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Table of Contents

Title Page

Vorwort zur 2., aktualisierten und erweiterten digitalen Auflage 2013

Vorwort zur 1. Auflage 2006

Einleitung

A. Die Entstehung der politischen Trias

A. 3 Öffentlichkeit als ästhetische und politische Kommunikation im 18. Jahrhundert

B. Politische Subjektivität als Grund des Politischen

Zusammenfassung

Glossar

Bibliographie

Sachregister

Personenregister

Bildnachweise und Graphiken

Bonus I Was ist ein Demokrat?

Bonus II Das Ende der Bundesrepublik

Impressum

Reginald Grünenberg

Politische Subjektivität

 

Der lange Weg

vom Untertan

zum Bürger

 

Philosophische Begründung des demokratischen Individualismus

 

Inhalt

Vorwort zur 2., aktualisierten und erweiterten digitalen Auflage 2013

Vorwort zur 1. Auflage 2006

Einleitung

A. Die Entstehung der politischen Trias

A.1. Entwicklungen des Individualismus im Kraftfeld der bürgerlichen Revolutionen

A.1.1 Etappen in der Geschichte von Subjektivität und Individualität

A.1.2 Die erste Analytik des Individuellen (Philosophie)

A.1.3. Die Erziehung des Individuums (Pädagogik)

A.1.4. Das Individuum auf den Märkten (Ökonomie)

A.1.5 Das Individuum der Sozial- und Herrschaftsverträge (Recht)

A.1.6. Das Individuum im Krieg

A. 2 Die Entwicklung der Ästhetik zur Wissenschaft des Geschmacks

A.2.1 Klassizismus, Empfindsamkeit und englische Ästhetik

A.2.2 Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Kritik des ästhetischen Subjekts

A.2.3 Die Verbindung von Ästhetik und Politik im sensus communis

A. 3 Öffentlichkeit als ästhetische und politische Kommunikation im 18. Jahrhundert

A.3.1 Fragmente einer Theorie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert

A.3.2 Neue Formen der Öffentlichkeit und ihre Einübung in der sozialen Praxis

A.3.2.1 Publikum und Autoren im Medium der Sprache

A.3.2.2 Presse, Literatur und die Lesegesellschaften

B. Politische Subjektivität als Grund des Politischen

Graphische Gesamtschau des politischen Subjekts im Individuum

B.1 Reflexionsvermögen und politisches Urteil Kants Kritik der Urteilskraft

B.1.1 Vorbereitung I: Rezeptionsgeschichte der Kritik der Urteilskraft

B.1.2 Vorbereitung II: Skizze der Kritik der Urteilskraft und Definition der reflektierenden Urteilskraft

B.1.3 Von Kants Methode zur Kontramethode: Die "Rückmischung" reiner Urteilsformen

B.1.4 Transzendentale Natur und politisches Urteil – Das Prinzip der Urteilskraft im politischen Gebrauch

B.1.5 Figuren des Individuums: Individualität im Text der KdU

B.1.6 Politik in der Kritik: Politische Beispiele und Themen in der KdU

B.1.7 Das politische Urteil

B.1.7.1 Die Deduktion der Einheit des politischen Urteils

B.1.7.2 Funktionen der Reflexionstypen: Zwecke, Schönes und Erhabenes im politischen Urteil

B.1.7.2.1 Der Zweckbegriff: Ordnung und Individualität

B.1.7.2.2 Das Schöne: Moral und Recht

B.1.7.2.3 Das mathematisch-Erhabene – Zeit und Körper

B.1.7.2.4 Das dynamisch-Erhabene – Macht

B.1.7.3 Öffentlichkeit und sensus communis politicus: Strukturen des politischen Urteils

B.1.8 Praxis, Reflexion und Glauben – Die Unterscheidung von Moral, Politik und Religion im Spiegel der Urteilsanalyse

B.1.9 Exkurs I: Hypostasen der Identität –Die Zweite Tradition der Bewusstseinsphilosophie

B.2 Politische Qualität: Subjektphilosophische Rekonstruktion politischer Phänomene

B.2.1 Charisma

B.2.1.1 Max Webers objektives Charisma

B.2.1.2 Die qualitative Wende: Das subjektiv-politische Charisma

B.2.2 Exkurs II: Ethnologische und kulturanthropologische Dimensionen politischer Subjektivität

B.3 Anknüpfungspunkte für Konzept politischer Subjektivität

Zusammenfassung

Glossar

Bibliographie

Sachregister

Personenregister

Bildnachweise und Graphiken

Bonus I Was ist ein Demokrat?

Bonus II Das Ende der Bundesrepublik

Impressum

 

 

Vorwort zur 2., aktualisierten und erweiterten digitalen Auflage 2013

Es hat sich viel ereignet seit der ersten Auflage, und noch viel mehr seit ich 1996 in München meine Dissertation unter dem Titel Politische Subjektivität einreichte. Alles um uns herum hat sich verändert, und der Lauf der Dinge war voller Krisen, Katastrophen und Kriege. Doch eine Sache hat sich beinahe überhaupt nicht verändert, nämlich der Text dieses Buches. Ich habe gestaunt, wie wenig ich den ursprünglichen Text 2006 lektorieren, ergänzen und korrigieren musste. Das war diesmal nicht anders. Die Abweichungen vom Manuskript meiner Doktorarbeit vor siebzehn Jahren umfassen gerade einmal drei hinzugefügte Absätze, eine etwas flotter und frecher geschriebene Einleitung, Personen- und Sachregister und natürlich die beiden Vorworte. Das war’s. Ich habe weder am Inhalt, noch an meinem damaligen schriftlichen Ausdruck etwas zu bemängeln. Wie gesagt, ich bin selbst erstaunt darüber, aber wenn man etwas Gutes nicht mehr verbessern kann, dann sollte man es einfach so stehen lassen.

Als ‚Bonusmaterial‘ habe ich dieser erweiterten Auflage zwei Kapitel hinzugefügt. Aus meinem Buch ‚Das Ende der Bundesrepublik. Warum wir eine neue Verfassung brauchen!‘ von 2011 habe ich das Kapitel ‚Politische und philosophische Quellen‘ hier angehängt, um zu illustrieren, wie ich meine eigenen philosophischen Thesen zur politischen Subjektivität in praktischen politischen Fragen angewandt habe. Der zweite Bonus ist der Essay ‚Was ist ein Demokrat?‘, eine Veröffentlichung von 2012, in der ich versuche zu zeigen, in welche Schwierigkeiten wir bald kommen werden, wenn wir nicht endlich die grundlegendsten Begriff unserer politischen Existenz klären.

Hier noch ein paar praktische Tipps. Ich bedauere es, dass man im e-Book die Fußnoten nicht mehr mit dem Fließtext auf einer Seite sieht und erst klicken muss, um sie zu öffnen. Denn dort sind nicht nur die Quellenangaben zu finden, sondern viele spannende Exkurse, die das Nachdenken anregen und auf ganz neue und unerwartete Pfade führen können. Hier seien nur ein paar Beispiele genannt, wo es um Grausamkeit (Fn. 413), Hexenverfolgung (Fn. 425), verrückte Gedankenexperimente von analytischen Philosophen (Fn. 562)oder darum geht, wie selbst ausgewiesene Kant-Experten ganz offensichtlich auch zweihundert Jahre nach dem Tod des Meisters noch nicht verstehen, wie dessen Philosophie funktioniert (Fn, 375). Deshalb möchte ich Sie einladen, gelegentlich einmal mit den Augen durch den Fußnotenteil zu spazieren, denn dort warten noch viel mehr Curiosa und Exotica.

Dann wäre da noch der wichtige Hinweis auf die grafische Gesamtschau des politischen Subjekts mit all seinen begrifflichen Organen am Anfang von Teil B der Untersuchung. Diese Grafik war in der Printausgabe des Buches auf der letzten Seite versteckt, wo sie kaum jemand entdeckte. Dabei ist sie eine enorm hilfreiche topographische Karte zur Orientierung in dem weitläufigen Fundament der politischen Philosophie, das wir erkunden werden.

Abschließend möchte ich eine Rezension der ersten Auflage des vorliegenden Buches vollständig zitieren, die am 17. März 2007 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist. Und das nicht nur, weil mir der Titel dieses Artikels so gut gefällt, sondern weil der Rezensent das Kämpferische, Angriffslustige und Provozierende dieser neuen politischen Philosophie gut erkannt hat.

„Relativitätstheorie der Politik – Das 20. Jahrhundert hat sich durch eine Häufung von politischen Tragödien ausgezeichnet, die zum Dunkelsten gehören, was die Menschheit zu verarbeiten hat. Totalitarismen und das kollektive Zusammenbrechen der moralischen Urteilskraft gehören zur Signatur dieser Epoche. Wie es dazu kommen konnte, dass in einer relativ kurzen Zeitspanne – man denke an die 12 Jahre Nationalsozialismus in Deutschland – das moralische Orientierungssystem einer ganzen Generation außer Kraft gesetzt werden konnte, ist noch heute erklärungsbedürftig. Reginald Grünenberg, ein als Unternehmer tätiger Politikwissenschaftler, geht noch einmal ganz zu den ersten Fragen zurück: Was eigentlich ist das Politische? Auch nach den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gibt es weiterhin Massaker und Grausamkeiten. Die Menschheit könne aus dem Vergangenen nichts lernen, weil sie das Wesen des Politischen noch immer falsch verstehe. Dass er, Grünenberg, eine neue ‚Reflexionstheorie‘, gar eine ‚Relativitätstheorie‘ der Politik gefunden habe, wird schon auf der ersten Seite der Einleitung hochkarätig statuiert. Am Leitfaden von Kant und Hannah Arendt geht der Autor zurück zum Begriff der Polis. Das menschliche Vermögen, verschiedene Formen des Zusammenlebens zu generieren, sei ‚uns seit der Antike, als es seine Selbstverständlichkeit verlor, rätselhaft geworden‘. Grünenberg ortet das Malaise in einem Subjektivitätsbegriff, der von jeder inneren Konnotation – von Empathie, Charisma und Urteilskraft – kastriert worden ist. Ein Wurf, kompromisslos gedacht und nirgendwo versöhnlich, schon gar nicht gegenüber den Helden des deutschen Nachkriegsdenkens wie Dieter Henrich, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann.“

Vorwort zur 1. Auflage 2006

Diese philosophische Arbeit konnte verwirklicht werden dank eines dreijährigen Graduiertenstipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein wichtiger Teil der Unterstützung war ideeller Art, denn ohne das in dieser Förderung mitgeteilte Vertrauen hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, ein so umfangreiches und komplexes Projekt in Angriff zu nehmen. Eine erste Fassung, in welcher ich die Form des politischen Urteils unter dem faszinierenden Titel Kritik der Form in einer abstrakten Weise untersuchen wollte, die noch den jungen Hegel beeindruckt hätte, ließ ich fallen, um einen stärker historisch und sozialwissenschaftlich geerdeten Ansatz zu wählen. Ich hatte das zuerst sehr bedauert. Doch dann machte mir die Sammlung und Neuordnung des reichen Materials aus dem 18. Jahrhundert und die Fundierung meiner philosophischen Thesen darauf so viel Freude, dass die Zeit der Niederschrift meiner Dissertation zwischen Sommer 1995 und Frühjahr 1996 eine der schönsten Zeiten meines Lebens wurde.

Diese Arbeit ist geprägt von dem Eindruck der persönlichen Begegnungen mit dem inzwischen verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann. Die Aufgeschlossenheit und Kreativität dieses Mannes hatte mich davon überzeugt, dass ich mich mit dem Theoriedesign seiner Systemtheorie gründlich beschäftigen muss. Ich entwickelte mit ihrer Hilfe den Ehrgeiz, eine Grundlage für die politische Philosophie zu schaffen, die sie endlich unabhängig macht von der Moralphilosophie, den Staatstheorien und den Klugheitslehren.

Ich habe nicht wenigen Freundinnen und Freunden für ihre Unterstützung zu danken. Astrid von Lühe hat mir mit ihrer kritischen Lektüre des historischen A-Teils und mit ihrem enthusiastischen Zuspruch zur rechten Zeit sehr geholfen; außerdem hat mich das Manuskript ihres Artikel für das Historische Wörterbuch der Philosophie über den sensus communis zu einem ganzen Kapitel angeregt. Sven Murmann hat mich gewissermaßen mit dem von ihm geprägten Ausdruck "Politische Subjektivität" beschenkt. Er dachte nämlich bereits 1992 daran, eine wissenschaftliche Arbeit unter diesem Titel zu schreiben, hat sich dann aber für ein anderes Projekt entschieden (Demokratische Staatsbürgerschaft im Wandel. Über die Zugehörigkeit zum Politischen System in Zeiten pluraler gesellschaftlicher Mitgliedschaften, Würzburg 2000). Mein Freund Michael Schefczyk hat jahrelang die Entwicklung des vorliegenden Gedankens mit kritischen Fragen und Prüfungen begleitet und als exzellenter Kant-Kenner meine Gedanken geschärft. Sonja Hegasy hat mir die faszinierenden Schriften des marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri zugänglich gemacht, der ein Konzept politischer Subjektivität als islamische Kulturkritik entwickelt hat, in dem ich wichtige Resultate meiner eigenen Forschung bestätigt finden konnte. Mirjam Schaub erschloss mir in unseren gemeinsamen Kant- und Bergson-Symposien die Probleme der bisherigen philosophischen Zeit-Theorien und brachte mich darauf, dass ein politisches Subjektivitätstheorem keinesfalls zeitneutral sein kann. Gabriela und Alexander Roth haben schließlich mit unbestechlichem Regelbewusstsein das Manuskript korrigiert und wesentlich zur Verbesserung des sprachlichen Stils beigetragen.

Danken möchte ich auch meinen Studenten am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, mit denen ich, im Rahmen eines Lehrauftrags, meine Dissertation noch im Stadium einer work in progress während des gesamten Wintersemesters 1994/95 diskutieren durfte.

Ich widme dieses Buch einem großen Kosmopoliten, dem kolumbianischen Philosophen, Politiker, Stierzüchter, Diplomaten, Mäzen und Gründer der Anden-Universität in Bogotá, Mario Laserna. Dieser Gelehrte, der erste Doktorand von Dieter Henrich, ein langjähriger Brieffreund von Albert Einstein und John von Neumann, der sein Leben lang Geist und Tat zu verbinden wusste, hat mich gelegentlich seiner Lehrtätigkeit 1988 am Münchener Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft in die Lektüre der Kantischen Werke eingeführt. Dabei hat er mir vor allem die Naturphilosophie und die Erkenntnistheorie darin erschlossen. Anstatt mich zu ermutigen, zwischen den Zeilen zu forschen, hat er mir den Reichtum gezeigt, der ganz unverborgen in den Zeilen der Kantischen Texte liegt. Die entsprechende hermeneutische Regel forderte ein unermüdliches Quellenstudium. Ich hoffe, dass die unvermeidlich daraus folgende Gründlichkeit das Buch, welches ich ihm widmen möchte, vorteilhaft geprägt hat.

Abb. 1: Mario Laserna 1952 in Princeton, wo er Albert Einsteins Unterstützung erhielt, um das Gründungskapitel für die Anden Universität in Bogotá einzuwerben

 

Politische Subjektivität

Der lange Weg vom Untertan zum Bürger –Philosophische Begründung des demokratischen Individualismus

Einleitung

Eine Reihe politischer Ereignisse der jüngeren Vergangenheit hat die Bedeutung politischer Subjektivität wieder ins Rampenlicht gerückt. Von der deutschen Einheit mitsamt der vorausgegangenen Bürgerproteste in der DDR über den Zusammenbruch der Sowjetunion zur friedlichen Abschaffung der Minderheitenherrschaft Apartheid in Südafrika und schließlich zum arabischen Frühling 2011 – oder vom Massaker 1989 in China auf dem Platz Tiananmen über den ethnisch fanatisierten Nationalismus im ehemaligen Jugoslawien zum islamistischen Terrorismus in Algerien: Im Guten wie im Schlechten gibt es viele Gründe und aktuelle Anlässe, sich wieder einmal Gedanken zu machen, welche geschichtsmächtigen Kräfte insgeheim am Werk sind, wenn Menschen als politische Subjekte versuchen, die öffentliche Ordnung der Rechte, der Sitten und der Güterverteilung zu bestimmen und zu verändern. Die politische Philosophie sollte sich dazu aufgefordert fühlen, endlich der drängenden Frage auf den Grund zu gehen: Was ist politisch?

Doch die Zeit der einfachen Antworten ist vorbei. Wir wurden zu lange abgespeist mit trivialen und wenig plausiblen Definitionen des Politischen. In diesem Buch wird ein neues Niveau gesetzt, sowohl was die Fragestellung als auch die Antwort betrifft. Das Ziel ist eine neue Reflexionstheorie für die Politikwissenschaft. Der Ansatz, der hier entwickelt wird, ist so radikal neu, so gründlich und so unerhört komplex, dass die simplen Ideen und das alte Wissen von Politik wahrscheinlich das größte Hindernis zum Verständnis des Neuen sein werden, das hier zu entdecken sein wird. Zum ersten Mal wird nämlich deutlich, dass nicht nur Physik, Biologie und Mathematik höchst anspruchsvoll, kompliziert und schwer darstellbar sein können. Die Grundlagen der politischen Philosophie, die hier freigelegt werden, sind eine mindestens ebenso große Herausforderung für den Verstand und die Vorstellungskraft. Dafür beanspruchen die Ergebnisse eine vergleichbar universelle Gültigkeit wie die großen naturwissenschaftlichen Vorbilder. Deshalb möchte ich die nachfolgende Abhandlung – durchaus mit einem Augenzwinkern – die erste Relativitätstheorie der Politik nennen.

Für wen ist dieses Buch geschrieben? Das ist tatsächlich ein Problem, denn jene große Gruppe von Lesern, die über die Bildung und das nötige begriffliche Werkzeug verfügt, um dem hier zu entfaltenden Gedanken folgen zu können, ist doch aufgewachsen in der humanistisch-aristotelischen Tradition – und damit für dieses Unternehmen eigentlich verloren. Diese Traditionalisten können die Konsequenzen der folgenden Überlegungen kaum akzeptieren, denn hier wird eine philosophische Axt an die Wurzel ihres politischen Weltbildes gelegt, das doch immer nur ein moralisches war. Wir werden sehen, was für einen enormen Unterschied das macht.

Dann gibt es die Progressiven, die zwar über umfangreiche sozialwissenschaftliche und vielleicht sogar philosophische Kenntnisse verfügen, die aber im Gegensatz zu den Traditionalisten bereits völlig abgenabelt sind von der faszinierenden Geisteswelt und den subtilen Fragestellungen der abendländischen Metaphysik. Sie glauben an den linguistic turn und halten alle Probleme der Philosophie für Sprachprobleme. Oder sie glauben immer noch, die Vernunft selbst sei das größte Verbrechen der abendländischen Philosophie, wie die letzten Postmodernisten im Gefolge von Nietzsche, Heidegger und Foucault. Mit dieser simplen intellektuellen Ausrüstung werden sie unserem Aufstieg zu den gedanklichen Hochebenen von Leibniz, Baumgarten, Shaftesbury, Smith und Kant kaum folgen können, geschweige denn diesen genießen.

Dann gibt es noch die Liberalen, insbesondere angloamerikanischer Provenienz. Zugegeben, sie haben ein wirklich ein gutes Argument. Denn sie werden fragen, wozu sie eigentlich all diese philosophische Haarspalterei brauchen. Es war doch ganz einfach, ein politisches Subjekt zu werden; ihre Vorväter und -mütter haben es doch gezeigt in den bürgerlichen Revolutionen. Das ist schon richtig. Doch ich behaupte, dass die Liberalen bis heute nicht verstanden haben, was damals wirklich passiert ist und wie das moderne freiheitlich-politische Denken tatsächlich entstanden ist. Die Liberalen nehmen die äußerlichen historischen Ereignisse jener Epoche, in der sie noch erfolgreiche Revolutionäre waren, als einen Beweis für die universelle Gültigkeit des Liberalismus und bleiben bis heute in der philosophischen Begründung desselben auf geradezu frivole Weise oberflächlich. Das machen sie am liebsten mit moralphilosophischen Argumenten, die häufig naiv, lebensfremd oder schlicht kontrafaktisch sind. Erst wenn sie sich auf die Expedition begeben, um den wahren Ursprung ihres politischen Weltbildes zu finden und zu erforschen, wie groß die theoretische Leistung war, die implizit in der revolutionären Praxis ihrer Gründer lag, erst dann werden die Liberalen in den folgenden Kapiteln den größten Fund ihrer Geschichte machen.

Das ist die paradoxe Herausforderung dieses Buches: Es ist dem Duktus, der Argumentationsführung und der Informationsdichte nach für gut ausgebildete Philosophen, Sozialwissenschaftler und anspruchsvolle Intellektuelle geschrieben; doch die meisten von ihnen werden daran scheitern. Deshalb richtet es sich insgeheim doch an den Wissensdurst junger Studenten, Forschergeister und Denker aller Couleur.

Offen gestanden kann ich mir auch gut vorstellen, dass die hier zu entwickelnde politische Philosophie zunächst gar nicht verstanden wird. Ich habe das an den Werken von einigen Autoren beobachtet, von denen hier die Rede sein wird. Wie viel Unsinn habe ich lesen müssen über die Werke von Immanuel Kant oder Niklas Luhmann! Die akademische Kommentarliteratur schafft es tatsächlich immer wieder, das ursprüngliche Werk komplett zu überwuchern und praktisch verschwinden zu lassen. Ich hoffe, dieses Schicksal wird meiner philosophischen Arbeit erspart bleiben. Deswegen ist die Antwort auf die Frage, für wen dieses Buch denn nun geschrieben ist, am Ende doch ganz einfach: für die Zukunft.

I.

Das menschliche Vermögen, verschiedene Formen des Zusammenlebens zu generieren, ist uns seit der Antike, als es seine Selbstverständlichkeit verlor, rätselhaft geworden. Das Politische hat deshalb die Aufmerksamkeit bedeutender Denker auf sich gezogen. Mit den philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Begriffen, die ihnen zur Verfügung standen, haben sie versucht, bestimmte Ordnungen zum Inbegriff des Politischen zu machen. Das Politische war dabei ausnahmslos ihre jeweils eigene politische Meinung, nur eben als Theorie oder Schema. Es ist vielleicht durch diesen Eigenbedarf der Theoretiker an Meinungsveredelung zu erklären, dass das Subjekt des Politischen nie mehr sein durfte als ein Zoon Politicon, ein staatsbezogenes Tier. So konnte von der jeweils zu vertretenden Staatsordnung auf das Wesen zurückgeschlossen werden, dass sie zu tragen und zu ertragen hatte. Die innere Komplexität dieses Wesens wurde dabei vollständig ausgeblendet.


Abb. 2: Niklas Luhmann (1927-1998)

Die Reduktion von Komplexität war eine Spezialität des Soziologen Niklas Luhmann, dessen historische und theoretische Errungenschaften hier an mehreren Stellen gewürdigt werden. Die Systemtheorie nach Luhmann hat immer versucht, spezifische Systeme und die sie tragenden Funktionen innerhalb einer Gesellschaft zu definieren, unabhängig vom Wollen und Handeln einzelner Individuen. In einigen Bereichen, wie z. B. in der Wirtschaft der Gesellschaft oder insbesondere in der Wissenschaft der Gesellschaft, hat er mit diesem anti-anthropologischen Theoriedesign wichtige und anschlussfähige Ergebnisse erzielt. Doch ausgerechnet Die Politik der Gesellschaft1 speist er uns mit einer Formel ab, welche die Funktion des Politischen als das „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindenden Entscheidungen“2 konstruieren soll. Unter einem strikt soziologischen Gesichtspunkt mag diese Sichtweise konsequent und hinreichend sein. Das Phänomen des Politischen ist damit jedoch nur zu einem geringen Teil begriffen, weil die individuelle Leistung der Menschen, die tatsächlich in einem noch näher zu bestimmenden Sinne „politisch“ denken und handeln, von einer postulierten Systemleistung überdeckt und annulliert wird. Luhmanns Systemtheorie behandelt Menschen und Bürger als Systemtiere (Zoon Systematicon), deren psychische und philosophischen Innenhorizonte keine konstitutive Rolle für die Operation des politischen Systems spielen. Dabei ist gerade die Herausbildung einer – wie gesagt noch näher zu bestimmenden – „politischen“ Denk- und Handlungsweise zwischen Menschen extrem Reich an Voraussetzungen.

Bis hin zu der Tatsache, dass es sogar alles andere als selbstverständlich ist, dass diese Staats- und Systemtiere einander als Menschen erkennen, wenn es sich um solche handelt. Ausgerechnet Menschen unterscheiden sich von den anderen Tiergattungen dadurch, dass sie sich untereinander nicht erkennen. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut hat diese Problematik zum Anlass für eine Gegenwartsanalyse genommen. „Für eine Katze ist eine Katze immer eine andere Katze. Ein Mensch hingegen musste stets bestimmte drakonische Bedingungen erfüllen, um nicht schutzlos aus der menschlichen Welt getilgt zu werden.“3 So betrachtet ist es evident, dass das Staatstier nur innerhalb seiner eigenen Polis (Gruppe, Clan, Stamm, Staat) Mensch sein kann und aus dieser Stellung heraus berechtigter Weise den Rest der ihm ähnlichen Naturwesen als Nicht-Menschen anzusehen. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss stellte in diesem Zusammenhang fest, der Begriff der Menschheit, der ohne Unterschied der Rasse oder Zivilisation alles Lebensformen der Gattung Mensch einschließt, sei „ziemlich spät aufgekommen und sehr wenig verbreitet. Selbst da, wo er seine Ausbildung erfahren zu haben scheint, steht keineswegs fest – die jüngste Geschichte beweist es – dass er gegen Mehrdeutigkeiten und Rückbildungen gesichert ist.“4

Man kann also Aristoteles, der diese antike und bis heute anerkannte Definition des politischen Subjekts als Zoon Politicon begründet hat, nicht einmal die empirische Bestätigung absprechen. Für die griechische Polis galt das Wesen, das intra Muros als Mensch zu betrachten war, außerhalb des Stadtstaates, ex Urbe, als ein zu jagendes Tier oder als Barbar. Nun sind wir heute, entsprechend unserer mehrtausendjährigen Tradition im jüdisch-christlichen Universalismus erheblich anspruchsvoller und wünschen uns einen Politikbegriff, der globaler ist und die Grenzen enger Gemeinschaften überschreiten kann. Außerdem fordern wir einen Politikbegriff, der nicht vom Staat und den bestehenden Ordnungen, sondern von uns als Individuen ausgeht.

Die Evidenz des eigenen politischen Wollens und Fühlens hat allerdings den Möglichkeitssinn betäubt, der gefragt hätte: Wie kann ich mir ein Urteil oder Gefühl dieser Art zumuten? Wir sind uns selbst zu nahe um zu bemerken, wie voraussetzungsvoll und komplex dieses uns habituell gewordene Vermögen ist. Es gibt nicht nur eine Reihe historischer Indizien, welche auf die Fruchtbarkeit dieser Fragestellung schließen lassen, sondern auch eine philosophische Spur, auf die Hannah Arendt hingewiesen hat. Diese beiden Dinge werden Kompass und Karte sein für eine Expedition in die Grundlagen der politischen Philosophie. Wir wollen wissen, was es mit dem politischen Subjekt wirklich auf sich hat.

In der folgenden Untersuchung wird anhand von historischen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Materialien eine idealtypische Ursprungssituation konstruiert, die den Beginn des Politischen im Europa der Neuzeit markieren soll. Dieser Ursprung des Politischen liegt in dem zeitlichen Zusammentreffen von drei Erscheinungen, deren Wechselwirkungen bisher kaum erforscht sind. Die drei Elemente dieser Konstellation, hier der Kürze halber "politische Trias" genannt, sind: 1.) die philosophischen und praktischen Konsequenzen des Subjektivitäts- und Individualitätsgedankens im Kraftfeld der bürgerlichen Revolutionen; 2.) die Ästhetik, als Theorie des Geschmacks, der Meinungswahrheit und des Gemeinsinns; 3.) die neue soziale Kommunikationspraxis, die wir heute als "Öffentlichkeit" kennen. Die These dabei lautet, dass sich mit diesen simultanen Ereignissen eine historische Formation gebildet hat, die nur unter der Annahme der Wirkung eines speziellen, kulturgeschichtlich neuen und genuin politischen Urteilsvermögens erklärt werden kann. Weiterhin soll gezeigt werden, dass der Schlüssel zum Verständnis dieses neuen Vermögens in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft liegt. Sobald wir den Schlüssel in der Hand und das Schloss gefunden haben, ist der Weg frei zu dem, was hinter dieser Tür bisher verborgen lag: die Philosophie der politischen Subjektivität.

Diese Untersuchung ist ein Versuch des "Seiteneinstiegs" in die Anthropologie als politische Anthropologie, den Otfried Höffe ermutigt hat.5 Das philosophische Modell des Politischen soll die Vergesellschaftung hier wieder vom Einzelmenschen ausgehend in den Blick bekommen. Im Hintergrund steht die bisher verneinte, jedoch in Wirklichkeit nur ungelöste Frage, ob und wie der konkrete, einzelne Mensch in der Theorie erscheinen oder besser noch: ihr Maß werden kann. In den Sozialwissenschaften dominiert seit längerem das metatheoretische Prinzip, dass menschliches Handeln nicht von den Individuen, sondern nur von den Systemen her als kollektives Kommunikations- und Funktionsereignis zu verstehen ist. Der Grundbegriff des Handelns wird kaum noch zurückgerechnet auf einzelne Wesen oder das Bewusstsein. Luhmanns Systemtheorie repräsentiert in diesem Zusammenhang nur die reinste und spektakulärste Form des sozialwissenschaftlichen Reduktionismus, der sich brüstet, den „alteuropäischen Humanismus“ als Theoriegrundlage hinter sich gelassen zu haben. Es wird hier zu zeigen sein, dass diese Grundlagen bei weitem nicht erschöpft sind und viel unerschlossenes Potenzial enthalten.

Auch an anderer Stelle regte sich schon Widerstand gegen den sozialwissenschaftlichen Anti-Individualismus. Besonders augenfällig wurde das etwa 1996, als Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker erschien, worin der Autor sich weigerte, weiterhin „Struktur-“ oder „Sozialgeschichte“ zu schreiben, und stattdessen auf die Motive einzelner Täter einging. Goldhagens Ansatz steht im Horizont einer im angloamerikanischen Raum zu großer Bedeutung und Meisterschaft gelangten Methode der narrativen Geschichtsschreibung als „dichte Beschreibung“ (Clifford Gertz). Den Ereignissen und Handlungen wird damit ein Moment genuin historischer Kontingenz zurückerstattet, das die hochdeterministischen oder krypto-teleologischen Struktur- und Entwicklungsmodelle der Sozialwissenschaften völlig abzugleichen drohen.6 Auch die Politikwissenschaft ist von dieser handlungstheoretischen Verarmung betroffen, da sie sich in ihrer Modellbildung in eine methodische Abhängigkeit von Soziologie und Ökonomie begeben hat. Herfried Münkler notierte folgende Beobachtung:

"Wenn denn zutrifft ..., dass nämlich weder die Rückführung der politischen Ordnung auf Modelle der Ökonomie oder Soziologie, noch die Einvernahme politischer Erwartungsdimensionen und Handlungsimperative in die Prinzipien einer universalistischen Ethik die gegenwärtig zu beobachtende Krise der westlichen Demokratien als Krise zu begreifen vermögen, so ist dies mehr als ein bloßer Fingerzeig, dass sich die Politikwissenschaft auf die genuine Eigenständigkeit ihres Gegenstandsbereichs zurückbesinnen muss."7

Dem lässt Münkler ein Plädoyer folgen, die tatsächlichen Erwartungen und Dispositionen der Bürger für sich genommen deskriptiv ernst zu nehmen und erst auf dieser Grundlage die Erörterung der normativen Zulässigkeit dieser Erwartungen anzuschließen. Anderenfalls laufe die Politikwissenschaft Gefahr, sich in der Erprobung einer Inflation kontrafaktischer Modelle und Ideale zu erschöpfen.

Die deskriptive Dimension politikwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung ist tatsächlich deutlich unterentwickelt. Allerdings nicht auf der quantitativen Seite, denn die empirische Datenbasis ist geradezu übersättigt. Es sind vielmehr die Instrumente zur Interpretation und sinnvollen Verbindung der erhobenen Daten, die überholt sind. Die traditionellen Mittel zur Erfassung der Merkmale, Eigenschaften und der eigentümlichen Interaktionen moderner politischer Subjekte sind erschöpft.8

Sozial- und Politiktheorien stehen vor dem Problem, wie das Besondere zu Wort kommen kann in der Sprache der Wissenschaft, weil diese dem Besonderen das Wort nur dann erteilt, wenn es als ein Teil des schon bekannten Allgemeinen auftritt. Wenn nun das Besondere selbst, hier in Gestalt der Individualität und Politikfähigkeit von Menschen, in der Politologie wissenschaftlich untersucht werden soll, muss hier eine methodische Kehre durchgeführt werden, nämlich das Besondere als Besonderes in einer Analyse der subjektiven Fähigkeit zur Besonderung zu erörtern. Der wissenschaftliche Auftrag, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu konstruieren, bleibt dadurch unberührt.

II.

Es deutet sich schon an, dass ein solcher Ansatz ohne den Bewusstseins- und sogar den inzwischen wissenschaftlich kaum noch akzeptierten Vernunftbegriff nicht auskommen wird. Dieser Rückgriff auf ein als überholt geltendes philosophisches Instrumentarium wird nicht im Gestus der theoretischen Verlegenheit gemacht, sondern ist durchgehend affirmativ. Die verschiedenen Arten des Denkvermögens und die Gestalten der Vernunft, wie Immanuel Kant sie in seinem kritischen System erarbeitet hat, werden im Laufe der Untersuchung und nach Maßgabe der jeweiligen Fragestellung an dem Material erprobt, das uns als "politische Wirklichkeit" vertraut zu sein scheint. Eine Variation auf die Leitfrage könnte daher lauten: Wann, wo und auf welche Weise kann das historische Weltgeschehen als die Artikulation von individueller politischer Vernunft gedeutet werden und wie muss diese ihrerseits beschaffen sein?

Die Dominanz nach-metaphysischer Theorien, die alle subjektphilosophischen Bemühungen für gescheitert halten, wird hier berücksichtigt.9 Da aber noch niemand die Autorität hat, ein allgemeingültiges und letztes Metaphysikverbot verbindlich zu machen, steht es weiterhin frei, mit dem schwierigen und voraussetzungsvollen Vernunftbegriff zumindest versuchsweise wichtige menschliche Zusammenhänge zu erklären.

Vernunft ist bekanntermaßen keine empirisch wahrnehmbare oder experimentell nachweisbare Substanz. Sie ist kein Gegenstand unter anderen in der physischen Welt. Dennoch, so meinte Kant, sei die Annahme eines übersinnlichen Vermögens nützlich und sogar notwendig. Nur ein solcher focus imaginarius, der außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Welt liegt, macht nämlich die Ordnung der Welt erkennbar - und zugleich die verschiedenen Vermögen der Subjekte selbst, solche Ordnungen zu erkennen und zu schaffen. Die gedachten Linien des bekannten Weltwissens wurden in der Transzendentalphilosophie über die physische Welt hinaus verlängert, um das Vermögen zu erforschen, das die Bedingungen zu diesem Weltwissen enthält.10 Kant wollte das Erkenntnisvermögen selbst erkennen, und zwar innerhalb dessen Grenzen. Ganz ähnlich wird hier verfahren, denn es geht nicht darum, das substantivierte Politische wie ein gut lesbares Etikett an bestimmten Gegenständen oder Ereignissen anzubringen. Vielmehr sollen die Linien über die empirische Welt hinaus zu dem Vermögen gezogen werden, das uns die Dinge der Welt als politisch erkennen und verstehen lässt. Dieses Vermögen nimmt die politische Qualität von Dingen und Ereignissen nicht passiv in sich auf, sondern bringt diese erst hervor. Kant bezeichnete diese Einsicht als eine "kopernikanische Wende". Der Grund der Erkenntnis des Objekts muss in der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts gesucht werden. Wir werden hier versuchen, diesen Weg noch einmal fruchtbar zu machen für die politische Philosophie. Kants großes Werk über Ästhetik und Teleologie, die Kritik der Urteilskraft, wird dabei die Baustelle sein, auf der ein Fundament freizulegen ist, das der tragende Grund für eine neue Philosophie des Politischen sein wird.

Auf die Argumente, die bisher gegen eine weitere Verwendung der sogenannten "Bewusstseinsphilosophie" oder "Subjektphilosophie" vorgebracht worden sind, wird in Kapitel 1.9 unter dem Titel Hypostasen der Identität eingegangen. Es ist für die hier beabsichtigte Beweisführung nämlich nicht unerheblich in Erfahrung zu bringen, wie und warum dieser Weg bisher versperrt war und warum das, was ich gerne die Zweite Tradition der Bewusstseinsphilosophie nennen möchte, nie zum Zuge gekommen ist. Die wichtigste Rolle in diesem abenteuerlichen Stück der philosophischen Grabräuberei und Wegelagerei spielt paradoxerweise das Werk von Dieter Henrich, dem bekanntesten und profundesten Autor der zeitgenössischen Bewusstseinsphilosophie. Er wird hier zum ersten Mal mit einer fundamentalen Kritik seiner Schriften konfrontiert, die sich aus den Quellen speist, die Henrich zu verteidigen vorgibt.

Es wird sich dabei aber auch zeigen, dass ein Konzept politischer Subjektivität keine der Errungenschaften von Diskurs- und Systemtheorie in Frage stellt. Vielmehr wird die Ergänzungsmöglichkeit dieser beiden dominierenden Ansätze der Sozialtheorie in Betracht gezogen. Es geht darum, ein bisher häufig beobachtetes Defizit an diesen beiden großen Theoriegebäuden durch ihre Komplementierung auf einem neuen Grund zu beheben. Dem „Ich“ muss gegenüber dem „Wir“ eine neue und faire philosophische Chance gegeben werden.

III.

Die historische Beobachtung konzentriert sich auf Deutschland, weil der Prozess dort die deutlichsten und tiefsten Spuren in der Literatur hinterlassen hat und sich daher zur systematischen Thematisierung anbietet. Keinesfalls ist das Deutschland des 18. Jahrhundert der Ursprung der politischen Moderne – bekanntermaßen ist eher das Gegenteil der Fall. In Deutschland sind die Elemente des Politischen dafür wesentlich stärker intellektualisiert worden als anderswo. Anstatt Individualität, ästhetische Kompetenz und Öffentlichkeit durch die Tat zu verwirklichen wie in Nordamerika, haben die Deutschen viele tiefsinnige Traktate geschrieben. Das ist endlich einmal ein Vorteil, weil diese abstrakte Vorgehensweise nun doch einen Einblick gewährt in die Fähigkeiten, die von denkenden Menschen verlangt werden, um diese Dinge des Politischen in praxi hervorzubringen und auch zu ertragen. Deshalb ist die hier vorgestellte politische Trias eine ästhetisch reizvolle Figur und keinesfalls ein metaphysisches Zeichen, das in die deutsche Geschichte eingeschrieben ist. Sie ist nur ein Zusammentreffen von Ereignissen, deren ästhetische Gestalt gleichsam ihre eigene systematische Erforschung erbittet. Sie drängt sich dem interpretierenden Verstand geradezu auf und verspricht, dass die Klarheit ihres Umrisses auch noch von einer Bedeutung bewohnt wird, die schon lange auf eine ihr angemessene Hermeneutik wartet.

Quentin Skinner hat seine große Studie The Foundations of Modern Political Thought in der Renaissance beginnen lassen. Es ist wohl auch unbestreitbar, dass die neuen Formen der Staatsklugheit (Machiavelli), der politischen Wissenschaft (Hobbes) und der Kontrolle religiöser Konflikte (Toleranz, Souveränität) seit dem 16. Jahrhundert auf dem Vormarsch waren. Doch die Frage nach der politischen Subjektivität ist noch einmal etwas ganz anderes als die Frage nach der Genese dieser Ordnungskonzepte, die zur gefälligen Nachahmung und Inspiration für weltliche wie geistliche Fürsten entwickelt wurden, um ihre Staatsmaschinerien besser beherrschbar zu machen. Darin wirkt immer noch der alte, restriktive Sinn von Politik als Herrschaft mittels Tugendhaftigkeit, Gesetz und gegebenenfalls List. Die politische Trias, die hier beschrieben wird, entfaltet sich daher im 18. Jahrhundert, weil erst zwischen den bürgerlichen Revolutionen der Rahmen einer politischen Moderne geformt wurde, in dem auch die vorausgegangenen Errungenschaften der Renaissance und der Religionskriege wirksam eingespannt und von bürgerlichen politischen Subjekten verwirklicht werden konnten. Es geht also um die philosophische Analyse eines Denkvermögens, das den Übergang vom Untertan zum Bürger begleitet haben muss.

Nach der sozialen Aufhebung der Arbeiterklasse einiger Industrienationen in einer erweiterten Mittelschicht halten dort nun insbesondere Frauen die Erinnerung daran lebendig, wie steil der Weg zur historischen Realisierung ihrer politischen Subjektivität war - ein Weg, der vielerorts in der Welt auch heute noch nicht beschritten ist. Im 18. Jahrhundert kündigte sich dieser Aufbruch erst sehr vorsichtig an, womit nicht etwa der Katalog der Frauenrechte von Olymp de Gouges gemeint ist, sondern nur das sich ausbreitende konkrete Recht von Frauen, die Wahl des Ehepartners mitzubestimmen. Deshalb wird im historischen Teil bezüglich der politischen Subjektivität auch nicht eigens auf die Geschlechterdifferenz eingegangen, obgleich das natürlich eine wichtige Fragestellung wäre. Die Verzögerungen in diesem Bereich sind den streng patriarchalen Lebensformen und den politischen Subjekten geschuldet, die ihre gerade erst entdeckte Bürgerlichkeit als Form universeller Menschheit im Individuum noch mit ihrer männlichen Geschlechtsnatur überidentifizierten. Dieser Komplex gehört zu den Themen der historischen und philosophischen Frauenforschung, der hier nicht vorgegriffen werden soll.

IV.

Für den Gang der Untersuchung wird zuerst eine Unterscheidung vorgeschlagen, die eine gewisse Orientierung in der Fülle des Materials ermöglichen soll. In der gängigen Terminologie der deutschen Politikwissenschaft wird bei der Unterscheidung von "politischer Theorie" und "politischer Philosophie" letztere in der Regel mit normativer Politiktheorie gleichgesetzt, also wie Politik sein soll.11 Hier wird politische Philosophie allerdings auf andere Weise von der politischen Theorie getrennt werden, nämlich als Grundlagenforschung. Die politische Philosophie erforscht in der hier angewandten Definition ausschließlich die Grundlagen politischer Subjektivität; die politische Theorie bearbeitet diese Form von Subjektivität dagegen erst im aggregierten Zustand konkreter gesellschaftlicher Interaktion und Ordnung. Die idealtypische Differenz wird postuliert, damit im Laufe der Untersuchung umso deutlicher gezeigt werden kann, wie sehr und auf welche Weise jede Theorie der Philosophie verpflichtet ist. Mit der Unterscheidung von politischer Philosophie und Theorie ist noch eine weitere Abgrenzung beabsichtigt. Es geht darum, das Vorhaben vor der in Deutschland, wie bereits erwähnt, häufigen Gleichsetzung von politischer und praktischer Philosophie zu bewahren. Praktische Philosophie behandelt nämlich die subjektive Dimension (Philosophie als implizite Anthropologie) und die kollektive Dimension des Politischen (Theorie als gesellschaftliche Wertelehre des guten Lebens) auf derselben Ebene und führt wegen dieses Mangels an Ausdifferenzierung zu Kurzschlüssen. Deutliche Anzeichen für solche Defekte sind die unvermittelten Übergänge von moral- zu rechtsphilosophischen Problemen in Abhandlungen, die sich selbst im Bereich der praktischen Philosophie verankert sehen.12 Die Ähnlichkeit von moralischer und rechtlicher Denkungsart - sofern sie als von der Philosophie bestimmt zu betrachten sind - hat in der abendländischen Theoriegeschichte dazu verführt, beim Übergang von der Moral zum Recht immer ein wichtiges Stadium zu überspringen. Damit wird einer Intuition von Hannah Arendt gefolgt. An Karl Jaspers schrieb sie einmal:

"Nun habe ich den Verdacht, dass die Philosophie an dieser Bescherung [die Überflüssigmachung des Menschen als Menschen] nicht ganz unschuldig ist [...]...in dem Sinne, dass diese abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte."13

In der Regel wird unter politischer Philosophie vor allem die normative Fragestellung des "Wie sollen wir zusammen leben?" verstanden. Doch genau diese Fragestellung muss hier vermieden werden, weil sie zu viel voraussetzt und immer auf die Ordnung bereits organisierter politischer Subjekte zielt. Sobald die politischen Urteile in diesen Horizont des "Wir" eintauchen, verschwindet das "Ich".14 Diese Momente, in denen es aber noch ganz vital ist und mit sich selbst kämpft, um sich zu einem Urteil durchzuringen, werden hier beobachtet. Im normativ strukturierten Diskurs spricht das Subjekt bereits unter der Forderung des "wir müssen" und "wir sollen". Politische Subjektivität dagegen ist das Aufblitzen des frechen "ich will - und die anderen sollen!" im Urteilen. Da es also nur um das politische Subjekt als Individuum geht, möchte ich innerhalb dieser Untersuchung den Begriff der politischen Philosophie völlig normenfrei verstanden wissen. Das Konzept politischer Subjektivität ist ein Versuch, die politische Kompetenz im Individuum auf deskriptive Weise zu erörtern. Das Folgende ist also keine Stellungnahme für oder gegen Demokratie, Liberalismus, Kommunitarismus, autoritäre Herrschaft, progressive oder konservative Politik oder sonstige politische Lebens- und Regierungsformen. Das wären immer schon theoretische Modelle, in denen Individuen aggregiert unter bestimmten Ordnungsschemata vorgestellt werden. Von diesen Aggregaten wird hier abstrahiert, erstens um dem regulativen Wissenschaftsideal im Wertfreiheitspostulat so gut wie möglich zu entsprechen, zweitens um die allgemeine politische Kompetenz (als Untertan, Bürger, Wähler, Familienmitglied, Arbeitnehmer, Mandatsträger oder politischer Führer) zu erforschen. Man muss zu diesem Zweck zum Individuum zurückkehren und dann erst einmal klären, wie der Übergang von einem allgemeinen Subjekt der politischen Denkformen zum Individuum gestaltet ist, d. h., was das Subjekt zum Individuum macht, um von dort aus weiter zu fragen. Aus diesem Grund nimmt die Erörterung des Individualismus im historischen Teil der Untersuchung den größten Raum ein. Und aus demselben Grund empfiehlt sich die Unterscheidung von politischer Theorie (Ordnung) und politischer Philosophie (Subjekt), weil nur letztere hier von Interesse sein wird.

Die vorzunehmende Distanzierung von der praktischen Philosophie soll nicht bedeuten, dass Moral nichts mit Politik zu tun habe, wie einige Dezisionisten und Systemtheoretiker ohne zu zögern bestätigen würden. Das Verhältnis von Moralität und Politizität, d. h. von moralischer und politischer Urteilsfähigkeit, muss vielmehr in seinem Gehalt an Differenzen sehr genau untersucht werden, damit die Bedeutung der Moral für die Politik neu und eventuell besser buchstabiert werden kann. Die entscheidende Voraussetzung hierfür ist die Abstinenz von jeglichen normativen Vorgaben in der Analyse. Zu schnell würde sonst hieraus ein erbaulicher Katalog politischer Wünsche. Der gelegentliche Blick auf das "krumme Holz der Menschheit" (Kant) und auf die "Schlachtbank der Geschichte" (Hegel) genügt, um den Rausch der moralischen Phantasie im Politischen auszunüchtern. Es wird hier keine "neue Politik" vorgestellt oder gesucht, kein normatives Postulat erhoben. Vielmehr soll eine kulturelle Leistung der Moderne als kognitive Leistung der Individuen einsehbar gemacht werden.

V.

In der Ästhetik, so hat es bereits Cassirer gesehen, wurde das philosophische Hauptproblem des 18. Jahrhunderts thematisiert.15 Alle bedeutenden Denker der Aufklärung beschäftigten sich mit Ästhetik, im extensiven Sinn als Geschmackslehre oder eingeschränkt als Lehre des Kunstschönen. Sie hat mit Kants Kritik der Urteilskraft – wiederum eine Beobachtung Cassirers – ihre "definitive Form erhalten".16 In dieser Form der philosophischen Geschmackslehre soll hier die Vermittlung von Individualität und Öffentlichkeit, von Philosophie und Theorie, von Eigenwelt und Sozialität gesucht werden. Das Verhältnis von Politik und Ästhetik gehört in theoretischer wie empirischer Hinsicht immer noch zur Terra incognita der Sozialwissenschaften.17 Genau dieser Übergang, der bisher in einem restriktiven, auf Naturschönheit, Erhabenheit und Geschmackskultur beschränkten Sinn als ästhetisches Verhältnis bezeichnet wurde, soll hier als "erweiterte Denkungsart" in seiner genuin politischen Dimension erschlossen werden. Hannah Arendt beschäftigte seit ihrem Kant-Studium in den frühen 1950er Jahren ein entscheidender Gedanke. In Kants Kritik der Urteilskraft, so meinte sie, sei ein Organ der Vernunft gegeben, das Singularität (des Ich) und Pluralität (der Menschheit) zusammen denken kann, nämlich die reflektierende Urteilskraft. Genau diese Intuition ist der Ausgangspunkt unserer Untersuchung, und wir werden diesem Gedanken von Hannah Arendt hier bis in seine letzten Implikationen folgen um zu zeigen, dass sie damit den Weg zu einem der größten Schätze der politischen Philosophie gewiesen hat.


Abb. 3: Hannah Arendt (1906-1975)

Auf der Grundlage des historischen und philosophischen Materials im ersten Teil des Buches wird nämlich gezeigt, wie diese reflektierende Urteilskraft und ihre subjektiven Bedingungen tatsächlich eine neue, nämlich eine politische Qualität als Produkt hervorbringen, das im Reflektionsurteil über öffentliche Ordnung besteht. Dieses Produkt wird mit seinen einzelnen Bestandteilen und als Ganzes einer philosophischen Prüfung seiner Berechtigung unterzogen. Der Begriff der Öffentlichkeit wird hierbei nicht vorausgesetzt, sondern erst problematisch eingeführt. Das in der philosophischen Analyse darstellbare Realitätskontinuum von Öffentlichkeit ist nämlich wesentlich weiter gespannt als das der bisherigen Öffentlichkeitstheorien. Öffentlichkeit wird sich dabei als ein Medium erweisen, das durch Handlungen des Denkens, nämlich durch Urteile, geschaffen wird. In ähnlicher Weise müssen die Begriffe "Ordnung", "Individualität", "Macht", "Recht" usw. erst einmal subjektivpolitischen Emergenz und Evolution