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Alexander Sury

Ruth Binde

Ein Leben für die Literatur

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Als junges Mädchen träumte Ruth Binde, 1932 in Bern geboren, von einerKarriere als Schauspielerin. Es kam anders: Nach dem Abbruch des Gymnasiums, einem halben Jahr Bühnenstudio in Zürich und einem Zwischenjahr in London absolvierte die Tochter des Politikers und Publizisten Fritz Schwarz eine Buchhändlerinnenlehre. Im Sommer 1957 meldete sie sich auf das Inserat eines winzigen Zürcher Verlags, der eine »gute Sekretärin« suchte, bekam die Stelle und unterstützte den Verleger Daniel Keel während fünfzehn Jahren beim Aufbau seines Diogenes Verlags. Die ersten drei Jahre war sie die einzige Mitarbeiterin und als solche »Mädchen für alles«. 1972 machte sich die alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes mit einer Presse - und PR-Agentur für kulturelle Mandate selbständig, damals ein Novum, und setzte sich während Jahrzehnten beharrlich und unbeirrt für Bücher und Kuturereignisse ein. Sie rückte Siegfried Lenz und Luise Rinser ebenso ins rechte Licht wie den Kabarettisten Emil Steinberger oder die Inszenierung von Paul Burkhards “Die kleine Niederdorfoper” mit Ruedi Walter. 1985 rief sie das legendäre Bernhard-Littéraire ins Leben, eine Gesprächsreihe mit Autorinnen und Autoren, die noch heute unter dem Namen Züri Littéraire weitergeführt wird.

»Ruth Binde, gute Freundin und ruhige Fanatikerin des geschriebenen Wortes.« Peter Ustinov

»Ohne den Beistand von Ruth Binde kann man in der Schweiz nicht heimisch werden.« Siegfried Lenz

»Ich bewundere Ruth Binde für ihren Mut, ihren geduldigen Kampf für Vernunft, Gerechtigkeit ... und die schweizerische Literatur.«

Jean Ziegler

»Ruth Binde – die Unermüdliche mit den großen Verdiensten um die Literatur. Man muss ihr dankbar sein.«

Peter von Matt

»Was wäre die Schweizer Literatur ohne Ruth Binde!«

Thomas Hürlimann

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Der Autor:

Alexander Sury, geboren 1964, studierte Geschichte und Germanistik in Bern, Freiburg und Jena. Er arbeitete als Lehrer, Dramaturg und Journalist und ist heute Co-Leiter des Kulturressorts bei der Berner Tageszeitung »Der Bund«. Sein erstes Buch »Fürs Leben gern – 20 Begegnungen« (Verlag Huber) veröffentlichte er 2010. Für »Ruth Binde – Ein Leben für die Literatur« führte er zahlreiche Gespräche mit der Kulturvermittlerin und sichtete in Archiven Briefe und Dokumente. Alexander Sury wohnt in Wohlen bei Bern.

Wir danken den folgenden Institutionen für ihre Unterstützung:

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kinder- und Jugendjahre am wichtigsten sind, weil sie das spätere Leben eines Menschen prägen. Mein Dank gehört meinen Eltern Elly und Fritz Schwarz-Glaser.

Ruth Binde

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Es hat alles einen Sinn

Teil I: Die Welt ist eine Bühne

Ein starkes Fundament

Unser Emmentaler »Stöckli«

Lockruf der »Zauberflöte«

Der Drang zur Bühne

Schauspielerin mit Hindernissen

Das schönste Jahr ihres Lebens

In der »Rascherei«

»Glückliche Reise«

Das Deutschland-Jahr

Berlin ist eine Reise wert

Der Verlobte in Chur

Teil II: »Mädchen für alles«

Diogenes in der Schuhschachtel

Der Zwei-Personen-Verlag

»Bitte, kommen Sie zurück!«

Karl Böhm dirigiert sein Leben

»Eher schuftet sie sich zu Tode... «

Urvieh auf Höllenfahrt

»Gehen Sie doch...«

Keel hatte »die Nase«

Bin ich eine Rabenmutter?

Frau Eva weiß Rat

Teil III: Alle meine Künstler

Sprung in die Selbständigkeit

Die Schaltzentrale an der Tuggenerstraße

Die »Konfitüre auf dem Brot«

Vertreterin einer »Bücherfabrik«

Friedrich Torberg – Kurt Pinthus – Edzard Schaper

Die Renaissance der Mascha Kaléko

Emil in Peking

Der Fall Oprecht

Trotz allem: »Danke, Herr Schütz!«

Kein LSD-Trip

Teil IV: Menschen finden und binden

Die große Liebe

Männer wie ihn gibt es heute kaum noch

Eine »Hausräuke« mit Folgen

»Jour non fixe«

Die Geburt des Bernhard-Littéraire

»Therapiesitzungen« mit Publikum

Große Fische im Netz

»Begegnungen im Zürichberg«

»Allez-y, Deutschschweizer!«

Der Bücher-Express rollt

Zivilcourage!

Teil V: Der letzte Akt

Mutmaßungen über ein Betriebsgeheimnis

Fehlendes Musikgehör

Der Maria-Becker-Tarif

Alle meine Autographen

»Sprachbrücken« bauen

Ein Ruheplatz in der Toscana

Zeittafel

Dank

Literaturnachweis

Vorwort – Es hat alles einen Sinn

Vergessen werden. Ist das nicht die permanente Angst von Autorinnen und Autoren? Dem Schweizer Schriftsteller Christoph Geiser geht es nicht anders. Er steht also an irgendeinem Empfang, bei einem Apéro, im geschäftigen Literaturbetrieb, ein Glas in der Hand, und fühlt sich verloren. »Da spürt man ein leichtes Zupfen am Ärmel: Da steht sie, schräg hinter mir, stopft mir einen Zettel in die Tasche und erinnert mich daran, dass man etwas von mir will – einen Text, einen Lesetermin, die Teilnahme am Bernhard-Littéraire oder an einer Podiumsdiskussion, eine Widmung will man oder viele Widmungen. Jahrzehntelang stand Ruth Binde immer wieder plötzlich da und erinnerte mich daran, dass man sich noch an mich erinnert. Was will man mehr von einer Literaturvermittlerin?«

Auch viele Medienleute erinnern sich an Ruth Binde, wie sie bei einer Begegnung das Gegenüber mit ihren Flyern eindeckte und auf eine Veranstaltung, ein Buch oder einen Künstler hinwies. Es konnte vorkommen, dass ein solcherart Umworbener auch den Fluchtreflex aktivierte oder hinter vorgehaltener Hand spottete, die Initialen rb stünden für »ruhelose Belagerung«. Aber niemand spricht Ruth Binde das leidenschaftliche Engagement für ihre Arbeit als Presseagentin ab. Allerdings soll es immer noch Leute geben, die den Unterschied zwischen einer Presseagentin und einer Literaturagentin nicht begriffen haben. Die Presseagentin macht – der Name sagt es eigentlich bereits – wie die Pressechefin eines Verlags die Pressearbeit. Eine Literaturagentin hingegen sucht für Manuskripte Verlage. Ruth Binde musste diese Verwechslung immer wieder richtigstellen, zuletzt im Zusammenhang mit ihrem achtzigsten Geburtstag 2012.

Den Ehrgeiz, als Schriftstellerin zu Ruhm und Ehre zu kommen, verspürte sie nie. Die Rolle der Geburtshelferin lag ihr besser. Und ihre Künstlerkinder wussten, was sie Ruth Binde zu verdanken hatten. Anfang der 1960er-Jahre erhielt sie, damals noch für den Diogenes Verlag tätig, Post aus Innsbruck: eine große Rolle, die eine Zeichnung enthielt. Darauf zu sehen war ein großes B auf einem Sockel, umgeben von vielen kleinen Buchstabenmännchen, die staunend oder gar ehrfürchtig zu diesem großen B aufblicken. Auf diese Weise bedankte sich der österreichische Zeichner und Illustrator Paul Flora für Ruth Bindes Pressearbeit. Die Zeichnung ließ sie rahmen; fortan war sie ein treuer Begleiter, hing in ihrem Diogenes-Büro an der Sprecherstraße, später im Büro an der Tuggenerstraße – und sie hängt heute in ihrer Wohnung an der Arterstraße.

Der »Schattenfrau« wurde damit ein Denkmal errichtet, für einmal stand sie im Rampenlicht – sie, die zeit ihres Berufslebens bemüht war, die Buchstaben- und andere Künstlermännchen (und -weibchen) mithilfe einer günstigen Medienberichterstattung auf den Sockel der Popularität und des Erfolgs zu hieven. Als Schattenfrau hat sich Ruth Binde allerdings nie verstanden: Dafür hat sie zu viel Temperament und zu viel Theaterblut. Ihre Großeltern stammen mütterlicherseits aus Hamburg und Böhmen, väterlicherseits aus dem Emmental, und daher pflegt sie zu sagen: Von Hamburg habe ich die Disziplin, von Böhmen das Temperament und vom Emmental die Bodenständigkeit und den Realitätssinn. Ursprünglich wollte Ruth Binde Schauspielerin werden, später hat sie das Theater in ihr Leben integriert. Die ganze Welt ist eine Bühne, und wir alle spielen Rollen in einem Stück. Ruth Binde hat auf dieser Bühne das Spiel mit Schein und Sein gekonnt und durchaus lustvoll mitgespielt – gleichzeitig hat sie sich stets als eine Anhängerin der Wahrheit zu erkennen gegeben. »Ich meine, was ich sage, und darauf kann man sich verlassen.« Dieser Spagat war, kaum verwunderlich, nicht immer leicht.

Über Ruth Binde schreiben heißt auch, über eine Pionierin schreiben. Als Presseagentin wurde sie zu einer Institution, sie schuf sich 1972 nach ihrem Abgang vom Diogenes Verlag einen Beruf nach ihren Neigungen. Privat war sie Mitte der Sechzigerjahre geschieden, Mutter eines kleinen Sohnes, alleinerziehend und berufstätig: eine Feministin avant la lettre. Oder vielleicht einfach eine Frau, die ein Leben nach ihren Vorstellungen zu leben den Mut hatte und immer wieder die alte Geschichte am eigenen Leib erlebte: Eine starke Frau wirkt auf Männer dominant – und latent bedrohend. Geprägt hat sie der Wertekanon in ihrem Elternhaus, der Vater Fritz Schwarz, ein Politiker und Publizist, war ein politischer Visionär. Ihre Eltern haben ihr ein Urvertrauen in das Leben mitgegeben und die Gewissheit, dass alles einen Sinn hat – letztlich auch die beruflichen Niederlagen und die privaten Enttäuschungen, vor denen sie nicht verschont geblieben ist.

Wer sich auf Ruth Binde einlässt, bekommt es mit einer außerordentlich vitalen Frau zu tun, deren Beredsamkeit und sprudelnde Erzählfreude den Gesprächspartner zuweilen verstummen lassen. Reden, Überzeugen, Präsentieren: Das war Ruth Bindes tägliches Brot als Presseagentin. Diese Fähigkeiten, so sehr sie in ihrem Beruf als Kulturvermittlerin notwendig und hilfreich waren, können sich im Privatleben mitunter nachteilig auswirken. Ruth Binde ist sich dessen bewusst: Manchmal laufe sie Gefahr, dem Gesprächspartner das Thema zu entreißen oder in ihrem assoziativen Erzählfluss selbst den Faden zu verlieren. Gemeinsam haben wir uns bemüht, den Faden ihres reichen Lebens, das auch ein Stück Schweizer Kulturgeschichte ist, nicht zu verlieren. Also denn: Bühne frei und Vorhang auf!

Alexander Sury

Teil I

Die Welt ist eine Bühne

Ein starkes Fundament

Es ist Sonntagmorgen. Ein kleines Mädchen spielt im Wohnzimmer. Es ist vier oder fünf Jahre alt. Sein Vater sitzt am runden Tisch, vor sich einen Stoß Zeitungen, in der Hand eine Schere. Aus dem Radio erklingen wie immer um diese Zeit Opernarien. Der Vater blättert die Zeitungen durch und schneidet einzelne Texte aus. Die Ausschnitte werden in große gelbe Kuverts verteilt. Die nicht benötigten Zeitungsteile fallen wie große Schneeflocken auf das Mädchen nieder. Ruth fühlt sich sicher und geborgen.

Die Familie Schwarz wohnt mit Ruth und dem zwei Jahre jüngeren Bruder Hans in Bern an der Schwarztorstraße, im Parterre eines Mehrfamilienhauses. Im größten der sechs Zimmer ist die Buchhandlung Pestalozzi-Fellenberg-Haus untergebracht. Von einem kleinen Balkon geht es über eine Treppe direkt in den Vorgarten. Ein Kiesweg führt durch ein Blumenparadies mit Rosen, Malven, Rittersporn, Schneeglöckchen, Narzissen und Gartenbürsteli. Die Kinder spielen auf der Schwarztorstraße Himmel und Hölle – es hat damals in den Dreißigerjahren noch kaum Verkehr –, die Postpakete werden mit dem Pferdewagen ausgetragen. Die Stallungen sind ganz in der Nähe. Frühmorgens fahren die Wagen am Haus von Familie Schwarz vorbei und holen auf der Hauptpost die Pakete ab. Elly Glaser ist Sekundarlehrerin, als sie ihren späteren Mann bei einem Kurs im Freizeitheim Rüdlingen kennenlernt. Fritz Schwarz ist zu diesem Zeitpunkt bereits jahrelang verheiratet; seine Frau Anna erkrankte nach der Geburt der ersten Tochter Anny an multipler Sklerose und war seit Jahren an den Rollstuhl gebunden. Fritz Schwarz und die junge Lehrerkollegin kommen sich näher, aus Sympathie wird Liebe. Elly Glaser unterrichtet in der École nouvelle »La Pelouse« in Bex, einem renommierten Mädchenpensionat, wo einige Jahre vorher eine Schülerin namens Indira Gandhi den Unterricht besucht hatte. Lydie Hemmerlin, die Leiterin des Mädchenpensionats, stammt aus dem Elsass und wird 1932 Ruth Bindes Patin.

Doch die Liebe zwischen Elly Glaser und Fritz Schwarz scheint angesichts der schwierigen Umstände zum Scheitern verurteilt. Elly versucht, den verheirateten Mann zu vergessen, verlässt das Mädchenpensionat und nimmt im englischen Kings Langley eine Stelle als Lehrerin in einer anthroposophischen Schule an. Ein Vierteljahrhundert später wird dort die siebzehnjährige Ruth junge Engländer in Deutsch und Französisch unterrichten. Trotz der geografischen Distanz bleiben sich Fritz und Elly verbunden und schreiben einander oft. Nach Ellys Rückkehr in die Schweiz beschließen sie, zu ihrer Liebe zu stehen, und da löst sich der Knoten: Anna Schwarz verzichtet, sie weiß, Fritz braucht eine Frau, die sich seiner annimmt, und die Kinder brauchen eine Mutter, die den Haushalt führt. Beide Aufgaben kann sie nicht mehr erfüllen, ihr Leiden verschlimmert sich und macht eine Überführung ins Spital nötig. So heiratet Fritz Schwarz 1929 in aller Stille Elly Glaser. Gemeinsam besuchen sie oft Anna Schwarz, bis sie, die ihr schweres Schicksal so tapfer ertrug, stirbt.

Als 1932 Ruth geboren wird, leben ihre beiden Halbschwestern, Anny und Hedy, die bei der Scheidung achtzehn und fünfzehn Jahre alt sind, bereits nicht mehr zu Hause. Elly Schwarz-Glaser übernimmt die kleine Buchhandlung und baut sie aus. In Deutschland gibt es damals eine ähnliche Reihe wie die SJW-Hefte in der Schweiz. Ruths Mutter kauft dort als Klassenlektüre geeignete Titel und verleiht sie an Schulen. Daneben hält sie eine Auswahl von Belletristik, Kinder- und Sachbüchern. Wenn Verlagsvertreter zu Besuch kommen, empfängt sie diese bei schönem Wetter auf dem Balkon und offeriert Apfelsaft oder Tee. Auf diese Weise lernt Ruth Binde schon als Kind viele dieser Vertreter kennen. Pestalozzi-Fellenberg-Haus: So heißt nicht nur die Buchhandlung, sondern auch der Verlag, den der Politiker und Redaktor Fritz Schwarz ebenfalls führt. Eine Tür der Buchhandlung geht direkt ins Büro des Vaters. Für Ruth und ihren jüngeren Bruder Hans ist das eine wunderbare Situation, denn so sind sie den Eltern eigentlich immer nahe.

Ruth wächst umgeben von Büchern und Zeitungen auf und kann bereits lesen, bevor sie in die Schule kommt. Puppen hat das Mädchen schon, aber ein großer »Bäbi«-Fan, ist sie nicht, viel lieber spielt sie mit Freundinnen Theater, diktiert ihrem Vater auch schon mal an Grimm angelehnte Märchen und ist vor allem eines: eine Leseratte. In schlechter Haltung auf dem Bett liegend, ein Buch in der einen Hand, ein Stück Schokolade in der anderen: Das ist für das Mädchen das Schönste. Sie liest alles, was ihr in die Finger kommt. Zu ihren Lieblingsbüchern gehören die »Doktor Dolittle«-Bände, Josephine Siebes »Oberheudorfer«, »Klötzlis lustige Abenteuer«, eine Art schweizerischer »Pinocchio«, Kurt Helds »Rote Zora«, Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« oder »Nils Holgersson«. Auch Karl May verschlingt das Mädchen, und unter der Bettdecke liest Ruth mit der Taschenlampe heimlich gewisse Heftchen, die damals zirkulierten. Mit der Zeit kommen Romane von Alexandre Dumas hinzu, die ihr großen Eindruck machen, vor allem »Cagliostro« bleibt unvergesslich. Später liest sie, angesteckt vom Bühnenfieber, vor allem Theaterstücke: Ibsen, Hauptmann, Goethe, Shakespeare – der schon damals für sie der Größte ist.

Beim Stöbern in der Buchhandlung stößt Ruth auch auf Sachbücher. Eines Tages fällt ihr ein Aufklärungsbuch in die Hände. Sie schmökert darin und entdeckt eine Beschreibung des Geschlechtsaktes mit den entsprechenden Abbildungen. Sie ist entsetzt und kann das Gelesene kaum fassen. Da sie einerseits ein schlechtes Gewissen hat, weil das Buch versteckt war, und anderseits ihre Mutter nicht in Verlegenheit bringen will, spricht sie mit niemandem darüber. Obwohl die Eltern beide Pädagogen waren, haben sie ihre Kinder nie aufgeklärt.

In die Primarschule geht Ruth gern, zumindest zu Herrn Schneeberger. Mit Fräulein Bigler in der ersten und zweiten Klasse verbindet sie eine unangenehme Erinnerung. Sie ruft Ruth einmal im Unterricht nach vorn, weil das Mädchen angeblich geschwatzt hat. Zur Strafe schlägt sie Ruth mit einem Bambusstock auf die Hand. Jahre später wird sie realisieren, dass dieses Erlebnis ihr Nägelkauen ausgelöst hatte. Bei Herrn Schneeberger in der dritten Klasse müssen die Kinder einen Aufsatz über ein Wandbild mit Enten schreiben. Der Lehrer ist angetan von Ruths Aufsatz und schickt sie zu den oberen Klassen, wo sie ihren Aufsatz als »Muster« vorlesen darf.

Zu den Lieblingsbeschäftigungen der jungen Ruth gehört neben dem Fotografieren – ihr Vater schenkte ihr schon früh die fünffränkige Agfa Box – ein Besuch der »Schützematt«, so heißt Berns Chilbiplatz neben dem Bahnhof. Zweimal jährlich belebt sich der Platz mit Schießbuden, Karussells, Scootern, einer Geisterbahn und einer »Raupe«. Diese Atmosphäre zieht Ruth magisch an. Sie liebt das Ringziehen beim Karussellfahren, das eine Freifahrt erlaubt, sie genießt das Rauf und Runter in der »Raupe« und das Heulen, wenn sich deren Dach langsam über die Kinder und Erwachsenen senkt. Sie geht ins Spiegelkabinett, und mit ängstlichem Schaudern setzt sie sich in die Geisterbahn. Es ist ein richtiges Kinderparadies. Ihr erster Gang gilt allerdings immer den Schießbuden, denn sie schießt leidenschaftlich gern auf Scheiben, aber auch auf die wandernden Blechfiguren und die Kunststoffhülsen der künstlichen Blumen. Jeder Schuss ins Schwarze kommt ihr vor wie ein gefundener Druckfehler – es ist die Genauigkeit, die zählt.

Die Freude am Schießen ist geblieben: Wo immer Ruth Binde eine »Chilbi« entdeckt, geht sie auf die Suche nach Schießbuden, die zu ihrem Leidwesen immer seltener werden. Auch ihre Augenprobleme halten sie nicht davon ab. Sie war eine gute Schützin, davon zeugen die künstlichen Rosen, die hinter einem Spiegel stecken, aber auch der kleine Bär, der an einer Stahlplastik von Josef Staub baumelt. Das Glück, ins Schwarze zu treffen, ist der 81-Jährigen seit kurzem mangels genügender Sehkraft nicht mehr vergönnt.

Unser Emmentaler »Stöckli«

Obwohl Ruth in der Stadt Bern aufwächst, ist sie auch ein Kind des Emmentals. Ihre schönsten Jugenderinnerungen verdankt sie dem »Stöckli«. So heißen die kleinen Holzhäuser, die in der Nähe eines Bauernhofs stehen und in denen die Bauern ihren Lebensabend verbringen. Der Vater von Ruth Binde ist als fünfzehntes und jüngstes Kind einer Emmentaler Bauernfamilie aufgewachsen. Das Stöckli liegt nur wenige Meter neben seinem Elternhaus im Oberen Krautberg, im Oberthal bei Zäziwil. Fritz Schwarz ist bis heute ein Vorbild für die Tochter. Der marxistische Theologe Konrad Farner, selber ein vom helvetischen Mittelmaß schikanierter Querdenker, sagte über Fritz Schwarz: »Hätten wir mehr von solchem Holz, es sähe besser aus im Schweizerland.« Als Fritz Schwarz 1958 an den Folgen eines Herzinfarkts im Alter von 71 Jahren stirbt, ist Ruth Binde 26 Jahre alt. Bis auf den letzten Platz ist die Berner Heiliggeistkirche am 20. November 1958 besetzt. Es sind längst nicht nur Weggefährten und Gesinnungsfreunde, die Abschied nehmen von Fritz Schwarz. Auch politische Gegner erweisen ihm die letzte Ehre. Der Schriftsteller Carl Albert Loosli – in seiner Unbeugsamkeit und Wahrheitsliebe ein Geistesverwandter – rühmt die »rücksichtslose Vorurteilslosigkeit« und den »bürgerlichen Mut« von Fritz Schwarz, der nicht nur ein Freund gewesen war, sondern auch sein Verleger. Nach der Abdankung bewegt sich der Trauerzug durch die Laupenstraße zum Bremgartenfriedhof. Der Grabstein trägt die Inschrift: »Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein« (Jesaja 32,17), das lebenslange Motto von Fritz Schwarz.

Ruth Bindes Vater wächst in einer archaischen Welt auf, die geprägt ist von einer stillen Religiosität des Vaters und alltäglicher harter Arbeit auf dem Feld. Der aufgeweckte, neugierige Knabe ist ein guter Schüler; er wählt den Lehrerberuf und wird als einziger Primarschüler im Seminar Hofwil bei Bern aufgenommen. »Wie bin ich dazu gekommen, meinen Stand zu verlassen, obwohl ich der Jüngste war und nach dem emmentalischen Erbrecht daher auch der Hoferbe gewesen wäre?« Diese Frage nach den Ursachen des eingeschlagenen Wegs stellte sich der lebenslang seiner Heimat verbundene Fritz Schwarz kurz vor seinem Tod in den Erinnerungen »Wenn ich an meine Jugend denke«. Es waren vor allem die Auswirkungen der Deflation, die seine Familie in aller Härte spürte. Die allgemeine Einführung der Goldwährung in den 1870er-Jahren traf auf abnehmende Goldfunde; die Folge davon war, dass nicht genügend Geld in Umlauf kam und die Preise fielen. »Von diesen Vorgängen wusste ich zwar nichts», schreibt Schwarz, «aber ich spürte sie. Sie haben meine Jugend vergiftet, sie lehrten mich, den Bauernstand zu fürchten, sie haben mich krank gemacht und zur Flucht vom Hof veranlasst.« Diese von Wirtschaftskrise und Zinslast verdüsterte Jugend brachte Schwarz dazu, »mit zwanzig Jahren Sozialist, später Freiwirtschafter und stets erbitterter Gegner der Krisen- und Zinswirtschaft zu werden«.

Fritz Schwarz will zum Wesen der Dinge vorstoßen, die Mechanik des Wirtschaftslebens begreifen. Im Seminar Hofwil schließt er sich der Abstinenzbewegung an, er ist aktiv in der Liga für Menschenrechte, setzt sich für das Frauenstimmrecht ein, interessiert sich für Psychoanalyse und wird später den Schweizer Ableger der Autosuggestionsmethode nach Coué gründen.

Seine erste Stelle als Lehrer tritt er in Arni bei Biglen an, wo seine Mutter herkommt. Seine rhetorischen Gaben nutzt er als Grabredner und verschafft sich so einen Nebenverdienst. Schwarz wird später Sekundarlehrer in Schwarzenburg, dort steht er rasch im Ruch, ein »Roter« zu sein: Er tritt der Sozialdemokratischen Partei bei, gründet einen Konsumverein und gibt eine kleine Zeitschrift heraus. In der Berner Buchhandlung Francke stößt er – von Karl Marxens Analysen und Rezepten nur halbwegs überzeugt – auf ein Buch des Mathematikers und Arztes Theophil Christen, »Die Kaufkraft des Geldes und ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft«. Dessen Arbeit fußt auf den Schriften des Unternehmers und Sozialreformers Silvio Gesell (1862–1930). Fritz Schwarz ist fasziniert von diesem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, den Gesell 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in seinem Hauptwerk »Die natürliche Wirtschaftsordnung« skizzierte. Der Boden, der allen gehöre wie die Luft, soll folgerichtig auch allen gehören und in (staatlichen) Gemeinschaftsbesitz übergehen. Er kann aber weiter privat genutzt werden gegen Pacht beziehungsweise Nutzungsabgaben, die wiederum der Allgemeinheit zugutekommen.

Neben der Boden- ist die Geldreform der zweite Pfeiler der Theorie von Silvio Gesell. Den Zins als »arbeitsloses Einkommen« hielt Fritz Schwarz, hier ganz bibeltreuer Christ, für grundsätzlich verwerflich. Die Abschaffung des Goldstandards, die Einführung flexibler Wechselkurse und eine sogenannte umlaufgesicherte Währung sollen zusammen mit einer Strafsteuer die Hortung von Geld verhindern. Fritz Schwarz geht den Weg des Idealisten: Er verzichtet auf eine materielle Sicherheit, gibt seine Stelle als Sekundarlehrer in Schwarzenburg auf und zieht mit seiner Familie nach Bern. In der Sozialdemokratischen Partei weckt er mit seinen freiwirtschaftlichen Ideen Misstrauen. Arbeiterführer wie Robert Grimm sehen in ihm einen verkappten Bürgerlichen, so wie umgekehrt viele Bürgerliche in den Freiwirtschaftern getarnte Linke sehen. Es ist die Position zwischen Stuhl und Bank.

Während des Ersten Weltkriegs stößt die Freiwirtschaft vor dem Hintergrund von Inflation und Verarmung breiter Schichten auf zunehmende Resonanz. Der unermüdliche Arbeiter Fritz Schwarz übernimmt zahlreiche ehrenamtliche oder wenig einträgliche Funktionen und Ämter; mancherorts fragt man sich, wovon dieser Mann eigentlich lebt und womit er seine Familie ernährt. Manchmal ist tatsächlich kaum genügend Geld vorhanden, um die allernotwendigsten Lebensmittel zu kaufen – und dies, obwohl Fritz Schwarz ein gewaltiges Arbeitspensum bewältigt als Redaktor und Autor am Schreibtisch sowie als unermüdlicher Vortragsreisender. Trotz andauernder finanzieller Sorgen gewährt er seinen Autoren, wie zum Beispiel C. A. Loosli, zwanzig Prozent Honorar, zahlbar innerhalb von sechs Monaten – und dies erst noch unabhängig vom Verkauf. Seine Frau zahlte noch Jahre nach seinem Tod Schulden bei der Druckerei ab.

Als Parlamentarier im Berner Stadt- und vor allem im Großen Rat findet Fritz Schwarz 1934 bis zur Abwahl kurz vor seinem Tod 1958 eine willkommene Tribüne für seine Ideen. Diese Abwahl war eine Folge der fehlenden Listenverbindung der Liberalsozialistischen Partei mit anderen Parteien. So gelangte Fritz Schwarz nicht in den Nationalrat, obwohl er 2400 Stimmen mehr erhalten hatte als andere, die gewählt wurden. Dasselbe geschah bei den Großratswahlen. Beides traf Fritz Schwarz tief, denn im Großen Rat wäre er Alterspräsident geworden. Sein Sohn Hans erinnert sich, wie ihm sein Vater die bereits aufgesetzte, wunderschöne Rede vorgelesen hatte.

Bis zum Schluss setzt Fritz Schwarz sich unermüdlich für Schwache und Randständige ein, er macht sich etwa stark für die Eröffnung einer Trinkerheilanstalt und für die Rechte von Verdingkindern. Letztlich aber bleibt Fritz Schwarz mit seinem Gedankengut ein Einzelkämpfer, den Liberalen ging die gesellschaftliche Eigentumsbeschränkung der Freiwirtschafter zu weit, den Linken zu wenig weit. Kritische Fragen stellen, sich nicht von Parolen und scheinbaren Sachzwängen einlullen lassen, Alternativen zum politischen und wirtschaftlichen Gang der Dinge denken und formulieren: Auch das ist ein Vermächtnis von Fritz Schwarz, dem fröhlichen Aufklärer ohne sektiererischen Eifer und christlichen Humanisten ohne demagogische Ader. Ruth Bindes ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und ihre Solidarität mit den Schwachen sind wohl stärkster Ausdruck dieses Vermächtnisses.

Das Stöckli hat die Familie Schwarz auf Jahre hinaus gemietet und verbringt jedes Wochenende und sämtliche Ferien dort. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Familie am Samstagmorgen jeweils eine Stunde vom Bahnhof Zäziwil ins »Obertu« laufen muss. Manchmal nehmen sie auch den Umweg über die Mühle, wo sie Brot und Zopf kaufen, vorbei an der noch heute bestehenden Wirtschaft Eintracht und an der Käserei. Das Stöckli ist sehr einfach eingerichtet: Das Wasser wird vom Brunnen vor dem Haus geholt, das WC ist ein Plumpsklo, geheizt und gekocht wird mit Brennholz. Im Winter steht die Mutter immer früh auf, um den Ofen anzuheizen, bevor die Kinder aufstehen. Alles, was Ruth über Pflanzen und Pilze weiß, hat sie auf langen Waldspaziergängen von ihrem Vater gelernt. Kommt ein Ameisenhaufen in Sicht, führt der Vater gern ein »Kunststück« vor. Er nimmt sein großes Taschentuch und breitet es fein säuberlich auf dem Ameisenhaufen aus. Im Nu ist es von Ameisen übersät. Der Vater packt das Tuch, schüttelt es aus und hält es den Kindern triumphierend unter die Nase, damit sie die scharfe Ameisensäure riechen können. Mit der Zeit ist seine Freude an dieser Tradition meist größer als die der Kinder, aber sie schweigen, um ihm den Spaß nicht zu verderben.

Mit sechs Jahren erkrankt Ruth an einer Mittelohrentzündung und kommt ins Inselspital. Dort wird sie zwar geheilt, aber gleichzeitig von einem anderen Kind mit Scharlach angesteckt. Sie erinnert sich noch genau, wie sie – auf dem Weg in den Quarantänetrakt – auf einer Liege vor dem Gebäude warm eingepackt, warten musste und die herabfallenden Schneeflocken auf ihrem Gesicht spürte. Auf der Isolierstation liegt sie in einem Glaskubus und wird von einem Gefühl der Verlassenheit ergriffen. Aber da erscheint plötzlich ihre Mutter in der Tür, in Begleitung eines offensichtlich erzürnten Arztes. Sie kann nach Hause, die Mutter hat es durchgesetzt. Zu Hause kommt Ruth in ihr Zimmer, nur die Mutter hat Zutritt. Mit Schwitzkuren, Kräutertees und Klistieren wird sie innerhalb von drei Wochen wieder gesund.

Als der Krieg ausbricht, ist Ruth sieben Jahre alt. Sie fühlt sich bei ihrer Familie geborgen und kann sich nur schlecht vorstellen, was »Krieg« bedeutet. Das ändert sich, als eines Nachts die Sirenen heulen. Mit Kissen und Decken verlässt die Familie die verdunkelte Wohnung an der Schwarztorstraße und richtet sich mit den anderen Hausbewohnern im Luftschutzkeller ein. Es bleibt bei diesem einen Mal, denn später verlässt die Familie trotz Sirenenalarm die Wohnung nicht mehr. Bei ihren Verwandten im Emmental lernt Ruth einige der internierten Polen kennen. Mit einem schließt sie bald Freundschaft. Er hat zu Hause eine Tochter in ihrem Alter und erzählt oft sehnsüchtig von ihr.

Gegen Kriegsende munkelt man in der Schule, dass wieder ein Landesverräter erschossen worden sei. Das Wort »Landesverräter« hat etwas Faszinierendes und gleichzeitig Unheimliches; die Kinder sprechen es nur flüsternd aus. Besonders aufregend ist der Umstand, dass dieser »Landesverräter« in Bern ganz in der Nähe der Familie Schwarz gewohnt hat und dass eines seiner Kinder in dieselbe Schule wie Ruth ging. Mit einem Schaudern geht sie jeweils am Haus vorbei, in dem der Mann gelebt hat. Die Sache beschäftigt Ruth, und immer wieder fragt sie sich, welch wichtige Geheimnisse der Mann wohl verraten hat, dass er auf so grausame Weise sterben musste. Erst viel später erfährt sie, dass die meisten der siebzehn während des Zweiten Weltkriegs erschossenen »Landesverräter« kleine Fische gewesen waren, mit deren Exekution vor allem eine abschreckende Wirkung beabsichtigt war.

Lockruf der »Zauberflöte«

Als Ruth zwölf Jahre alt ist, nimmt der Vater sie mit ins Berner Stadttheater. Auf dem Spielplan steht Mozarts »Zauberflöte«. An diesem Abend erliegt das Mädchen der Faszination des Theaters. Die Eltern zeigen Verständnis und schenken ihr zum vierzehnten Geburtstag ein Gutscheinheft für das Stadttheater. Gleichzeitig erhält sie von ihrer Halbschwester Hedy ein »Vergissmeinnicht«, ein kleines Büchlein mit einem Kalendarium, in welches sich Verwandte und Freunde an ihrem Geburtstag handschriftlich eintragen können. Ruth hat schon damals nicht an Zufälle geglaubt, und so betrachtet sie es auch als eine Fügung, dass sie beide Geschenke gleichzeitig erhält. Mit ihnen beginnt ihre Leidenschaft des Autographensammelns*. Schon bald haben sich die meisten Freunde und Verwandten eingetragen, sodass sie nach anderen »Opfern« Ausschau halten muss. Sie findet sie im Berner Stadttheater. Nach jeder Vorstellung wartet sie mit anderen Autogrammjägern vor dem Bühneneingang, um die Künstler, die sie vorher begeistert haben, um eine Unterschrift zu bitten. So kommt sie zu Autogrammen von Käthe Gold oder der jungen Maria Schell. Das Mädchen hat aber auch Qualitätsansprüche. Wer Ruth enttäuscht hat, der wird keines Blickes gewürdigt.

Es ist auch die Zeit, als die ersten erschwinglichen Plattenspieler in die Läden kommen. Bald besitzt auch die Familie Schwarz ein solches Gerät. Die ersten Schellackplatten sind jedoch teuer. Da Ruth die Oper über alles liebt und im Berner Stadttheater damals Künstler wie Marko Rothmüller oder Inge Borkh auftreten – beide natürlich im »Vergissmeinnicht« verewigt –, ist es für sie klar, dass sie sich zum nächsten Geburtstag eine Platte wünscht. Nach langen Überlegungen entschließt sie sich für »La Stretta« aus Verdis »Trovatore«. Sie spielt diese Platte jedoch so oft, dass die Arie mit der Zeit nicht nur ihrer Umgebung, sondern auch ihr selbst fast verleidet. Im Jahr darauf ist sie bereits Richard Wagner verfallen und wünscht sich das Liebesduett aus »Tristan und Isolde«. Das sind allerdings zwei Platten, aber die Eltern drücken ein Auge zu, und Ruth erhält das erhoffte Geschenk.

Die Kinder werden frei erzogen, alles basiert auf dem Prinzip Vertrauen. Ruth erzählt ihren Eltern alles, was sie erlebt hat und was sie beschäftigt. Bei der politischen Einstellung des Vaters, der immer ein erklärter Befürworter des Frauenstimmrechts war, versteht es sich von selbst, dass Ruth einen Beruf erlernen wird. Der Vater versucht auch nicht, die Kinder politisch irgendwie zu beeinflussen. Am Esstisch wird diskutiert, etwa über einen Kommentar in der »Neuen Zürcher Zeitung« oder über das, was den Vater im Stadtrat und später im Großen Rat beschäftigt. Verwöhnt werden die Kinder nicht. Wenn Ruth oder ihr Bruder Hans Geburtstag haben, dann dürfen sie sich ihr Lieblingsmenü wünschen. Ruth wünscht sich immer dasselbe: Kalbsplätzchen, Kartoffelstock, grünen Salat und zum Dessert Bienenstich. Ähnlich ist es an Weihnachten: Da gibt es in der Familie Schwarz fast immer Poulet und Ananas, unter dem Tannenbaum wird eine Kokosnuss geöffnet. An Weihnachten spaziert der Vater mit den Kindern durch die beleuchtete Stadt, sie bewundern den Schmuck in den Schaufenstern. Wenn sie nach Hause kommen, hat die Mutter den Baum geschmückt. Zu den Klängen von Bachs »Weihnachtsoratorium« öffnet sich die Tür, und die Kinder dürfen hinein.