Charta Daemonica

 

 

 

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Band 24

 

Charta Daemonica

 

von Catalina Corvo und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Auch von anderer Seite droht Asmodi Ungemach. Unzufrieden mit seiner Herrschaft, hat sich ein Geheimbund oppositioneller Dämonen gebildet, dessen Mitglieder maskiert in der Öffentlichkeit auftreten und Asmodi zum Rückzug auffordern. Da der Fürst dies strikt ablehnt, scheint ein offener Krieg unter den Dämonen unausweichlich.

In dieser Situation tötet Cocos Mutter Thekla Zamis unter dem Einfluss Asmodis die Dämonin Traudel Medusa – die nicht nur Michael Zamis' Geliebte war, sondern auch ein hohes Mitglied der Oppositionsdämonen. Die Oppositionellen rufen zum Rachefeldzug … aber mit Cocos Hilfe gelingt es Michael Zamis, seine Unschuld zu beweisen. Dennoch sind die Oppositionellen nicht länger an seiner Unterstützung interessiert. Stattdessen ist es plötzlich Coco, die von ihnen hofiert wird. Als sie dem maskierten Anführer der Oppositionsdämonen bei einem Treffen in Rumänien klarmacht, dass sie kein Interesse an den politischen Intrigen der Dämonen hat, verpasst er ihr ungefragt ein »Permit« – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst, wenn die Oppositionellen die Macht in der Schwarzen Familie übernommen hätten, werde ihr dieses Permit Schutz gewähren …

Michael Zamis versucht weiterhin, das Vertrauen der Oppositionsdämonen zurückzugewinnen. Diese legen ihrerseits jedoch auf eine Zusammenarbeit mit ihm keinen besonderen Wert mehr. Um ihn zudem unter Kontrolle zu halten, haben sie Traudel Medusa aus dem Totenreich reaktiviert. Sie setzen eher auf Coco.

Asmodis Trumpf im Ärmel ist Thekla Zamis, die Lebensgefährtin Michaels – doch diese verfällt mehr und mehr der Schwarzen Eminenz, bei dem es sich offensichtlich um den Anführer der Oppositionsdämonen handelt.

Michael Zamis steht also zwischen allen Fronten und wirkt zunehmend unzufriedener. Diese Konstellation führt aber auch innerhalb der Familie Zamis zu Spannungen. Spannungen, die fast zum Bruch führen.

Schließlich lockt die Schwarze Eminenz den Fürsten der Finsternis und seine Getreuen zu Vertragsverhandlungen nach Asmoda, einem heruntergekommenen Dorf an der österreichisch-slowenischen Grenze. Im Schloss der Gräfin Anastasia von Lethian kommt es zur entscheidenden Auseinandersetzung, die jedoch weder Nocturno noch Asmodi für sich entscheiden können.

In Wien sollen die Verhandlungen endlich zu einem Ende kommen und die Charta Daemonica besiegelt werden. Doch wiederum kommt es anders, als Asmodi gedacht hat …

 

 

 

 

Erstes Buch: Höllenpakt

 

 

Höllenpakt

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1.

 

Wien, Gegenwart

(Michael)

»Mehr Wodka!«, forderte Michael Zamis und lehnte sich entspannt gegen den schönen Körper seiner Geliebten, während die ätherischen Öle des Badewassers seine Nase umschmeichelten. Sinnfrei in der Wanne zu hocken, entsprach zwar nicht seinen üblichen Gewohnheiten, aber nach den nervenaufreibenden Ereignissen in Asmoda hatte er sich ein wenig Entspannung verdient. Traudel machte sich gut als Badenixe. Sie saß hinter ihm, umschlang seine Beine mit ihren üppigen Schenkeln, zog seinen Kopf an ihren Busen, kraulte sein Kinn und sorgte für permanenten Alkoholnachschub, indem sie brav die Gläser auffüllte.

Außerdem bewunderte sie seine Tapferkeit und massierte auf diese Weise auch sein Ego. Was man von der restlichen Mischpoke in Michaels Haushalt kaum sagen konnte. Coco ging ihre eigenen Wege. Und auch der andere Nachwuchs hatte sich bei der ersten Gelegenheit abgeseilt. Thekla zog sich den ganzen Tag in ihr Zimmer zurück und schloss sich dort ein. Angeblich, um sich auszuruhen. Aber sicherte man denn eine Tür mit magischen Fallen, wenn man sich nur ausruhen wollte?

Lediglich Traudels Fürsorge rechtfertigte es, die Zamis-Villa noch als trautes Heim zu bezeichnen.

»Dein Boss hat sich einige Frechheiten erlaubt«, brummte Michael. »Das Benehmen der Oppositionsdämonen war peinlich und amateurhaft.« Michael verschwieg geflissentlich, dass sich auch das Team Asmodi nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, was Kompetenz anging. »Du solltest dir einen besseren Verbündeten suchen als diesen Nocturno. Der Mann ist nichts weiter als ein Großsprecher und Budenzauberer.«

»Wenn du das sagst, Geliebter.« Die sanften Finger, die Michaels Nacken massierten, konnten nicht über den spöttischen Tonfall hinwegtäuschen.

»Er ist ein Betrüger, ein Lump und ein ehrloser Schuft!«, fuhr er sie an.

»Das sagt man auch über dich.« Kichernd fuhr sie ihm durchs Haar und schmiegte sich enger an ihn. Aber Michaels Stimmung war gründlich ruiniert. »Was soll das heißen? Was bist du plötzlich so aufsässig?«

»Plötzlich?« Traudels Kichern mutierte zu einem gehässigen Zischen. »Du kennst mich nicht, Michael Zamis. Aber du wirst mich kennenlernen.«

Unvermittelt ringelte sich ein Schlangenleib um seine Hüften und Beine. Wand sich, schnürte ihn ein. Ihre Finger schossen zu seinem Hals und würgten ihn. Michael wollte das Weib von sich stoßen, sie mit einem finsteren Fluch niederstrecken, aber auf einmal war seine Zunge bleischwer. Seine Arme gehorchten ihm nicht mehr. Die Schlampe hatte eine magische Falle aktiviert. Plötzlich roch er das beißende Gift im Badewasser. Die Dämpfe lähmten ihn, sein Schädel brummte. Wann hatte Traudel diesen Angriff vorbereitet und so gut getarnt, dass der Giftzauber allen entgangen war?

Wahrscheinlich während der jüngsten Machtkämpfe in Asmoda. Anscheinend hatte das Dreckstück mehr getan, als nur das Haus gehütet. Wer vermochte jetzt noch zu sagen, wie lange dieser Verrat geplant gewesen war?

Diese Erkenntnis nutzte Michael jedoch wenig, denn Traudels Finger drückten ihn unbarmherzig unter Wasser. Der Druck um seinen Hals raubte ihm den Atem. Er konnte nicht einmal strampeln, denn ihr Schlangenleib presste die Lebenskraft aus seinem gelähmten Körper.

Ein zorniges Gurgeln entrang sich Michaels Brust, während seine knappen Bewegungen weiter erlahmten.

Schwärze wallte vor seinen Augen auf und zog ihn langsam aber sicher in ihren betäubenden Schoß.

Doch dann hielt etwas seinen sanften Fall in die Finsternis auf. Ein Platschen, Fingernägel, die wie Skalpelle in seine Haut stachen, Traudels Körper, der wild zuckte und die Kontrolle über ihn verlor.

Licht und Ton kehrten zurück in seine Welt. Ebenso der Wille zum Widerstand. Mit einem Minimum an Bewegung, das sein gepeinigter Körper noch aufbrachte, stieß Michael die Schlange von sich und kämpfte sich an die Wasseroberfläche. Seine Lungen lechzten nach Sauerstoff.

Erleichtert schnappte Michael nach Luft und blickte in das Gesicht seiner Frau. Thekla. Blut lief über ihr Handgelenk, tropfte von der Klinge einer runenverzierten Axt. Theklas Augen blitzten. Einen Augenblick lang glaubte Michael, dass die Axtschneide gleich seine Kehle durchbohrte, doch dann streckte ihm Thekla mit einem bösen Lächeln Traudels schmerzverzerrtes Haupt entgegen. Traudels Schlangenkörper lag jedoch noch neben Michael in der Wanne. Ganz still.

Das ehemals helle Wasser hatte nun eine dunkelrote Farbe und einen metallisch-süßlichen Geruch.

»Ein Bad in Drachenblut, mein Gatte?« Theklas Lächeln, als sie sich auf den Badewannenrand setzte und das Haupt der Medusa achtlos gegen die Zimmertür warf, war warm und herzlich wie schon lange nicht mehr. »Das soll gut gegen Schwachstellen in der eigenen Abwehr sein.«

»Es hilft allerdings nicht gegen Blindheit«, brummte Michael.

Theklas Lächeln wuchs. Sie beugte sich vor und gab Michael einen sanften Kuss. Dass Traudels Blut an seinen Lippen klebte, schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil, der Kuss führte beide Eheleute in eine innige Umarmung. Michael wusste, dass seine kluge Frau seine Entschuldigung erkannt und verstanden hatte. Sie erwartete nicht, dass er sie aussprach oder zu Kreuze kroch. Das hatte ihn auch sofort zu ihr hingezogen. Die stille Art, mit der sie seine Eskapaden hinnahm, wohl wissend, dass er immer wieder zu ihr zurückkehrte. Jetzt fiel ihm alles wieder ein.

Die gemeinsamen Stunden mit Traudel hingegen, ihr angebliches Verständnis, ihr aufregender Körper, die Wollust – das alles erschien Michael nur noch wie ein ferner, verwirrender Traum. Als ob der Tod der Schlangenfrau die Erinnerung an sie gleich mit ausgelöscht hatte.

»Wir sollten auf Nummer sicher gehen, dass diese Klette sich nicht doch noch irgendwie regeneriert. Immerhin ist sie schon einmal zurückgekommen.«

»Was schlägst du vor?« In diesem Augenblick war Michael durchaus geneigt, den Ratschlägen seiner Frau Gehör zu schenken.

»Wir versteinern das, was von ihr übrig ist, und setzen das Ganze dann im Keller noch zusätzlich unter einen Bannzauber.« Thekla betrachtete den Leichnam in der Badewanne eingehend, und ein verächtliches Lächeln huschte über ihre schmalen Lippen. »Das Dreckstück soll keine weitere Gelegenheit haben, in dieser Familie Unfrieden zu stiften.«

»Es sei, wie du sagst«, gestand Michael zu. Nebenbei duschte er sich ab und stieg aus der Wanne. Thekla reichte ihm einen frischen, weichen Bademantel.

»Du wusstest, dass sie das versuchen würde«, stellte Michael schließlich fest, nachdem das Werk im Keller getan war und mächtige Bannzauber Traudels zerteilten und versteinerten Körper gefangen hielten. Die Schlangendämonin sah wirklich sehr tot aus, aber sicher war eben sicher.

»Ich ahnte, dass die Schlampe es nicht nur auf Coco und mich, sondern auch auf dich abgesehen hatte«, erklärte Thekla leichthin. »Außerdem hatte ich so ein Gefühl, dass Nocturno sie nach unserer Rückkehr aus Asmoda auf dich ansetzen würde.«

Obwohl Michael seiner Frau mehr als dankbar war, dass sie ihn vor seiner verräterischen Geliebten bewahrt hatte, stutzte er.

»Inwiefern? Was für ein Gefühl?«

Sie zuckte die Achseln, blickte zum Fenster. »Nur eine Ahnung. Ich mochte sie nie. Sie hat mir nach dem Leben getrachtet. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob nicht irgendwer das Weib nach ihrer sogenannten Wiederauferstehung als Schläferin in unser Haus eingeschleust hat.«

Theklas Worte klangen vernünftig, logisch und überzeugend. Dennoch blieb ein schaler Geschmack auf Michaels Zunge zurück, wenn er daran dachte, wie lange Nocturno seine Frau bei sich behalten hatte. Hatte die schwarze Eminenz Traudel benutzt, um Michael von seiner Gattin abzulenken und ihn auszuschalten, damit er selbst Thekla besitzen konnte?

Michael schüttelte den Kopf. Zu viele Feinde. Zu viele Beinahe-Katastrophen, verursacht durch die Oppositionsdämonen. Das ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Langsam wurde er paranoid. Andererseits … undenkbar war es nicht.

Als Michael seine Frau in dieser Nacht liebte und den Bund der Ehe auf diese Weise mit ihr erneuerte, schien sie ihm nicht recht bei der Sache. Die Bitterkeit begleitete ihn in einen unruhigen Schlaf.

 

Flugplatz Fliegerhorst, Lübeck,

24. August 1940

(Georg)

Ich folgte Nocturno über den Flugplatz. Die sinkende Sommersonne umgab die Jäger und Bomber und auch die geschäftigen Menschen, die an ihnen werkelten, mit einer rot glühenden Aureole. Im Stabsgebäude flammten die ersten Lichter auf.

Um uns herum dröhnten Propeller bei Wartungstests, ratterten Motoren, wurden schwere verbogene Tragflächen zurechtgeklopft.

Meine Rekrutenuniform lag ungewohnt auf meiner Haut, der Kragen schnürte mich ein. Nocturnos Feldjacke hingegen passte ihm wie angegossen. Als sei die Uniform für ihn gemacht. Aber das war bei meinem Lehrmeister nichts Ungewöhnliches. Welche Rolle auch immer er annahm, er überzeugte bis ins kleinste Detail, konnte sein Verhalten und seine Persönlichkeit verbiegen und formen wie Teig.

Ich hingegen hatte große Schwierigkeiten, mit meiner neuen Größe zurechtzukommen. Mit einem Fingerschnippen hatte Nocturno Vaters Zauber entkräftet und mir meine wahre Gestalt zurückgegeben. Nun war ich ein hoch aufgeschossener Achtzehnjähriger. Zu dumm nur, dass ich mein ganzes Wachstum verpasst hatte. Ich fühlte und bewegte mich zum Teil noch wie ein Achtjähriger, was mir nicht nur eine erhöhte Unfallneigung bescherte, sondern Fremde zum Lachen reizte.

Auch jetzt stolperte ich schlaksig und mit schlenkernden Armen hinter Nocturno her. Ich spürte die mitleidigen Blicke der Piloten, die erschöpft von zu vielen Einsätzen ihre von Kämpfen gezeichneten Maschinen bemannten.

Ich konnte die allgemeine Erschöpfung, die Auszehrung und nervliche Anspannung spüren wie einen giftigen Algenteppich, der die sonst so freien Fluten des Meeres verseuchte. Welche der zerschundenen, alten Dornier-Bomber würden beim nächsten Einsatz den britischen Spitfires zum Opfer fallen? Wer geriet als Nächster in Kriegsgefangenschaft und schaffte es nicht mehr rechtzeitig aus dem brennenden Cockpit?

Jeden Tag Verluste, jeden Tag der elendige Flug über den Kanal, um mit fast leeren Tanks ein paar Bomben auf die britischen Flughäfen zu schmeißen. Und immer mehr lahme Enten versanken im Kanal, anstatt wie Vögel in der Luft zu bleiben. Die Piloten wurden müde, die Augenringe dunkler, selbst Routinegesten fahriger.

Nocturno hingegen lebte auf. Mutlosigkeit und Verzweiflung waren sein Elixier. Er schien diese Emotionen aufzusaugen. Und er verströmte sie gleichermaßen, wohin er auch ging.

Wie praktisch, dass sich der leitende Offizier am Tag zuvor erst besoffen und dann erschossen hatte. So konnte »Hauptmann Nachtmeister« problemlos seinen Posten einnehmen, kam als Ersatz wie gerufen. Ich dackelte ihm als Sekretär hinterher.

Wir blieben bei einer wettergegerbten Ju 88 stehen. Zwei Techniker bestückten den altgedienten Bomber mit dem aufgemalten roten Tatzelwurm-Gruppenabzeichen an der Seite mit frischer Munition. Eine schöne Maschine, wenn auch nicht so elegant wie die frisch in Serie gegangenen Messerschmitts mit ihren gelben Propellernasen. Im Gegensatz zu den neuen Überfliegern, die sich erst noch beweisen mussten, war diese Junkers eine gestandene Dame, die Respekt verdiente.

Nocturno schien das Gleiche zu denken. Sanft strichen seine Fingerspitzen über den kalten Stahl eines Flügels. »Ein wunderbares Instrument.«

Ich legte meine Hand auf den Tatzelwurm. Plötzlich schien die Maschine zu vibrieren, und einen Lidschlag lang tanzte eine kleine blaue Flamme im aufgerissenen Rachen des Drachen. Nocturnos Stimme flüsterte an meinem Ohr. Doch sie klang hohl.

»Ein Todesbote. Bereit, die Seelen der Unglücklichen in ewige Finsternis zu führen.«

Das Metall unter meinen Fingern bebte im Takt seiner Worte, pulsierte, wie ein Herzschlag.

»Wie ein Dämon. Einer von uns. Nur ohne Seele. Oder?«

Obwohl es helllichter Tag war, erkannte ich in der Frontscheibe des Cockpits Nocturnos Spiegelbild. Aber nicht meins.

Im nächsten Moment saß Nocturno in der Maschine. Er lächelte mich an und setzte die Fliegerbrille auf. Zugleich erklang sein Flüstern noch immer an meinem Ohr.

»Was denkst du, Georg? Haben Maschinen Seelen?«

Unwillkürlich nickte ich. Maschinen konnten Seelen haben. Und sie konnten sogar träumen. Wie Lena. Ein kalter Schauer durchfuhr mich, als ich an das Maschinenmädchen dachte, das mir ein paar flüchtige Tage lang mehr bedeutet hatte, als jedes Wesen aus Fleisch und Blut.

Nocturno betätigte im Cockpit ein paar Schalter, griff über sich, und der Propeller begann, ratternd zu kreisen.

»Und gibt es auch Gut und Böse unter ihnen? Sag es mir, Georg.«

Dann war ich frei. Der Spuk erstarb. Das Cockpit war leer, der Rotor stumm, das Metall still.

Neben uns kroch ein Techniker unter dem Flugzeug hervor. Er warf Nocturno und mir einen seltsamen Blick zu, salutierte dann aber stramm vor meinem Lehrmeister.

Der schickte ihn mit einem Grinsen und einer Geste fort.

Der Techniker nahm die Beine in die Hand und huschte fort, als habe er ein Gespenst gesehen. Vielleicht hatte er das.

Wir gingen weiter.

 

Wien, Gegenwart

(Asmodi)

In leicht gebückter Haltung huschte der Kellner heran, als Asmodi ihn herbeiwinkte. Obwohl die beiden Gäste im Wintergarten entspannt und friedlich in den großen Korbstühlen saßen, ahnte selbst der unbedarfteste Sterbliche instinktiv, dass mächtige, dunkle Energien am Werk waren, die seinen Verstand überschritten. Auch den anderen Gästen schien es ähnlich zu gehen, denn die Tische im Wintergarten waren bis auf diesen einen, an dem die beiden schweigsamen Männer hockten, unbesetzt, während sich im großen Saal die Kaffeehausbesucher drängten. Zwei einsame Geschäftsleute in Nadelstreifenanzügen, die beim Gespräch ihre Ruhe wollten.

»Kommen wir zur Sache«, sagte Asmodi.

»Wirklich? Willst du das?«, fragte Nocturno übertrieben überrascht. Mit ebenfalls völlig überzogener Vorsicht blickte er sich um und lehnte sich verschwörerisch vor. »Willst du wirklich in die Verhandlungen gehen, hier in der Öffentlichkeit?«

Asmodi erstarrte. Was faselte Nocturno da? Die normalen Sterblichen bekamen nichts von ihrem Gespräch mit, dafür sorgten magische Schilde, die die schwachen Menschenseelen narrten und ihnen vorgaukelten, dass die Erzfeinde über Immobilien plauderten. Und auf ähnliche Weise war auch jeder andere Dämon ausgesperrt.

Magische Fallen sicherten die Umgebung wie ein Minenfeld. Sie waren völlig abhörsicher. Oder… nicht? Instinktiv tasteten Asmodis magische Sinne die Umgebung ab. Wie Spinnenbeine huschte der Geist des Dämonenfürsten durch den Raum und das Gebäude, drang durch Wände, nahm das rauschende Wasser in den Leitungsrohren, das Brummen der Heizungskessel im Keller, ja jede Fliege an der Fassade wahr. Und – tatsächlich – einen Beobachter. Auf einer für das gewöhnliche Auge nicht wahrnehmbaren Ebene hockte eine Präsenz auf dem Dach des Hauses und lauerte.

Nun, da Asmodi seine Sinne geschärft hatte, spürte er die feine Berührung eines fremden Geistes wie den Flügelschlag eines Schmetterlings, flatterhaft, geisterhaft, kaum spürbar. Und doch…

Etwas hatte die magischen Schilde unbemerkt durchdrungen und streckte unsichtbare tentakelartige Fühler nach ihnen aus.

Asmodi bedachte Nocturno mit einem halb fragenden, halb warnenden Blick, als er sich erhob und langsam in Richtung der Fahrstühle schritt. Nocturno hatte nur ein müdes Lächeln übrig. In einem Augenblick, als niemand außer Asmodi zu ihm herübersah, löste sich seine Gestalt auf wie ein Spiegelbild auf einer in Bewegung geratenen Wasseroberfläche. Den weißen, kaum wahrnehmbaren Dunst, der als feines Luftgespinst durch das Restaurant wallte, nahm niemand außer Asmodi wahr. Die Nocturnowolke teilte sich und wallte zu den Notausgangstreppen, als der Fahrstuhl mit einem angenehmen ›Pling‹ seine vergoldeten Pforten öffnete.

Asmodi trat ein. Das Pärchen, das mit ihm einsteigen wollte, hypnotisierte er mit einem einzigen Blick, und die beiden beschlossen spontan, lieber einen Spaziergang zu machen, anstatt mitzufahren.

Als sich die glänzenden Türen hinter Asmodi geschlossen hatten, drückte er auf den obersten Knopf. Ein verschnörkelter Schriftzug wies die angewählte Etage als ›Atrium Bar‹ aus. Noch bevor der Aufzug seine Aufwärtsfahrt begonnen hatte, unterdrückte Asmodi seine Aura, sodass sie selbst für die unsichtbaren Tentakelfühler nicht mehr wahrnehmbar sein konnte. Es blieb nur zu hoffen, dass Nocturno dieselbe Vorsicht walten ließ.

Auf den ersten Blick bot die glasüberdachte Atrium Bar, ausgestattet mit ein paar adrett gestutzten Lorbeer- und Zitronenbäumchen in schicken Edelstahlkübeln, hellen Ziegelwänden in mediterranem Stil und Designerkorbsesseln, nichts Aufregendes. Ein Gedankenfunke des Dämonenfürsten reichte, um die wenigen Besucher, die bereits am helllichten Tag den Besuch in einer Bar nötig hatten, zu vertreiben und ihnen den Wunsch nach einem schnellen Abgang zu suggerieren. Das Personal versetzte Asmodi mit einer huschenden, unauffälligen Handbewegung in einen Trancezustand, indem die gewöhnlichen Sterblichen mit offenen Augen träumten, ohne dass auf den ersten Blick eine Veränderung an ihnen offenbar wurde.

Dem nicht ganz so unbedarften Betrachter verkündeten kleine Zeichen die Anwesenheit einer unsichtbaren Präsenz. Ab und an streifte ein kühler Luftzug Asmodis Haut, obwohl die Blätter der Zitronenbäume reglos und müde von den Zweigen herabhingen. Kaum wahrnehmbar schwebte der Geruch von Ozon über dem Dach. Als wolle er die Stimmung und die Stille des Augenblicks genießen, ließ der Herr der Schwarzen Familie seinen Blick schweifen, dann setzte er sich in einen Korbsessel und schloss die Augen. Zugleich formten seine Gedanken einen Zauberspruch, der ihn das bemerken ließ, was das Auge nicht sehen sollte. Und dann erkannte er es endlich.

Mitten im Saal hockte in den Zweigen eines Lorbeers eine gallertartige Masse. Ein unförmiges Ding, wabernd, wie eine mannshohe Qualle oder ein riesenhafter Polyp. Sein Unsichtbarkeitszauber umgab es wie ein schimmernder Schutzschild. Es hatte sich an der Pflanze festgesaugt und zehrte sie aus.

Obwohl Asmodi nicht in die Richtung des Schmarotzers sah, spürte er, wie sich die Fühler in seine Richtung ausdehnten. Paranoides kleines Drecksvieh!

Gerade als Asmodi einen Bannspruch gegen die Kreatur schleudern wollte, erschien Nocturno als Dunkle Wolke aus Rauch und Schatten direkt über dem Polypen. Wie ein gieriger Schlund senkte sich die Nocturnowolke herab.

In diesem Augenblick explodierte die Gallertmasse. Lautlos. Ein magischer Blitz zerfetzte die Struktur restlos und gründlich. Die Nocturnowolke wurde zurückgeschleudert, zerfasert und musste sich erst wieder sammeln. Für einen Augenblick hoffte Asmodi, dass die Explosion auch seinen Widersacher vernichtet hatte. Aber Nocturno enttäuschte ihn. Die Wolke kehrte zurück, verdichtete sich, und dann stand Nocturno im schwarzen Gehrock und Lackschuhen, geleckt und geschniegelt, wie frisch aus dem Kleiderschrank von Graf Dracula entstiegen.

Der ganze Vorgang um den magischen Polypen hatte sich in völliger Lautlosigkeit und für das menschliche Auge unsichtbar abgespielt.

Nachdem sich das Ding bei Nocturnos kleinster Berührung selbst vernichtet hatte und auch die magischen Spuren nur Sekunden später wie brennender Phosphor verpufften, wusste Asmodi nicht, was er zu tun hatte.

Nocturno lächelte wissend. »Ein astraler Beobachter also«, begann er und gab damit zu erkennen, dass er die Natur des Wesens richtig einzuschätzen vermochte.

»Ein Auge der Dunkelheit?«, fragte Asmodi.

Nocturno nickte. Beide wussten, dass es sich bei den sogenannten »Augen der Dunkelheit« um magische Spione handelte. Ein mächtiger Hexer konnte diese magischen Lebensformen aus seiner eigenen Kraft heraus schaffen und ihnen eine astrale Gestalt verleihen. Auf der körperlosen Ebene der Magie existierten diese Kreaturen wie Moskitos oder Eintagsfliegen, standen aber weiterhin in Verbindung mit ihrem Erschaffer. Unsichtbar und kaum wahrnehmbar konnten sich diese Wesen an die Fersen eines beliebigen Opfers heften und ihn überall hin verfolgen. Kluge Hexer verankerten in ihren »Augen« eine magische Falle, die den Spion sofort nach seiner Entdeckung vernichtete, sodass der Entdecker eines solchen Wesens keine Rückschlüsse mehr auf den Erschaffer ziehen konnte.

»Fragt sich nur, wer von uns beiden beschattet wurde.« Asmodi knirschte mit den Zähnen. Das Auge mochte vernichtet sein, aber sein Herr und Meister wusste nun, wo sie sich getroffen hatten. Garantiert hatte er diesen magischen Spion geschickt, um etwas über die Verhandlungen herauszufinden.

»Wer sagt, dass wir ausspioniert wurden?« Nocturno lächelte kühl. In diesem Augenblick öffneten sich die gläsernen Türflügel eines Seiteneingangs und gaben die gekrümmte Gestalt von Skarabäus Toth frei. Der Schiedsrichter der Schwarzen Familie marschierte heran.

»Die Herren mögen entschuldigen. Ich wurde aufgehalten.«

Asmodi kniff die Augen zusammen. Zufall? Oder steckte Toth hinter dem Zwischenfall? Andererseits machte ein solches Verhalten für Toth keinen Sinn. Er war ohnehin in alles eingeweiht.

»Da wir alle mit unserem Leben noch anderes anzufangen haben, sollten wir keine Zeit mit Floskeln verschwenden.« Nocturno lächelte liebenswürdig. »Ich schlage vor, dass wir daher zur Sache kommen.«

»Ganz meine Meinung«, bestätigte Asmodi.

»Ich habe Suite Nummer 66 gebucht und mit entsprechenden Abwehrzaubern versehen«, murmelte Toth. »Somit ist alles vorbereitet.«

Asmodi ließ den beiden anderen den Vortritt, als sie gemeinsam zum Aufzug schritten. Niemand konnte das hasserfüllte, verächtliche Lächeln sehen, das über seine Lippen huschte.

Im Großen und Ganzen, befand er, lief doch alles nach Plan.

 

 

2.

 

London, 25. August 1940

(Georg)

Die Erschütterung traf die Stadt in den frühen Morgenstunden wie ein Weckruf. Doch die Stadt erwachte in einen Albtraum.

Trümmer eines Wohnblocks nahe den Docks. Vermutlich war es nur ein Zufallstreffer gewesen. Wahrscheinlich hatte der Pilot die Orientierung verloren oder sich bei der Flucht seiner Fracht entledigt.

Die Reaktion erfolgte sofort. Noch bevor die Nacht gänzlich vorüber war, starteten einundachtzig Bomber der Royal Air Force, um Tod und Feuer zurück nach Berlin zu tragen. Sehr zum Missfallen der Deutschen.

Der Kampf um Englands Himmel ging in die nächste Runde. Die Morgensonne tauchte die kämpfenden Stahlvögel hoch oben über der See in blutiges Rot.

Genau wie das Hafenviertel.

Nocturno bot mir einen sauren Drops an, während wir der allgemeinen Panik zusahen und eine Frau beobachteten, die ein blutüberströmtes Kind aus den Trümmern des eingestürzten Wohnhauses trug.

Flammen schlugen aus den Fenstern der Nachbarhäuser und leckten wie gefräßige Zungen an der Fassade hinauf.

Der Feuerschein beleuchtete dunkle Wände. Wo er getobt hatte, folgten ihm Schwärze und Leere.

Wir standen inmitten des Chaos, unter Menschen. Dennoch allein. Niemand beachtete uns. Zwei Hafenarbeiter in abgewetzten Jacken und Hosen, die mit den deutschen Soldaten vom Vortag nichts gemein hatten. Doch es war nicht nur die Tatsache, dass wir uns wie Schatten an die Umgebung anpassten, sondern mehr. Nocturno verfügte über die Fähigkeit zu verschwinden, ohne zu verschwinden. Er entfernte sich und auch mich nach Belieben aus der Wahrnehmung normaler Sterblicher, wie der Traum, der beim Aufwachen entschwand. Zugleich ließ er die Menschen jedoch spüren, dass er da war. Selbst im Vorbeieilen hielt die panische Menge Abstand, wie Ameisen, die den Bachlauf mieden, weil sie instinktiv ahnten, dass dort Gefahr lauerte.

»Es war die Ju, nicht wahr?«, fragte ich. »Der Tatzelwurm. Er hat die Bombe geworfen.«

Nocturno lächelte. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine Bombe den Hafen verfehlt.«

»Aber du hast den Zeitpunkt bestimmt«, stellte ich fest.

Nocturno erwiderte nichts. Er blickte hinauf zu den brennenden Fenstern. »Spürst du den Atem des Todes, der die Stadt streift? Komm.« Er reichte mir die Hand. »Folgen wir seiner Spur, und ich weihe dich in seine Geheimnisse ein. Schließlich gehören wir zu seinem Gefolge.«

 

Als ich dem Tod wieder ins Auge sah, geschah das an einem nahezu klischeehaften Ort. Der winzige Kirchhof des kleinen südenglischen Dorfs nahe Coventry hatte in der Nacht des 7. April des Jahres 1941 trotz des Dauerregens, der kalt und klamm unter Westen und Krägen kroch, etwas Tröstliches.

Mitten in der Nacht war er eine kleine Insel von Licht im unendlichen Meer der Dunkelheit. Auf jedem Grab flackerte ein kleines rotes Licht.

»Wie die Seelen der Toten«, schoss es mir durch den Kopf. Die kleinen Flämmchen in den Grablichtern tanzten und flackerten wie einsame, verfluchte Irrlichter auf der verzweifelten Suche nach ihrem früheren Körper. Stumme Klagelichter über der Erde, wo die sterbliche Hülle verrottete.

Hinter der Kirche am Rande des Friedhofs erklang das einsame Geräusch einer Schippe, die immer wieder in die Erde gestoßen wurde. Nocturno führte mich in genau diese Richtung.

Am Rande eines finsteren, großen Loches stand ein Mann in der dunklen, dreckverkrusteten Arbeitskleidung eines Friedhofsgärtners und hob ein Grab aus. Ein großes, tiefes Grab. Das hatte er sicher nicht allein ausgehoben. Oder er musste Tage daran gearbeitet haben.

»Ein Massengrab«, raunte Nocturno mir zu, als er meinen grübelnden Blick bemerkte.

Obwohl wir noch einige Schritte entfernt waren und der Graf leise zu mir gesprochen hatte, unterbrach der Totengräber seine Arbeit, richtete sich auf und wandte sich uns zu.

»Ja«, sagte er mit erstaunlich heller, ja jugendlicher Stimme. »Eigentlich hat es noch Zeit, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir es bald brauchen werden.«

Die kleine Öllaterne, die einige Schritte vom Grab entfernt zu seinen Füßen stand, beleuchtete die Gestalt des Friedhofsarbeiters nur unvollkommen, dennoch erkannte ich, dass seine Augen wie im Fieber glänzten und dass er lächelte. Auf eine gierige, nahezu lüsterne Weise. In diesem Augenblick überkam mich die vage Ahnung, dass schwarzes Blut durch seine Adern rann. Obwohl seine Aura durchaus menschlich wirkte. Und zugleich auch nicht ganz. Unter der unauffälligen Oberfläche einer gewöhnlichen, sterblichen Existenz lauerte ein tieferes Geheimnis.

Der Totengräber sagte noch mehr, aber in diesem Augenblick zog eine Schwadron Spitfires am Himmel über uns hinweg. Einen Lidschlag lang erkannte ich die schlanke Silhouette eines Jägers vor der hellen Mondscheibe. Die anderen brummten als dunkle Schemen am Firmament. Das Brummen der Motoren verlor sich schließlich in den Wolken.

»Bald.« Der Totengräber kicherte. »Darum arbeite ich noch so spät. Ich spüre es. Der Tod liegt in der Luft. Wie ein süßer Duft. Ihr riecht es auch, nicht wahr?«

Nocturno schürzte die Lippen, betrachtete den Fremden fasziniert. Auch er musste die dämonische Natur des Fremden spüren.

»Wie wäre es mit einem letzten Bier vor der Sperrstunde«, schlug er vor. »Ich lade dich ein. Schaufeln kannst du auch morgen noch.«

»Jaja.« Der Totengräber kicherte und schulterte die Schaufel. Dann nahm er die Ölfunzel. »Ich will sie nicht warten lassen, aber die Toten, die laufen ja nicht weg.«

 

Der Dorfpub leerte sich schon wieder, als wir wenige Minuten vor der Sperrstunde kamen. Verstohlene Blicke streiften uns, während wir uns an einen freien Tisch setzten. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere Anwesenheit selbst den größten Trunkenbolden die Entscheidung zur Heimkehr erleichterte.

Die Miene des Wirts, als ich für uns drei an der Theke das Bier abholte, verriet seinen Mangel an Begeisterung über die späte Kundschaft. Allerdings galt die Abneigung weniger mir oder Nocturno als vielmehr unserer Friedhofsbekanntschaft.