Offenbarung der Tatsachen. In einem Umfeld der beschämendsten Deutungen wahrt die junge Malerin jene bedingungslose Ehrlichkeit, in welcher Manipulation und Entwürdigung des Menschen zum Ausdruck gebracht werden können. Marah erscheint als durchaus problematische Vertreterin einer entschiedenen Streitkultur. Einerseits nämlich bringt Culto sich hochproblematisch in den Diskurs ein und konturiert sich auf der pragmatischen Ebene als Referent oder so was, andererseits beleuchtet Treffeysen in der Figur Marahs die strukturelle Überhöhung des kritischen Ansatzes in quälend genauer Sicht.

Irgendwann.

Treffeysen nennt die besudelten Dinge beim Namen. Er bringt das alles zur Sprache. Überhaupt das Zur-Sprache-Bringen. Nur Sprache gibt die Möglichkeit, das Ereignishafte in Cultos Entwicklung angemessen zu diskutieren, seinen Weg als Entwicklung zu deuten, seine Verstrickungen in den Schulddiskurs. Cultos verhängnisvolle expressive Banalität. Marahs Lippen. Marah raucht ruhig, sie allein gibt der Szene Halt. Ihre mittelgroßen, festen Brüste drängen in die Kontur, das macht Culto fertig. Er reflektiert ingrimmig, selbstzerstörerisch, er redet, redet, sein Kontext scheuert am Kontext Marahs. Und dann erweist der Diskurs sich als scheiternd. Irgendwie kommt Treffeysen zwar vorwärts, das ist das eigentliche künstlerische Rätsel. Dennoch gibt es wenig, was an Dichte und Sprachmacht mit diesem Scheitern vergleichbar wäre, insbesondere im bravourösen Übergang in die Koks/ Kohlmorgen-Konstellation, die mit dem berühmt gewordenen „Ach“ anfängt.

„Ach“, sagte Koks zu Kohlmorgen, als sie den Drachenseglerrest über’s Balkongestänge nach abwärts in den Vorgarten rollten, „ach, wär’s mir ebenso! Ach, dass ich ausbrechen, hinüberfliegen könnt’! Ach, auch ich! Ach, was ich d’rum gäb’! Hoch hinauf, ein Ikarus, und tief unter mir zwei Bataillone scharfgemachter Friedenskräfte, vorgewarnt, und im Anschlag! Ach! Vergebens!“ „Kannste doch, mach’s doch, flieg doch“, war Kohlmorgens Einwand, „noch hängt doch das Gestänge bei Roessls, wart doch, ich bind’ dich doch fest, du, doch, das wär’ ja gelacht, das schaffste doch mit links.“

„Ach!“ dachte Koks, „ach ja!“

„Doch, doch, das knüpfen wir ab, das funktioniert doch noch, du musst ja nich’ weit, bis da drüben, das sind, wart mal, keine fuffzich Meter, ick sag dir’s, du brauchst da kein Anlauf, der Balkon reicht doch da völlig, ich zurr dich da ran und ab geht die Post, in echt zu die Friedenskräfte.“

Koks ließ ihn reden.

Wenn das einfühlsam und pointiert und überaus präzise genannt werden muss und die bundesdeutsche Wirklichkeit in der Nussschale einfängt, erscheinen uns demgegenüber die Teile von Koks weniger gelungen, die Treffeysen teils in England, teils in Neu-England, teils in Australien spielen lässt. Trotz ihrer kunstvollen Prosa. Trotz seines energischen Einsatzes für die geschundene Kreatur, für ein Leben ohne Sorge und ohne so was Lästigem. Wohl vertraut sind ihm die beschriebenen Gegenden, Urgründe seiner modernen Inspiration, Treffeysen kennt Weg und Steg. Bisweilen streift’s den Unsinn.

Dagegen sehr gelungene Romanpartien in Wales und – selbstredend – die in Irland. Dort schlägt Unsinn endgültig in Sinn. Dort hält ihn nichts mehr. Überall ist Armut und Schuld. Schuld und Manipulation und Entwürdigung des Menschen. Mittellosigkeit, Bedürftigkeit, Knappheit, Katholizismus, das schiere Elend und keltische Lebensfreude. Und die Besäufnisse! Jesus! Treffeysen benennt das kühn und schonungslos und ohne jedes Klischee. Erzählt wird in ungewöhnlicher Prosa, knappe Sätze, oft elliptisch, scharfe, präzise, kritische Reflexionen, sachlich, konstatierend, lakonisch, absolut wertfrei trotz aller Redensarten und dem landläufigen Irlandgeschwätz und bewundernswert gut recherchiert. Wie’s auch sei, auf Seite 132 entschließt sich Sigurd Koks zur Ferienfahrt auf die grüne Insel. Seine Frau will nach London und von London nach Galloway, von Galloway zu den Inneren Hebriden, gegen den Willen Koks’. Eine neue Kammer des Erzählens öffnet sich da unvermutet. Allem Planen zuwider wird ein mehrjähriger Aufenthalt in Surrey draus. Die Gründe hierfür kann man nicht anführen, auch im Einzelnen nicht, äußerer Anlass war die Eröffnung des Reisebüros von Sabine und Marah in Upon-the-Chapell, einem behaglichen Badeort am Meer, das Büro dicht an der Uferböschung, zur Mündung des Swalley-River sind’s glatte 500 Yards. Treffeysen verwendet viel Sorgfalt auf das einheimische Gedankengut, Sitten, Redensarten, Sprachspiele, Idiome, drollige Interaktionen, Beziehungsgeflechte, das Brüchige in Allem, Abgründe, Missverständnisse, immer wieder Missverständnisse. Man verfehlt sich immer wieder. Kaum sind Koks und Marah an Land, pocht gegen Sabines Bürotür eine alte Wahrsagerinkörperliche Verfallreal tot