cover_Notausgang.jpg

Impressum

1. Auflage September 2013

©opyright 2013 by Autor

Titelbild und Covergestaltung: © Frank Dietrich und Ulrike Seeber

Lektorat: Christian Ritter

Satz und EBookkonvertierung: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-942920-79-7

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist

nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

Hat Dir das Buch gefallen? Schreib uns Deine Meinung unter:

info@unsichtbar-verlag.de

Mehr Infos jederzeit im Web unter www.unsichtbar-verlag.de

barcodeWebseite.TIF

Unsichtbar Verlag | Wellenburger Str. 1 | 86420 Diedorf

Stefan Kalbers

Notausgang

Logo_unsichtbar.tif

Die Fähigkeit, mit relativen Wahrheiten zu leben, mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt, mit dem Wissen, nichts zu wissen, und mit den paradoxen Ungewißheiten der Existenz, ist das Wesen menschlicher Reife und der daraus folgenden Toleranz für andere.

Wo diese Fähigkeit fehlt, werden wir, ohne es zu wissen (…) das Leben von Schafen leben, dumpf und verantwortungslos und nur gelegentlich durch den beizenden Rauch einer prächtigen Ketzerverbrennung oder den Schloten von Lagerkrematorien unseres Atems beraubt.

Frei nach Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Ein verlorener Abend

Vereinbarte Uhrzeiten sind nichts wert. Über eine Stunde nach der abgesprochenen Zeit klingelt es an meiner Türe. Ich stehe vor meinem einzigen, kleinen Tisch und bin dabei, ihn frei zu räumen. Ich brauche Platz. Kaffeebecher, verkrümelte Teller, benutzte Messer und Löffel; das Geschirr stapelt sich auf unsicherem Fundament in die Höhe. Einen Teil davon habe ich bereits auf den Boden umgeschichtet. Ich steige vorsichtig über eine Pfanne, die mit Wasser gefüllt ist, damit die Eireste nicht festkleben, gehe aus dem Zimmer durch den Kellergang und öffne die niedrige, grüne Holztüre. In der Dämmerung des Sommerabends steht Falk und grinst breit: »Hey.«

Auf der Straße höre ich schon von weitem die Musik aus Nicks Auto. Beim Einsteigen kommt mir ein Nebel aus Rauch entgegen, vermischt mit dem Geruch von altem, abgenutztemLeder, auf dem Bier verschüttet wurde. Wie immer sind die Beine kaum vor der Rückbank unterzukriegen, und man sitzt auf unzähligen Kassettendeckeln, während die Füße bei jeder Bewegung an Flaschen und Dosen stoßen. Die meisten davon sind leer. Manchmal dachte ich schon daran, sie mit Datum zu beschriften, um mich an bestimmte Abende zu erinnern und die Zeit vergehen zu sehen. Ich sinnierte dabei über einen unbestimmten Abend in der Zukunft. Nick würde mich um eine leere Flasche bitten, die er als Aschenbecher benutzten wollte. Dann würde ich ihm eine nach vorne reichen und sagen: »Schau mal, die ist vom letzten Jahr. Das war ein verdammt guter Jahrgang.«

Nick lenkt den Wagen schnell und unsicher. Von fünf Fahrten fährt er eine nüchtern. Anschnallen ist bei ihm grundsätzlich verboten. Seiner Theorie zufolge sind Unfälle, bei denen man sich im Gurt verheddert und schwer zu retten ist, viel gefährlicher als alles andere. Wir reißen das erste Sixpack auf. Es ist ein angenehmer Sommerabend. Die Hitze des Tages hat sich verflüchtigt, zieht sich in immer länger werdende Schatten zurück, und es wird zunehmend dunkler und erträglicher. In mir pulsiert das Blut des Lebens, was heißen soll, dass eine unbestimmte Freude sich meiner bemächtigt hat, eine Erregung, ein Tatendrang, eine Lust, hineinzutauchen in die kommende Nacht. Wir sind junge Götter auf dem Gipfel der Freiheit. Da Nicks Auto kein Radio hat, habe ich einen Rekorder auf meinen Knien, der so lange spielen muss, bis ihm der Saft ausgeht. Der Lautstärkeregler hat einen Wackelkontakt und reagiert nur auf Extremwerte, und so geht ihm oft und schnell der Saft aus. Eigentlich gehört er Falk, aber inzwischen liegt er nur noch im Auto. Ich nippe an der Flasche und denke mir: Hier bin ich wieder.

Nick kenne ich erst seit ein paar Monaten. Falk hat ihn auf einem Konzert kennen gelernt. Die beiden waren die einzigen Anwesenden, die auf dem Tresen getanzt hatten, da kommt man ins Gespräch. Seine langen, blonden Haare flattern im Wind der offenen Fensterscheibe. Nach unten hin werden sie immer dünner und zerzauster. Sie sind dezent ungepflegt, aber auf die erreichte Länge legt Nick den größten Wert. Künstlich erhitzte Luft ist der Feind jeden gesunden Haars. Aus diesem Grund haben seine Haare noch niemals einen Fön gesehen. Sie werden ausschließlich an der Luft getrocknet. Und das ist nur einer von zahllosen Gründe, um über eine Stunde zu spät zu kommen. Sein breites Gesicht sieht aus, als sei es unter eine Walze geraten. Irgendwie einem Pfannkuchen ähnlich. Er bemerkt, dass ich ihn fixiere, und unsere Augen treffen sich im Rückspiegel. »Was?«, schreit er gegen den Fahrtwind, aber darauf gibt es nichts zu sagen. Falk hingegen kenne ich seit Sandkastentagen. Die Legende besagt, dass er mir eine meiner zwei Schaufeln weggenommen hat, woraufhin ich ihm die andere so lange auf den Kopf schlug, bis seine Mutter eingriff. Man kann sagen, dass wir zusammen aufgewachsen sind. Jedenfalls ist er der Mensch, den ich am längsten kenne, was nicht unbedingt heißen muss, dass ich ihn wirklich gut kenne. Jeder von uns hat ein Elternhaus, das er meidet, so gut es geht. Seine Familie ist sogar im Besitz eines offiziellen Wappens, das er eines Nachts, als er betrunken nach Hause kam, versehentlich von der Wand riss. Es gibt so viele Punkte, weswegen man sich mit Eltern zerstreiten kann. Die Gräben in den Ansichten sind tief und scheinen unüberwindbar.

Der erste Schluck Bier schmeckt immer anders als die anderen. Meistens bitterer. man gewöhnt sich schnell daran, dabei sind Nulldreifläschchen ohnehin eine Frechheit. Die Lichter über den Straßen weisen uns den Weg in die Stadt, und an den Ampeln schauen wir blöde in andere Autos hinein, aus denen fremde Gesichter blöde zurück schauen, und jeder denkt sich seinen Teil. Wir schweigen. Die Musik johlt vor sich hin. Manchmal könnte man meinen, wir seien die letzten Verfechter handgemachter Gitarrenmusik und damit vom Aussterben bedroht. Auch der zweite Schluck schmeckt heute bitterer als sonst. Die Art und Weise, wie Falk raucht und zum Fenster hinaussieht, wie er die Asche abklopft, macht einen angestrengten Eindruck. Auch Nick hat etwas Mechanisches an sich. Seine linke Hand am Steuer verkrampft sich jedes Mal, wenn er aus der Flasche in seiner rechten trinkt. Irgendetwas stimmte heute nicht. Was ist es? Ich versuche, es zu ignorieren. Es gibt Abende, die laufen wie von selbst, man braucht bloß aufzuspringen. Abende, an denen man drei Menschen hintereinander trifft, die man seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Abende, an denen einem die Bauchmuskeln vor Lachen schmerzen. Es gibt Abende, an denen wird Geschichte geschrieben. Das sind Nächte, in denen ich mich frage, wer, verdammt noch mal, wer hat sie inszeniert? Man möchte sich bedanken und weiß nicht, bei wem. Abende, die so schön sind, dass sie einem einen unheimlichen Geschmack auf die Zunge legen, der rötlich im Mund zerfließt. Dann gibt es Nächte, die der Zeit zäh und unlustig ihre Stunden abringen, sich dahin quälen oder einfach im Sand der Gewöhnlichkeit verrinnen. Die meisten sind so, gespickt mit kleinen Ereignissen, deren möglicher anekdotischer Charakter sich erst in der Zukunft offenbart. Selten passiert es, dass eine totale Umkehrung stattfindet. Zumeist an dem Punkt, an dem alle aufgegeben haben, noch irgendetwas zu erwarten. Man ist bereit, nach Hause zu gehen, gelangweilt, müde, leer. Dann plötzlich geschieht irgendetwas, eine belanglose Kleinigkeit, und eine Möglichkeit tut sich auf, wie ein Tor, das man nicht gesehen hat, weil man zu dicht davor stand.

Wir können uns nicht einigen, wohin wir gehen wollen. Um diese Stunde des Abends sind die meisten Örtlichkeiten schlichtweg überfüllt. Nick fährt in eine Seitenstraße. Vor einem Wasserhydranten kommen wir zum Stehen, Nick schaltet den Motor ab. Die Musik ist aus, und diesmal macht sich wirkliche Stille breit.

»Und?«, fragt Nick.

»Was, und? Du kennst diese Stadt genauso gut wie wir.«

Wir gehen sämtliche Läden durch, die uns einfallen, aber entweder waren wir in letzter Zeit schon zu oft dort, oder sie sind garantiert zum Bersten voll. Oder so weit weg, dass der Anfahrtsweg durch nichts zu rechtfertigen ist. Ich schaue vom Rücksitz des Wagens nach draußen. Hinter uns fahren hin und wieder Autos vorbei, alle auf der Suche nach einem risikofreien Abstellplatz. Ein Pärchen läuft Arm in Arm vor einer Reihe von Schaufenstern entlang und redet aufeinander ein, wobei er immer wieder laut auflacht. Es ist ein dämliches Lachen. Ein Lachen, das von Beschränktheit zeugt und von unerschütterlichem Glauben an die eigene Dummheit. Er läuft herum wie ein Gorilla in freier Wildbahn, sie hat diesen Schäfchenblick drauf und kaut Kaugummi. Das Klappern ihrer Absätze hallt in die Dummheit hinein, die sie ausströmen. Sie entfernen sich, biegen um die Ecke und verblassen. Die Welt ist voll von Menschen, bei denen ich froh bin, sie niemals kennen gelernt zu haben.

Wir einigen uns auf ein Studentenwohnheim, in dessen fünfzehntem Stockwerk, ganz oben, eine inoffizielle Kneipe mit großer Dachterrasse betrieben wird. Oftmals ist es ein Theater, überhaupt reingelassen zu werden. Ein Schild weist bereits im Erdgeschoß darauf hin, dass hier nur Bewohner und gute Freunde des Hauses Zutritt haben, und wir haben nicht immer unsere schlecht gefälschten Studentenausweise dabei. Der verschlafene Wildlederjackenträger hinter der provisorisch aufgestellten Kasse schaut uns mit einem missbilligenden Blick an, der besagt: Ich weiß ganz genau, dass ihr keine Studenten seid. Doch es ist Sommer. Das Sommerloch ist da, viele Leute haben die Stadt verlassen. Man ist froh, ein paar zahlungskräftige Gäste ausnehmen zu können. Wir grüßen freundlich und sind drin. Vielleicht hat man uns auch als Freunde des Hauses wieder erkannt. Ich glaube, ich war vor zwei Jahren schon mal da.

Die Räumlichkeit selbst erinnert an eine große Wohnung, wobei sämtliche Innenwände einfach herausgehauen wurden. Dementsprechend gibt es auch nur eine Zellen­toilette für alle. Sie sieht mit ihrem abgeblätterten Putz, den Graffiti und Aufklebern, dem zerbrochenen Sitzring und den Pisse­pfützen auf dem Boden, in denen sich Kippen­stummel und benutzte Kondome sammeln, sehr lustig aus. Jedenfalls bis zu dem Moment, wo man sie tatsächlich dringend braucht. Die Toilette ist grundsätzlich belegt und vor ihr befindet sich eine permanente Schlange. Die Leute hören dann alle zu, wie man den Hosenladen runterzieht oder ob man Klopapier benutzt. Ich habe den Eindruck, viele tummeln sich absichtlich davor herum, damit sie die Lage einschätzen können, wenn die Blase drückt.

Es gibt eine große Theke, der linke Teil ist fürs Ordinäre reserviert, der rechte für aufwendige Longdrinks, wobei ich mich nicht erinnern kann, diesen Teil jemals geöffnet gesehen zu haben. Der übrige Raum wird durch Tische und Stühle unterteilt, irgendjemand hat ein paar Lampions an die Decke gehängt. Im Ganzen macht es einen improvisierten Eindruck, aber es hat seinen eigenen Charme. Nick scheint ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben, auf das er zusteuert. Falk und ich gehen auf die Terrasse hinaus und nehmen auf zwei Stühlen Platz, die scheinbar nur auf uns gewartet haben. Ich schaue von hier oben gern auf die Lichter der Stadt hinunter, betrachte die blinkenden Reklametafeln in der Innenstadt, die angestrahlten Banken, die dicht befahrenen Straßen. Und in der Ferne den Hauptbahnhof mit seinen Signalampeln und Hotels, davor ein leuchtender Schwarm von Taxis. Von hier oben wünscht man sich den ultimativen Stromausfall. Nach der Fahrt auf dem engen Rücksitz tut es gut, die Beine ausstrecken zu können, und ich gebe einen Seufzer des Wohlwollens von mir. Die Dachterrasse ist nur spärlich bevölkert. Recht so. Je weniger Leute da sind, umso besser. Die Musik dringt von innen leise an unsere Ohren, und wenn man will, kann man den anderen ungestört bei ihren Gesprächen zuhören oder sich selbst belauschen lassen. Von unseren Plätzen aus kann ich eines der angeschraubten Schilder lesen, die über die gesamte Brüstung verteilt angebracht wurden: »Bitte keine Gegenstände hinunterwerfen!« Von hier oben fliegt so ziemlich alles Erdenkliche in die Tiefe. Vor allem aber Flaschen, Becher, Taschentücher, Feuerzeuge, Zigarettenschachteln, manchmal auch Menschen. Fünfzehn Stockwerke, das lohnt sich einfach. Und wer nichts hinunterschmeißt, der spuckt wenigstens mal. Es ist noch gar nicht so lange her, dass jemand direkt auf die Motorhaube eines neuen Cabrios gefallen ist, durch die Holzüberdachungen der Abstellplätze hindurch. Es hat einige Tage gedauert, bis die Überdachung erneuert wurde, und das Loch mit den zersplitterten Rändern hinterließ eine gute Vorstellung von der Wucht eines solchen Aufpralls. Die Kneipe hier oben war zu dieser Zeit gut besucht.

Irgendwann fragt Falk: »Und, wie geht’s?«

Meistens lachen wir über diese Frage, wenn wie sie bei anderen zu hören bekommen. Sie wird unter uns nie benutzt, ist eine der verachteten, oberflächlichen Floskeln, derer man sich nicht bedienen will. Durch diese ausgesprochene Regelwidrigkeit wird die Szenerie in ein unwirkliches Licht getaucht. Plötzlich komme ich mir vor wie in einem Film. Ich überlege mir, einfach aufzustehen und hineinzugehen. Aber das wäre wahrscheinlich zu viel der Theatralik. Es gibt keine Zuschauer. Wie geht es mir? Das führt zu Kopfweh oder zu einem Lachanfall. Wie geht es mir? Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich Lust, ihm eins in die Fresse zu hauen. Schweigen. Unwilliges, gedankenschweres Stillsitzen, bereit für den Absprung. Die Frage hängt noch immer in der Luft.

»Ich weiß es nicht.«

Er hat es gehört. Wir nehmen beide einen Schluck aus unseren Flaschen. Als ich bemerke, dass es zeitgleich geschieht, setze ich ab. Vielleicht ist das doch ein Film. Momentan schläft Falk bei einer seiner sporadischen Freundinnen. Ich weiß, dass er letzte Woche seinen Job als Lagerarbeiter gekündigt hat, ohne ersichtliche Begründung. Sechs Wochen muss er noch. Er hatte es beiläufig erwähnt, und keiner von uns hat etwas dazu gesagt. Was auch? Das ist unsere Art, miteinander umzugehen, und das ist in Ordnung. Wir hängen oft zusammen herum, und ich denke, es gibt vieles, was uns verbindet, aber es gibt auch eine unausgesprochene Grenze. Eine Distanz, die man als Loch oder Freiraum sehen kann. Manchmal scheint es, sie nehme zu, schleichend, und man kann nichts dagegen tun. Man entfernt sich von den Menschen, die einen umgeben, und tut so, als bemerke man nichts. Ich spiele den Ball zurück, frage: »Und wie geht’s dir?«

Mehr als dämlich.

»Schlecht«, ist die Antwort.

Wir nehmen beide einen Schluck.

Eine weitere dunkle Sommernacht mit dem Arsch auf einem Holzstuhl und einem Bier in der Hand.

Lähmung

Ein neuer Morgen. Erzwungen durch ein schrilles Signal der Sklaverei. Ein Wecker erfordert Lebensbejahung. Aus der schwarzen Tiefe zieht es mich nach oben, ungewollt hin­eingeboren in einen neuen Tag. Mein Bett ist ein Spinnen­netz der Bewusstlosigkeit, und klebrig hängt mein Lebenswille zwischen den Gezeiten. Die Decke umhüllt mich warm, und weich bettet das Kissen den Schädel. Bewegungsunfähig, gelähmt, aber glücklich, die Welt kann mich am Arsch lecken. Wer, frage ich, wer nimmt sich hier das Recht heraus, mich zu stören? Die schrillen Laute schwellen an, steigern sich dem Höhepunkt, der Explosion entgegen. Ich reiße die Augen auf, springe aus dem Bett. Ich warte auf den Schlag in die Magengrube, bin bereit zur Verteidigung, taumle, beinahe falle ich, öffne eine von meinen zusammengekniffenen Hirnzellen. Scheiße, scheiße, scheiße, du hast verschlafen, du hast wieder einmal verschlafen. Ich klatsche mir Wasser ins Gesicht, zerre meine Hose die Beine hoch, hacke mit den Füßen in die Schuhe hinein, stoße meine Arme in die Jackenärmel. Die Tür knallt zu, ich jogge los, blicke gehetzt auf die Uhr und bleibe stehen. Ich schaue um mich, kein Mensch ist auf den Straßen.

Die Sonne ist noch gar nicht aufgegangen. Ich blicke nochmals auf die Uhr, meine Augen beginnen zu brennen. Das gibt’s nicht, ich kann es nicht fassen. Es ist mitten in der Nacht, außerdem muss ich heute gar nicht arbeiten. Das Grauen des Weckers hat mich mechanisch bis in die tiefsten Regionen des Schlafes verfolgt, mir seinen Schrecken vorgetäuscht, mich betrogen. So weit ist es also schon gekommen. Ich gehe zurück in mein Zimmer, ziehe mich wieder aus, lasse mich fallen. Weich empfängt mich die Matratze.

Das Haus ist groß und dunkel. Die Gänge sind sehr breit, und ich frage mich, wozu. Die einzelnen Stufen im Treppen­haus haben einen Abstand von fast einem Meter. Ich komme mir vor wie ein Zwerg. Etwas stimmt hier nicht. Mit riesigen Schritten steige ich auf und ab, erklettere sinnlos Stockwerke, hinauf bis in unglaubliche Höhen. Die Sonne, welche ich durch die Fenster sehen kann, glüht auf, in orange, in blutrot, verschwindet, bleibt versteckt, kündigt sich erneut behutsam an, geht auf ihren Posten und bescheint alle Organismen, auf dass die Photosynthese weiter ihren Gang gehen kann. So vergehen die Stunden und Tage, und ich erklimme Stufe um Stufe durch meine bestechungslose Strategie des beständigen Aufstiegs. Ich bin eine Schnecke, aber ich klettere. Dann endlich kommt die letzte Stufe, da ist die Türe, die zur Plattform führt, und auch diesmal, was will man erwarten, ist schon jemand hier gewesen. Es sind Menschen da, so viele Menschen, niemals wird einem ein Augenblick der Ruhe zugestanden. Sie haben Fotoapparate und gute Laune. Sie lutschen Eis und bestellen an der Aussichtstheke überteuerte Aussichtsgetränke, und das Leben ist schön, man kann sogar darüber sprechen. Ich habe kein Geld dabei, weiß nicht, womit ich bezahlen soll. Man muss sich alles erschwindeln können, man muss schauspielern und betrügen können, Lügen erzählen können. Ich gebe das Publikum, macht ihr alle den Clown. Die Leute sind langweilig, die Aussicht ist nach Hause gegangen. Beim Abstieg nehme ich den Lift, abwärts geht immer schneller. So viele Knöpfe mit so vielen Zahlen, drücken wir also unsere Glückskombination und blockieren für Monate den Aufzug. Ganz unten im Keller steige ich aus, stehe dann im Dunkel, ertaste den Lichtschalter und diagnostiziere die Kellertüre als öffnungsfähig. Vom Anblick der Gitterzellen bin ich überrascht und überwältigt. Käfige bleiben Käfige. Die Schere im Kopf ist das schlimmste Gefängnis von allen. Ohne meine Handschellen bin ich nackt, ohne den Strick um den Hals fühle ich mich vernachlässigt. Wer lässt mich leiden, wenn plötzlich alles in bester Ordnung ist? Mit Koks gefüllte Teddybären warten auf den Weg zum elektrischen Stuhl. Sie grüßen mich geduldig, halten mich für einen von ihnen. Ich bin kaputt. So kaputt.

Der Tag nach dem Suff. Was ich an ihm schätze, ist die Leere, die im ganzen Körper steckt. Träge bleiben die Knochen liegen, man weiß nicht, woran man denkt. Am besten, man denkt überhaupt nicht. Kein Appetit, kein Bedürfnis, nur der Wunsch, liegen bleiben zu dürfen und bei nächster Gelegenheit wieder einzuschlafen. Man öffnet die Augen, weiß nicht, wo man ist, wer man ist, begreift nicht, was man sieht. Versteht nicht, was um einen herum vorgeht. Blinzelt, die Sekunden, tick, verstreichen, tack, bis plötzlich das Bewusstsein wieder einsetzt. Leere im Kopf, ausgestopft mit Watte und Stroh, gelähmt, im Halbschlaf. Ich bin immer noch da, hurra, wie beruhigend. Ich liege im Bett. Schwärze kommt, mich nach Hause zu holen.

Der Krieg fördert die organisierte Kriminalität, und Kriminalität ist eine Form des Egoismus. Für mich gelten keine Gesetze. Ich hole mir, was ich haben will. Es ist Krieg, wir leben im Dschungel. Meine Gruppe ist aufgeflogen, man hat uns verraten. Drei schwarze Gestalten sind hier, und eine davon bin ich. Wir schreiten auf einen großen Platz, niemand ist zu sehen, aber man kann die Falle, den Hinterhalt riechen. Aus allen Ecken kommen sie gekrochen, im Namen der Gerechtigkeit, des Gesetzes und der Moral. Die öffentliche Meinung schlägt wieder zu. Das Sondereinsatzkommando hat die Beute erspäht. Meine Arme werden auf den Rücken gedreht, ein Knüppel kracht auf den Schädel nieder, das warme Blut in den Augen nimmt mir die Sicht, aber nicht die Angst. Die Handschellen klicken, gestoßen und gezerrt geht es auf eine Limousine zu. Links und rechts neben mir sind Unbekannte. Wo sind die anderen? Wer lässt hier wen im Stich, wer hat wen verraten? Du bist immer allein, du weißt von nichts, hast die Spielregeln nicht durchgelesen. Als ich im Auto sitze, stelle ich fest, dass man mich zu Privatleuten gesteckt hat. Neben mir sitzt eine Frau, die behauptet, meine gute Fee gewesen zu sein. Am Steuer sitzt ihre Mutter. Der Vater dreht sich um und lächelt milde. In diesem Lächeln lauert die Anklage. Die Mutter ist in keiner guten Verfassung, kann den Wagen kaum noch fahren. Die gute Fee neben mir eröffnet die Verteidigung, betont, dass ich kein Krimineller im eigentlichen Sinn sei. Die Fahrbahn löst sich immer mehr in ihre Bestandteile auf. Die Mutter hat das Licht nicht angeschaltet, und wir werden gerammt. Der Wagen wird aus der Kurve geschleudert. Ein dumpfer Schlag, dann ein lauter Knall, dann Stille. Ich bin der letzte Überlebende. Ich will raus hier, ich will weg hier … die Sonne.

Im Halbschlaf zeigt mir die Uhr, dass mehr als zwei Stunden vergangen sind. Ungefähr jetzt klingeln die Wecker der Nachbarn. Noch ein wenig Geduld und man kann den Gesprächen der Türen zuhören: Haustüren unterhalten sich mit Wohnungstüren, scheppernde Garagentore antworten den Fragen der zugeklatschten Wagentüren. Ich ziehe einen der beiden Vorhänge leicht zurück, so dass die Morgensonne ihre Fühler ausstrecken kann. Sie tastet sich auch augenblicklich heran, in einem langen, dünnen Strahl berührt sie den Boden, das Stück Teppich und schließlich das Bett. Staubteilchen fliegen in Zeitlupe durch mein Zimmer. Noch immer steckt in mir dieses Gefühl, in einem Film zu sein. Irgendwie ist alles unecht, dabei wird sich solche Mühe gegeben. Es gab Sonnenaufgänge, in die ich direkt hinein geschwankt bin, um sie zu genießen, um mich in sie hineinzulegen. Es gab Nächte, in denen ich nicht mehr laufen konnte und deswegen sitzend in Telefonzellen geschlafen habe. Es gab Morgen, an denen ich an einer mir fremden Straßenbahnhaltestelle aufgewacht bin, Kilometer weit weg von zu Hause. Wer an einem solchen Morgen durch die Straßen geht, durch die Fußgängerzone, oder sich an den Rand einer belebten Kreuzung stellt, der sieht vielleicht etwas. Etwas, womit ich mich nie werde abfinden können.

Ich erinnere mich an den Morgen nach meiner ersten durchgemachten Nacht. Der Körper war ruhig gestellt, erledigt, die Augen brannten, aber mein Geist war hellwach, voller Leben und Freude. Die Nacht war dazu da gewesen, eine Art von Vergessenheit zu erzeugen, der man sich nur durch Schlaflosigkeit entziehen kann. Es war wie ein Gesetz, das für alle Menschen zu gelten schien, und wer nicht schlief, entfloh diesem Mechanismus. Die Welt nahm ihren Lauf, ohne Rücksicht darauf, was ich erlebt hatte, ob ich ausgeruht in den kommenden Tag gehen würde oder nicht. Zeit war auf einmal kein abstrakter Begriff mehr, sondern ein konkretes Gefühl. Die Erde kam mir unheimlich alt vor, und zum ersten Mal hatte ich an ihrem Alter teil. Die Menschheit mit ihrem erbärmlich kurzen Leben war noch offensichtlicher an diese Welt gekettet. Vergessen, man sollte vergessen. Wie immer, wenn ich im Glauben war, eine entscheidende Entdeckung gemacht zu haben, zogen Wellen von seltsamen Empfindungen durch meinen Körper und durch meinen Geist. Dieser Zustand hielt auch für einige Zeit an, aber letztendlich konnte ich aus dieser Erfahrung nichts machen, nichts mit ihr anstellen. Immer schien sie in eine andere Welt zu gehören, die ich nicht erreichen konnte, wann ich wollte, sondern zu der mir nur dann Einlass gewährt wurde, wenn mir das Schicksal gut gesonnen war. Von dort aus ließ sich nichts mit ins Hier nehmen, außer die Erinnerung daran. So dienten solche Erfahrungen nur der unnötigen Vermüllung meines Gedächtnisses. Aber etwas erleben und sich daran erinnern sind zwei verschiedene Ebenen. Und Erinnerungen verblassen schnell.

Jetzt beginnt die erste Schulstunde für die Schüler. Geht schön brav in die Klassenzimmer und lasst euch die Wahrheit eintrichtern. An der Tankstelle herrscht jetzt schon voller Arbeitsbetrieb, tausende von Idioten sind bereits auf den Straßen unterwegs, hunderttausende. Ich bleibe heute im Bett. Ich habe keine Lust, aufzustehen. Ich bin müde, so unendlich müde. Ich habe all das satt, ich bin es leid. Man verpasst doch nichts. Ich melde mich hiermit pflichtbewusst vom Tagesablauf ab und scheide für einen Tag vom Leben aus. Ich schaue der Sonne zu, wie sie quer durch den Fensterrahmen wandert. Ich warte, bis der Briefkasten klappert, stelle mir vor, wie all die Geschäfte öffnen, wie die arbeitende Bevölkerung ihre Mittagspause macht. Davon erschöpft, werde ich zwischendurch ein wenig schlafen. Schlafen und vergessen.

Hier und jetzt

Ich sitze in meinem Kellerloch. Hier wohne ich, lebe ich. Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein paar Bücher, ein paar Platten. Braucht man mehr? Hier unten ist es immer ein wenig dunkler als anderswo. Blick auf den Garten, der mir nicht gehört. Er trägt mir laue Sommerabende zu den kleinen Fenstern herein. Der Garten schenkt mir eine Sonne, die ich untergehen sehen kann, und die mich in die Nacht hineinhorchen lässt, das Rauschen der Blätter, der Duft des Herbstes. Hier lebe ich im Keller. Im Winter zu kalt, im Sommer angenehm. Ein paar Spinnen als Dauergäste, solange sie in ihren Ecken, an ihren Plätzen bleiben. Hier ist mein Zuhause.

Ich bin sehr froh, dieses Zimmer gefunden zu haben und bis auf Weiteres hier wohnen bleiben zu können. Ein ganzes Haus für drei Personen. Die alleinstehende Vermieterin und ihre zwölfjährige Tochter, über drei Stockwerke verteilt, und ich, ganz unten in meinem kleinen Zimmer. Davor ein winziger Verschlag, in den ich einen Kühlschrank gestellt habe. Im Kellergang gibt es eine Dusche und eine separate Toilette. Ein altes, weißes Waschbecken befindet sich hinter meiner Zimmertür. Nichts Aufregendes, aber es gehört mir, allein.

Ich bewohne dieses Zimmer seit gut zwei Jahren. Ich besitze kein Telefon, keinen Fernseher und kein Auto. Wenn ich telefonieren will, muss ich zur nächsten Zelle laufen und hoffen, dass sie funktioniert und nicht besetzt ist.

Mein Kleiderschrank wird nur zur Hälfte gebraucht. Die wenigen Klamotten sind dunkel und unauffällig. Bin ich deshalb bescheiden? Nein. Ich lege keinen Wert darauf, das ist alles. Materielle Dinge bedeuten mir nichts. Ich habe versucht, mein Leben in die Hand zu nehmen und die Vergangenheit, meine Herkunft hinter mir zu lassen. Ich habe die Schule geschmissen, arbeite an drei Tagen in der Woche an einer Tankstelle, manchmal auch an den Wochenenden. Je nach Bedarf. Ich bin jung, flexibel und überheblich.