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Brigitte Endres

Die verschwundene

Millionen-Geige

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 132

ISBN 978-3-7957-8556-7

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 20589

© 2009 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Letztes Kapitel

Philipp Bausewein, genannt Amadeus, hochmusikalisch, spielt neben Klavier auch noch Orgel. Der Mädchenschwarm ist Stipendiat auf Treuenfels.

Fliege, eigentlich Lukas Fliege, gutmütiger und humorvoller Kumpel, aber mitunter etwas reizbar, hasst Mathe und Witze über Tubaspieler

Igel alias Nick, alias Nikolaj Odenwald, Computerfreak und ziemlich guter Klavierspieler. Den Namen Igel hat er nicht nur seiner Frisur zu verdanken

Cosima von Wessel, kurz Cosi, bildhübsch, vernünftig und sehr ehrgeizig, träumt davon, einmal auf einer Stradivari zu spielen

Malu – Marie Luise Berthold, ziemlich cool und schlagfertig gegenüber Jungs, beste Freundin von Cosi, spielt Querflöte und Gitarre

Das Musikgymnasium Burg Treuenfels

Seit fast hundert Jahren beherbergt Burg Treuenfels ein Musikgymnasium. Vor allem der Knabenchor Pueri Cantantes hat viel zum Ruhm der Schule beigetragen. Bis zum Stimmbruch ist die Teilnahme am Chor für alle männlichen Schüler Pflicht. Deshalb wurde der Schule schon früh ein Jungeninternat angegliedert. Mädchen sind heute aber als Externe zugelassen. Jeder Schüler muss mindestens ein Instrument lernen.

Etliche international berühmte Musiker sind Ehemalige der Schule. Ein Treuenfelser zu sein ist nicht immer leicht. Aber es ist – und da sind sich die fünf von der Amadeus-Bande einig – etwas ganz Besonderes.

Erstes Kapitel

Dunkle Wolken tanzten über die aufgewühlte Wasseroberfläche. Böen rauschten durchs Schilf. Amadeus saß auf dem Steg des alten Bootshauses und starrte dumpf in den kleinen See, der sich zusehends düster verfärbte. Es lag Spannung in der Luft.

»Vielleicht ist er ja ganz nett«, riss ihn eine Mädchenstimme aus seinen Gedanken.

Aber Malu, die hinter ihm stand und sich vergeblich abmühte, ihre blonden, vom Wind zerzausten Haare mit einer Spange zu bändigen, erntete nur Schulterzucken.

Ein großes, dunkelhaariges Mädchen trat aus der Tür. Sie deutete hinter sich. »Mann! Fliege hat vielleicht ’ne Laune!«

Malu sah ihre Freundin mit einem Stirnrunzeln an und nickte vielsagend in Richtung des Jungen, der, ihnen den Rücken zugewandt, aufs Wasser blickte. »Der hier auch«, flüsterte sie.

»Okay«, sagte sie dann laut. »Cosi und ich finden es auch bescheuert, dass Einstein euch den Neuen aufhalst. Aber dann treffen wir uns halt in Zukunft hier.«

Doch auch darauf reagierte Amadeus nicht. Mit einer Grimasse, die wohl andeuten sollte, dass sie es jetzt aufgab, Amadeus aufzumuntern, verzog sich Malu in die Hütte.

Cosi ließ sich neben Amadeus auf den verwitterten Holzplanken nieder. Sie musterte ihn mit einem verstohlenen Seitenblick. Er sah wirklich verdammt gut aus, selbst wenn er, wie jetzt, schlecht gelaunt war. Und noch viel besser, wenn seine Bernsteinaugen lachten.

Sie hob verträumt den Kopf. Von ihrem bewaldeten Hügel, hoch über dem See, blickte Burg Treuenfels majestätisch auf sie herab.

Gleich am ersten Schultag auf Burg Treuenfels, deren Gemäuer das Musikgymnasium beherbergte, das sie alle besuchten, hatte sie sich in Amadeus verknallt. Eine kindliche und ganz heimliche Liebe war das gewesen. Unzählige Herzchen mit seinem Namen hatte sie gekritzelt: Philipp, wie er damals noch hieß. Erst seit er in einem Sketch beim Sommerfest den jungen Mozart gespielt hatte, war der Amadeus an ihm kleben geblieben. Cosi erinnerte sich noch, wie er sich anfangs mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Schließlich hatte er sich damit abgefunden. Alle nannten ihn mittlerweile Amadeus, sogar die Lehrer. Cosi schmunzelte. Passte ja auch zu ihm. Irgendwie war er tatsächlich fast ein Wunderkind, wenn man bedachte, dass er sich völlig selbstständig das Klavierspielen beigebracht hatte. Als Fünfjähriger! Noch dazu auf einem alten Keyboard! Musikalisch waren hier alle Schüler, aber Amadeus besaß etwas, das die wenigsten hatten: das absolute Gehör. Und auch die Schule schien er mit links zu machen.

Cosi wickelte eine Locke um den Zeigefinger. »Malu hat übrigens recht. Wir machen einfach das Bootshaus zum Hauptquartier der Amadeus-Bande. Mit eurem alten Sofa ist es doch schon viel gemütlicher.«

Amadeus nickte abwesend.

Amadeus-Bande. Die Bande hatte allen über die ersten schwierigen Monate auf Treuenfels hinweggeholfen. Zusammengefunden hatten sie sich, weil sie in der Unterstufe noch in Vierergruppen saßen. Da aber nur sechs Mädchen die Klasse besuchten, mussten zwei sich zwangsläufig zu Jungs setzen. Malu hatte damit kein Problem, sie hatte zwei Brüder und war Jungs gegenüber total cool. Und ihr selbst war der brünette Philipp mit den langen Wimpern sowieso gleich ins Auge gestochen. Und irgendwie passte die Sache vom ersten Tag an. Bald verbrachten sie auch oft ihre Freizeit miteinander, obwohl die Mädchen auf Burg Treuenfels externe Schülerinnen waren und in Hallbrück wohnten, da nur Jungs das Internat besuchten.

Irgendjemand hatte sie dann eines Tages mit dem Namen Amadeus-Bande gehänselt. Das brachte Amadeus auf die Idee, tatsächlich eine Bande zu gründen – und im besten Banden-Alter waren sie ja damals. Dass die Bande Amadeus’ Namen trug, hatte keinen von ihnen gestört. Alle fanden, dass Amadeus-Bande cool klang. In den ersten Jahren hatten sie ausgiebig die alte Wehranlage erforscht, waren in Gängen und Kellern herumgekrochen und hatten am Burgwall nach Schätzen gegraben – gefunden hatten sie allerdings nur alte Scherben, verrostete Nägel und sonstigen Abfall der ehemaligen Burgbewohner. Aber spannend war die Schatzsuche trotzdem gewesen!

Sie fing mit den Händen erste Regentropfen auf. »Wir sind doch ein echt gutes Team«, sagte sie dann.

Amadeus knurrte etwas vor sich hin.

Cosi schüttelte entschieden die dunkle Mähne. »Daran ändert auch ein Nikolaj Odenwald nichts!«

Amadeus nickte und richtete sich auf.

Cosi hatte recht. Von Anfang an waren sie eine verschworene Gemeinschaft gewesen. Die erste Zeit, vor allem das Probehalbjahr auf Treuenfels, war ziemlich hart gewesen. Auch in ihrer Klasse hatten es nicht alle geschafft. Doch sie vier hatten sich gemeinsam durchgebissen.

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Cosi strahlte ihn an, und Amadeus vergaß für einen Moment seinen Ärger. Der einsetzende Regen malte kreisförmige Muster auf die Wasseroberfläche. Amadeus wischte sich verlegen einen Tropfen von der Wange.

Cosi hatte so etwas Feenhaftes. Ihre blasse Haut, die kastanienbraunen Haare, die Sommersprossen – jede genau da, wo sie hingehörte. Aber sie hatten ausgemacht, dass sie Freunde bleiben wollten. Gute Freunde, mehr nicht. Zu oft hatten sie bei Mitschülern gesehen, wie aus Pärchen schließlich Feinde geworden waren. Nein, ihre Freundschaft wollten sie nicht aufs Spiel setzen!

Wirklich gut, dass sie das Bootshaus von Malus verstorbenem Großvater hatten. Und auch gut, dass Malus Eltern wegen ihrer Arztpraxis keine Zeit hatten, es zu nutzen. Und noch besser war, dass Malus Brüder, die hier oft gefeiert hatten, inzwischen beide weit entfernt studierten.

»Ist der nicht süß?« Cosi lenkte Amadeus’ Aufmerksamkeit auf einen Marienkäfer, der ziellos auf den Brettern herumkrabbelte. »Na, komm schon!« Sie bot dem Käfer den Zeigefinger an, den der kleine Krabbler auch gleich erkletterte. »Ein Siebenpunkt«, sagte sie, nachdem sie ihn ausgiebig betrachtet hatte. »Die bringen Glück.« Damit setzte sie den Marienkäfer auf Amadeus’ Bein.

»Hmmm«, brummelte Amadeus und starrte auf das Tierchen, das sich Richtung Knie bewegte.

»Gewitterstimmung«, bemerkte Cosi mit einem Seufzer.

Amadeus nickte finster.

Verdammt! Sie hatten es so gemütlich gehabt, Fliege und er. Jetzt, wo sie endlich ein Zweierzimmer hatten und sich niemand daran störte, wenn Malu und Cosi bei ihnen herumhingen. Warum musste dieser Nikolaj Odenwald ausgerechnet bei ihnen einquartiert werden? Irgendetwas war doch faul mit diesem Typen!

Nachdem der Direktor ihnen den Neuen so dringend ans Herz gelegt hatte, hatten sich Fliege und Amadeus bei Herrn Lenz, ihrem Erzieher, beschwert. Warum sollten gerade sie sich zu dritt in ein Zweierzimmer zwängen? Und warum kam der Typ eigentlich mitten im Schuljahr? Doch Lenz, der sonst sehr offen war, hatte ganz eigenartig herumgedruckst und irgendetwas von »wichtig für die Schule« gemurmelt. Und sie sollten sich doch bitte um den Neuen bemühen, er sei immerhin der Sohn Artur Odenwalds, eines prominent gewordenen Treuenfelsers.

Gestern mussten sie dann auch noch das gemütliche alte Sofa, das sie bei der Renovierung des Elternsprechzimmers ergattert hatten, aus ihrem Zimmer schaffen, damit Hausmeister Spieß ein drittes Bett und einen weiteren Schreibtisch aufstellen konnte. Natürlich hatten Fliege und er ordentlich rumgemosert, worauf der Hausmeister so eine Bemerkung gemacht hatte von wegen »Geld regiert die Welt«. Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszuholen gewesen. Wenigsten konnten sie Spieß dazu überreden, das Sofa in seinem alten Kastenwagen runter zum Bootshaus zu transportieren, statt es zum Sperrmüll zu bringen.

Und alles wegen dieses Promisöhnchens!, dachte Amadeus verächtlich, während der Siebenpunkt sein Knie erklomm und dann zum Flug ansetzte.

Die zarten Flügelchen des Käfers flatterten im Wind. Dann schwang er sich in die Höhe und wirbelte mit einem Luftzug davon.

»Wir hätten ihn besser ins Bootshaus schaffen sollen«, sagte Cosi. »Fürchte, es wird bald gießen.«

Amadeus musste trotz der Wut, die ihm wie Feuer im Bauch brannte, lächeln. Das war typisch Cosi! Sich um einen Käfer Sorgen zu machen – das passte zu ihr.

Cosi stand auf und deutete unruhig zur Burg hoch. Amadeus folgte ihrem Blick. Wolken von finsterem Schwarz senkten sich jetzt auf Treuenfels. Gespenstisch und düster stand die Feste gegen den dämmergrauen Horizont.

»Da hinten kommt es dicke!«, stellte Cosi fest. »Wir sollten allmählich loszischen, sonst müssen wir das Wetter hier abwarten.«

»Und wenn schon«, gab Amadeus muffiger als beabsichtigt zurück. »Fliege und ich machen bestimmt nicht auch noch das Empfangskomitee für diesen Nikolaj.«

Cosi runzelte die Stirn.

Zweites Kapitel

Unweit des Sees bog eine schwarze Limousine von der Autobahn in die Ausfahrt Hallbrück ein. Am Steuer ein großgewachsener Mann, neben ihm ein Junge, das Schild seiner Baseballkappe abweisend nach links gedreht, sodass der Fahrer nur schwer ausmachen konnte, was im Gesicht seines Beifahrers vorging. Auf diese Weise blieb ihm dessen versteinerte Miene erspart. Den Blick starr aufs Handschuhfach gerichtet, schlug der Junge mit der Rechten einen monotonen Rhythmus aufs Knie.

Der Mann deutete nach vorn. »Nicki, schau! Das ist Treuenfels!« Seine Stimme klang belegt. Er atmete geräuschvoll aus. »Mein Gott! Wieder hier zu sein!«

Der Junge zog die Kopfhörer aus den Ohren und sah hoch.

Ein entfernter Blitz durchschnitt die schwarzblauen Wolkenmassen und ließ die Burg für einen Moment als geisterhaften Schattenriss erscheinen. Der reservierte Gesichtsausdruck des Jungen verwandelte sich in ungläubiges Staunen.

Das war Treuenfels! Wahnsinn! Türme, Wehrmauern, Schießscharten …

Sicher, er hatte Fotos gesehen, aber in der Realität übertraf die Burg all seine Erwartungen. Eine ideale Kulisse für einen Vampirfilm – oder besser noch für ein Computerspiel. Ritter und Schwertkämpfer tauchten vor seinem inneren Auge auf, Turniere mit Lanzenkämpfern und Armbrustschützen …

Der Mann drehte ihm den Kopf zu. »Nicki …« Er räusperte sich. »Ich bin sicher, es wird dir gefallen.«

Die Mundwinkel des Jungen zuckten. Es würde ihm hier nicht gefallen! Das wusste er jetzt schon. So märchenhaft die Burg auch aussah. Treuenfels war kein Spiel, es war bitterer Ernst. Treuenfels bedeutete: Schule, Internat – Gefängnis.

Ohne zu antworten, stöpselte sich der Junge die Kopfhörer wieder in die Ohren und drehte seinen MP3-Player auf volle Lautstärke.

Hoch über dem Tal stand Direktor Wieland am Fenster seines Büros. Zwei Turmfalken, die Schwingen weit aufgefächert, segelten mit den auffrischenden Luftströmen des rasch näher kommenden Gewitters auf und nieder. Erbarmungslos peitschte der Wind die Baumwipfel der umliegenden Wälder. Erste Blitze durchschnitten den dunklen Himmel. Doch es war nicht das Wetter, das Direktor Wieland Sorgen bereitete. Solche Stürme musste Treuenfels nicht fürchten. Viel gefährlicher waren Stürme anderer Art.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollten sie längst da sein!

Mit einer resignierten Bewegung fuhr er sich durch die wirren grauen Haare, denen er den Spitznamen Einstein verdankte. Es war ein Fehler, Nikolaj Odenwald in die Schule aufzunehmen! Wenn es nach ihm gegangen wäre … Er schüttelte verdrossen den Kopf. Einen Schüler aufzunehmen ohne Aufnahmeprüfung, ohne persönliches Kennenlernen, einen Schüler, dessen einzige Empfehlung sein Name war …! Zugegebenermaßen ein großer Name: Odenwald.

Artur Odenwald war ein Ehemaliger. Ein ganz besonderer Ehemaliger. Ein Treuenfelser, auf den die Schule stolz sein konnte. Artur Odenwald hatte schon als Solist bei Pueri Cantantes, dem berühmten Chor des Jungeninternats, erste Erfolge gefeiert. Und heute gehörte er zu den zehn besten Tenören der Welt, war in New York, Mailand, Wien und Berlin ebenso bekannt wie in Tokio und Sydney. Ein Sänger, der den Ruhm der Schule in der ganzen Welt verbreitete. Sicher war ihm Treuenfels dafür etwas schuldig; aber nichts, rein gar nichts rechtfertigte es, die grundlegenden Prinzipien der Schule zu verraten!

Doch die Entscheidung, Nikolaj Odenwald aufzunehmen, war trotz seiner Einwände durchgeboxt worden. Sowohl der Schulbeirat als auch der Förderverein der Schule hatten ihn überstimmt. Und sogar einige Lehrer waren ihm in den Rücken gefallen. Das hatte Odenwald ja auch schlau eingefädelt! Mit der Spende, die er der Schule anbot, konnte endlich die marode Sporthalle renoviert werden. Direktor Wieland verzog das Gesicht, während er nach Odenwalds Brief angelte, der hinter ihm auf dem Schreibtisch lag. »Spende!«, zischte er. »Erpressung ist wohl passender!«

Er überflog das Schreiben noch einmal. Wenn er zwischen den Zeilen las, zog mit Nikolaj ein ganz schönes Früchtchen ins Internat ein. Der Junge war in Berlin aufgewachsen. Seine Mutter, die bekannte russische Pianistin Sofia Saranova, und sein Vater hatten sich im vorigen Jahr getrennt. Seitdem hatte Nikolaj bei seiner Mutter gelebt. Offenbar war sie monatelang auf Tournee, und es klang durch, dass Nikolaj oft sich selbst überlassen war und dass er seine Freiheit nicht gerade dazu genutzt hatte, seine Schulleistungen zu verbessern. Und nun hoffte Artur Odenwald anscheinend darauf, dass Treuenfels aus diesem Rotzbengel einen gesitteten Chorknaben machte.

Dicke Regentropfen klatschten jetzt gegen das Fenster und schlängelten sich in kleinen Bächen über die Scheiben.

Unwillig warf Wieland den Brief auf den Tisch zurück. Treuenfels war schließlich kein Auffanglager für schwierige Kinder! Im Gegenteil! Wer die Auswahlkriterien für Treuenfels erfüllte und sich an der Schule bewährte, konnte stolz von sich sagen, dass er zu einer Elite gehörte. Sicher waren die Jungs hier keine Engel. Gott bewahre! Aber jeder, der hier durchhielt, war sich bewusst, was es hieß, ein Treuenfelser zu sein, und dass dazu Ehrgeiz, Disziplin und Belastbarkeit gehörten. Geschenkt bekam man hier nichts!

Wieland sah zum Wohntrakt hinüber, wo einige Kurzbeiner – so nannten die älteren Treuenfelser die Unterstufenschüler – lärmend und sich anrempelnd ins Haus drängelten, um dem inzwischen herunterprasselnden Regen zu entkommen.

Ein schwarzer Mercedes passierte das gewaltige Sandsteintor, das in den Burghof führte. Das waren sie! Nun, jetzt konnte man nur noch darauf hoffen, dass der Geist der Schule und der Einfluss seiner neuen Mitschüler Wirkung bei Nikolaj zeigten. Nicht umsonst hatte er den Problemfall bei Amadeus und Lukas Fliege einquartiert. Auch wenn die beiden es nicht gerade begeistert aufgenommen hatten, dass ein Neuer zu ihnen ins Zimmer kam, zumal ihnen jetzt in der Mittelstufe ein Zweierzimmer zustand.

»Ich hoffe, ihr helft Nikolaj, sich hier einzugewöhnen«, hatte er gesagt und leichtsinnigerweise hinzugefügt: »Ich fürchte nämlich, er kommt nicht ganz freiwillig hierher.«